"Europa à la carte kann nicht funktionieren"

EU-Kommissar Olli Rehn und die Rettung des Euro

Interview. Währungskommissar Olli Rehn über die Rettung des Euro und österreichische Sonderwünsche

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Interview: Christina Hiptmayr und Otmar Lahodynsky

profil: Sie waren Gast auf dem Opernball. Haben Sie sich da als Rock- und Jazzfan nicht tödlich gelangweilt?
Rehn: Nein, wir waren ja hier in guter Gesellschaft. Meine Frau tanzt sehr gerne. Daher tanze ich auch gern. Und ich liebe auch klassische Musik. Der Opernball hat obendrein einen legendären Charakter. Und es gibt hier für solche Feste eine Tradition in der Diplomatie. Der Wiener Kongress wird ja bald sein 200. Jubiläum erleben.

profil: In Brüssel ging es beim Gipfeltreffen der EU-Staats- und -Regierungschefs weniger beschwingt zu. Das EU-Budget wird stärker gekürzt werden, als die EU-Kommission vorschlug. Besteht die Gefahr, dass ausgerechnet bei den Zukunftsbereichen wie Innovation und Forschung sowie bei den Mitteln zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für Wachstum gespart wird?
Rehn: Ja, diese Gefahr besteht. Es ist schon paradox. Die EU wird oft kritisiert, nicht genug für Wachstum und Arbeitsplätze zu tun. Dann schlagen wir dafür eine Aufstockung der Mittel vor, und genau dort will man jetzt kürzen.

profil: Vor allem die britische Regierung hat massive Einsparungen beim gemeinsamen Budget gefordert.
Rehn: Nicht nur die Briten. Es gibt da schon lange einen Trend. Dass man der EU ständig neue Aufgaben überträgt, aber ihr dafür keine ausreichenden Mittel zur Verfügung stellt, setzt sich leider fort. Dies kann die gerade jetzt so wichtige Aufgabe der EU, Investitionen und Wachstum zu fördern, ernsthaft gefährden.

profil: Bisher haben meist die Deutschen die größere Last übernommen, aber diesmal will auch Kanzlerin Angela Merkel nicht mehr bezahlen. Und der britische Premierminister David Cameron erpresst seine Kollegen und droht mit Austritt.
Rehn: Cameron hat in seiner Rede über Europa vor drei Wochen viele Bereiche angesprochen, denen man zustimmen kann. Etwa die Vollendung des Binnenmarkts, die Verabschiedung von Freihandelsverträgen oder mehr Einsatz für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Indus­trie. Aber das Vereinigte Königreich kann seine politischen Anliegen nicht verwirk­lichen, indem es mit dem Austritt aus der Europäischen Union droht. Wäre ich Brite, würde ich lieber im Mittelfeld spielen, als von der Seitenlinie zuzusehen. Man schießt keine Tore von der Ersatzbank aus.

profil: Ein Europa, das nach britischen Regeln funktioniert, kommt demnach nicht für Sie infrage?
Rehn: Ein Europa à la carte, wo jedes Mitglied das Passende für sich heraussucht, kann nicht funktionieren. Das ganze Modell Europas basiert doch auf gemeinsamen Regeln, etwa für einen gemeinsamen Markt. Natürlich muss man das Prinzip der Subsidiarität einhalten, viele Maßnahmen sollten auf lokaler oder nationaler Ebene entschieden werden. Aber für jene Bereiche, die wir gemeinsam innerhalb der EU beschließen, müssen auch einheitliche Regeln gelten. Sonst wird der gemeinsame Markt fragmentiert. Das würde die Erosion der Europäischen Union einleiten.

profil: Was würde ein Austritt Großbritanniens nach dem 2017 geplanten Referendum für die EU bedeuten?
Rehn: Bis dahin vergehen ja noch einige Jahre. Aber ich habe meine Zweifel, ob die Briten wirklich die EU verlassen wollen.

profil: Hinsichtlich der Eurokrise herrscht derzeit erstaunlich viel Optimismus. Glauben Sie als einer der wichtigsten Währungshüter, dass das Schlimmste tatsächlich schon überstanden ist?
Rehn: Die Krise wirft einen langen Schatten, vor allem was die sozialen Folgen betrifft. Aber das Horrorszenario, also der Zerfall der Eurozone, ist gebannt. Die Eurostaaten müssen natürlich den Pfad der budgetären Konsolidierung und struktureller Reformen weitergehen. Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank im vergangenen Jahr, die OMT (Anm.: Outright Monetary Transactions) einzuführen…

profil: Also die Zusicherung von EZB-Chef Mario Draghi, bedrohte Mitglieder notfalls mit unbegrenzten EZB-Mitteln zu unterstützen …
Rehn: …hat spekulative Angriffe auf die Gemeinschaftswährung weitgehend ausgeschaltet. Wir beobachten seit Kurzem sogar in Griechenland einen Anstieg bei Investitionen. Solange nicht klar war, ob Griechenland überhaupt in der Eurozone bleiben kann, wollte dort niemand investieren.

profil: Vor einem Jahr haben viele Top-Ökonomen, darunter Nouriel Roubini oder Paul Krugman, das Ende des Euro bis 2013 prognostiziert. Erwarten Sie jetzt eine Entschuldigung dafür?
Rehn: Ich bin für freie Meinungsäußerung und erwarte daher keine Entschuldigungen. Aber die Glaubwürdigkeit dieser Leute hat doch gehörig gelitten. All diese Untergangsprognosen ­haben sich als falsch erwiesen. Viele Kassandrarufer haben die Bedeutung der politischen Integration, die mit dem Euro verknüpft ist, unterschätzt. Ich habe zum Spaß vor zwei Jahren einen „Roubini-Index“ kreiert, also einen Zeitplan, wie viele Jahre „Dr. Doom“ der Eurozone noch gibt. Wir haben bisher all seine Prognosen überlebt.

profil: Sie gelten als Verfechter eines harten Sparkurses. Der Preis dafür – nämlich Rezession und hohe Arbeitslosenraten – ist hoch. Immerhin besagt ja auch eine Studie des Weltwährungsfonds (IWF), dass die Folgen der Budgetkürzungen in den Euroländern für die Konjunktur falsch berechnet worden sind.
Rehn: Ich leugne gar nicht, dass fiskale Konsolidierung kurzfristig Auswirkungen hat. Aber es geht auch um die Wiedererringung von Vertrauen. Ein Beispiel: Belgien musste Ende 2011, also in einem der schlimmsten Momente der Krise, Zinsen in der Höhe von sechs Prozent bezahlen. Dann kamen unsere „Sixpack“-Regeln zur Budgetüberwachung und nach 500 Tagen eine neue belgische Regierung, die energische Maßnahmen einleitete. Im Frühling 2012 musste Belgien nur mehr drei Prozent Zinsen für seine Anleihen bezahlen.

profil: Aber in anderen Krisenländern ist von Erholung erst wenig zu spüren.
Rehn: Schauen Sie nach Irland. Dort wächst die Wirtschaft seit 2011 wieder. Erst gestern konnten die Iren eine Schuldverschreibung zu niedrigeren Zinsen umschichten. Irland und auch Portugal sind auf einem guten Weg, sich heuer wieder selber auf den Finanzmärkten Geld leihen zu können.

profil: Aber noch einmal die Frage: Führt ein zu harter Sparkurs, wie er Griechenland auferlegt wurde, nicht direkt in die Rezession?
Rehn: Griechenland ist ein besonderer Fall. Der öffentliche Sektor war aufgeblasen, durch Maßnahmen linker wie rechter Regierungen. Die Wirtschaft war durch viele Versäumnisse nicht mehr wettbewerbsfähig. Ich war einer der Ersten, der von den anderen Euromitgliedern Hilfe für Griechenland angefordert hat, weil ich sah, wie sich das Land Richtung Staatsbankrott bewegte. Griechenland hat zudem mehr als ein Jahrzehnt über seine Verhältnisse gelebt.

profil: Man hört von schrecklichen Schicksalen. Etwa jenes einer griechischen Mutter, die ihr Kind in ein Heim geben musste, weil sie nicht mehr für Lebensmittel und Wohnung aufkommen kann.
Rehn: Ich bin mir der sozialen Folgen der Krise bewusst, jedoch gab es dort so viele strukturelle Defizite, dass es dringend notwendig war und ist, diese zu korrigieren. Zum Beispiel im Gesundheitswesen: Der Pro-Kopf-Verbrauch von Pharmazeutika war der höchste in ganz Europa. Binnen zweier Jahre hat Griechenland 25 Prozent seiner Arzneimittelausgaben eingespart. Das ist ein Ergebnis der Reformen. Denn die Kostenübernahme durch die öffentliche Hand war sehr großzügig. Das war eine Goldmine für Pharmafirmen. Wir können nicht zulassen, dass die anderen europäischen Steuerzahler so etwas finanzieren. Deshalb muss das System reformiert werden.

profil: Befürchten Sie einen Anstieg der sozialen Spannungen?
Rehn: Ich bin mir bewusst, dass diese Krise sehr ernste soziale Auswirkungen hat. Ich erinnere mich an die Rezession in Finnland in den neunziger Jahren. Finnland hat die Beschäftigungszahlen, die es im Jahr 1990 hatte, erst 2008 wieder erreicht. Es hat also fast zwei Jahrzehnte gebraucht, um sich zu erholen.

profil: Wir müssen uns also noch länger warm anziehen.
Rehn: Diese Krise wurde grundlegend von den volkswirtschaftlichen Ungleichgewichten, die wir innerhalb Europas haben, ausgelöst. Und die haben sich im ersten Jahrzehnt der Euroeinführung noch verstärkt. Meiner Meinung nach war das die eigentliche Ursache für die Krise. Es ist zwar auch eine Finanz- und Bankenkrise, aber vor allem ist es die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten innerhalb der Eurozone. Bis hier ein Gleichgewicht hergestellt wird, werden noch einige Jahre vergehen.

profil: Massenproteste von Studenten und Arbeitern in Spanien zeigen, dass die Menschen nicht goutieren, dass die Milliardenhilfen den Banken und nicht der verarmenden Bevölkerung zugutekommen.
Rehn: Ich war auch einmal Student und habe auch demonstriert. Wenn man jung ist, ist man ungeduldig. Oft aus gutem Grund. In dieser Situation ist es sehr verständlich, dass die Menschen sehr ernste soziale Sorgen haben. Aber gerade in Spanien gab es solch große, unhaltbare wirtschaftliche Ungleichgewichte. Bis diese korrigiert sind, dauert es seine Zeit. Im Fall Spaniens ist es wichtig, dass die Finanzkonsolidierung so vonstattengeht, dass sie das Wachstum möglichst wenig beeinträchtigt. Gleichzeitig ist es wichtig, dass das Bankensystem repariert wird. Denn dieses war der Auslöser für all die Probleme, wegen derer die Menschen auf die Straße gehen. Wir müssen die Probleme an der Wurzel anpacken und nicht nur die Symptome kurieren. Die Reparatur des spanischen Bankensektors ist auf dem besten Weg.

profil: Das Bankenproblem ist aber nicht nur auf Spanien beschränkt.
Rehn: Wenn wir über Wachstum und dessen Voraussetzungen sprechen, müssen wir selbstverständlich das gesamte europäische Bankensystem erfassen. Deshalb ist es wichtig, die Bankenunion zu finalisieren. Wenn Sie sich Unternehmen in Südeuropa ansehen, in Spanien, Portugal, Italien, natürlich auch Griechenland, bis zu einem gewissen Grad auch Frankreich: Das größte Wachstumshindernis sind die restriktiven Kreditvergaben und Finanzierungskonditionen durch die Banken. Nehmen Sie Spanien: Dessen Exporte sind in den vergangenen zwei, drei Jahren um 20 Prozent gewachsen. Das Exportvolumen ist höher als je zuvor. Vielen großen Konzernen geht es jetzt wieder sehr gut. Aber besonders die kleinen und mittelständischen Unternehmen haben größte Probleme, sich zu finanzieren. Sowohl was die Kosten für Kredite als auch die Vergabe betrifft.

profil: Nächster Problemfall ist Zypern. Wird bald eine Milliarden-Hilfe genehmigt werden?
Rehn: Da wird es sehr strenge Auflagen geben, Zypern muss glaubhaft gegen Geldwäsche vorgehen, auch in der Bekämpfung von Steuerflucht. Es ist enorm wichtig, dass Zypern einen Staatsbankrott und einen Euroaustritt vermeidet. Schon Mitte März wird das ein großes Thema werden. Zypern steckt gerade mitten im Präsidentschaftswahlkampf. Die Verhandlungen mit der Troika werden nach der Wahl wieder an Fahrt aufnehmen.

profil: In Italien hofft Silvio Berlusconi auf ein Comeback. Welche Auswirkungen hätte seine Wiederwahl auf den Reformprozess im Land und auf die gesamte Eurozone?
Rehn: Ich möchte mich nicht zur italienischen Innenpolitik äußern.

profil: Kürzlich haben Sie das getan und wurden dafür massiv kritisiert.
Rehn: Ich habe nur ein paar Fakten bezüglich der jüngeren italienischen Wirtschaftsgeschichte, die in meinen Verantwortungsbereich fallen, zum Ausdruck gebracht. Aber es ist wichtig, dass jedes EU-Mitgliedsland auf Reformkurs bleibt. Denn wenn wir Kurs halten, sind wir in der Lage, die Situation zu stabilisieren und die Grundlage für nachhaltiges Wachstum zu schaffen.

profil: Die Finanzmärkte reagieren aber noch immer nervös auf tagespolitische Ereignisse.
Rehn: Das hat sich gerade diese Woche deutlich gezeigt. Es hat aufgrund der politischen Situation in Italien und Spanien einige Turbulenzen gegeben. Die Märkte haben sofort reagiert, und die Zinsen für die Staatsanleihen der beiden Länder sind wieder in die Höhe geschnellt. Das sollte uns daran erinnern, dass wir den Kampf gegen die Krise noch nicht gewonnen haben. Es ist eine sehr fragile Situation. Welche Farbe die neue Regierung in Italien auch haben wird, es ist wichtig, dass sie den Reformkurs beibehält. Sie darf sich nicht zurücklehnen.

profil: Finanzinvestor George Soros hat beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor einem drohenden Währungskrieg gewarnt, wenn die wichtigsten Währungen der Welt in einen Abwertungswettlauf eintreten.
Rehn: Ich erkenne die Gefahr einer kompetitiven Abwertung. Wir haben erst kürzlich die Regierung Japans vor entsprechenden Schritten Richtung Abwertung des Yen gewarnt. Wir brauchen Reformen im Weltwährungssystem, damit es nicht zu negativen Einflüssen auf den Welthandel kommt. Die Koordinierung im Rahmen von G7, G20 oder im IWF sollte deshalb verbessert werden. Wir haben in meiner Generaldirektion gerade eine Studie veröffentlicht. Eine Anhebung des Euro-Wechselkurses wäre vor allem für die südlichen Euroländer sehr schädlich. Deutschland, Österreich, Niederlande, Finn­land könnten das noch verkraften. Aber die südlichen Länder würden Probleme bei ihren Exporten in andere Teile der Welt bekommen.

profil: Zurück nach Österreich. Finanzministerin Maria Fekter will am Bankgeheimnis festhalten. Wie stehen die Chancen?
Rehn: Hier gilt das Gleiche, was ich schon zu Großbritannien gesagt habe: Jeder Mitgliedsstaat muss die Regeln der Europäischen Union einhalten. Aber dieses Thema fällt unter die Kompetenz meines Kollegen Algirdas Semeta.

profil: Wie lautet Ihre persönliche Meinung dazu? Wie lange wird Österreich sich noch weigern können, personalisierte Daten von ausländischen Bankkunden offenzulegen?
Rehn: Es ist wichtig, dass wir alles tun, um Steuerflucht und Geldwäsche einzudämmen. Das erwarten wir von jedem einzelnen Mitgliedsstaat.

Zur Person
Olli Rehn, 50, ist seit 2010 EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung und Vizepräsident der EU-Kommission. Wiewohl einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, ist er ­einer der mächtigsten Protagonisten innerhalb der Europäischen Union. Aus seiner Feder stammt eine Reihe von Gesetzesvorschlägen, mit der die wirtschaftliche Zusammenarbeit gestärkt und der Spielraum der Nationalstaaten eingeschränkt werden soll. Mit der Einrichtung des dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im vergangenen Oktober ist sein Einfluss noch gestiegen: Rehn und seine 550 Mitarbeiter sind dafür verantwortlich, ob der Daumen über Krisenländern gehoben oder gesenkt wird. Auf Basis der Länderberichte aus seiner Generaldirektion entscheidet der ESM, unter welchen Bedingungen Hilfsmittel vergeben werden. Als kompromissloser Anhänger der Sparpolitik wacht er über die Einhaltung der Defizitkriterien und kontrolliert die Umsetzung der Reformauflagen.

In Europa gefürchtet, geschätzt in der Heimat: Der bedächtige Finne ist ein krisenerprobter Berufspolitiker. Mit 26 Jahren wurde er zweiter Mann der liberalen Zentrumspartei. Mit 30 avancierte der promovierte Politologe zum Sonderberater des finnischen Ministerpräsidenten – und half, die Wirtschaftskrise des Landes zu lösen. 1998 zog es Rehn als engsten Mitarbeiter des sozialdemokratischen EU-Kommissars Erkki Liikanen erstmals nach Brüssel. 2002 folgte die Rückkehr nach Helsinki, wo er sich erfolglos um den Vorsitz der Zentrumspartei bewarb. Zwei Jahre später erfolgte der Ruf in die EU-Kommission. Vor seinem Job als Währungskommissar war er zunächst für Unternehmen, dann für die EU-Erweiterung zuständig.

Nicht nur von politischen Gegnern wird der Familienvater und bekennende Fußballfan als bieder, diskret, ja langweilig beschrieben. Was den Finnen jedoch nicht vor dem Tritt ins Fettnäpfchen feit. Als er vergangenes Jahr männliche Journalisten zu einem Briefing in die botschaftseigene Sauna lud, sorgte das nicht nur bei den Korres­pondentinnen für Wirbel.

Foto: Sebastian Reich für profil