EU-Parlament: Ach, Europa

25 Wahlkämpfe in 25 Mitgliedsländern

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Das Dorf heißt Strempt, hat 800 Einwohner und liegt an der Eifel. Es ist was los hier. Im Pfarrheim an der Busstation wird das Wahllokal sein, jeder wird hingehen, und seit Wochen kennt man im Wirtshaus kein anderes Thema mehr: Die Bürger von Strempt haben beschlossen, über die neue EU-Verfassung abzustimmen, am 13. Juni, gleichzeitig mit der Wahl zum EU-Parlament. Weil „es wichtig ist“ und „weil das Volk so etwas entscheiden muss“, sagen die Strempter. Es stört sie nicht, dass ihr Abstimmungsergebnis allenfalls symbolisch ist. Sie diskutieren beim Bäcker und beim Seniorenkränzchen; überall sind Journalisten; jeder kennt sich aus, jeder hat eine Meinung.

Ungefähr so hat man sich die europäische Demokratie vielleicht einmal vorgestellt. Doch Strempt ist bislang der einzige Ort, an dem sie existiert.

Kurz vor der ersten Parlamentswahl in der erweiterten Union bietet der Kontinent ein seltsam disparates Bild. Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage glauben zwar 63 Prozent der Bürger, das EU-Parlament habe „großen Einfluss auf ihr Leben“ – gleichzeitig meinen bloß 20 Prozent, diese Wahl sei „sehr wichtig“. Einerseits wünschen sie sich vom EU-Parlament, die drängenden Fragen Arbeitslosigkeit, Einwanderung und Kriminalitätsbekämpfung anzugehen – andererseits jedoch wollen sie meist bloß ihrer jeweiligen Regierung einen Denkzettel verpassen.
Schillernde Figuren haben sich auf die Wahlkampfbühnen gestellt: Porno-Queen Dolly Buster in Prag, „Dynasty“-Biest Joan Collins in London; in Portugal kandidiert Literaturnobelpreisträger Jose Saramago, in Tschechien der Astronaut Vladimir Remek; in Polen rittern gar zwei ehemalige Insassen aus dem „Big Brother“-Container um dasselbe Mandat.

Doch Stimmung will nicht aufkommen – ausgenommen dort, wo rabiat gegen Brüssel gepoltert wird. Wer erwartet hätte, die zehn neuen Mitgliedsländer würden das Euphorie-Manko der alten wettmachen, hat sich getäuscht: Noch ehe man dort die Freude über das Dazugehören richtig ausgekostet hat, macht sich schon die Angst vor dem Überrolltwerden breit.

Unbehagen. Es scheint, als sei den Bürgern alles ein bisschen zu schnell gegangen: der freie Grenzverkehr, der Euro, die Erweiterung, die neue Verfassung. Und dass in Brüssel und in Straßburg niemand dieses Unbehagen zu spüren scheint, schürt das Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen. Holland, das in vier Wochen die EU-Präsidentschaft übernehmen wird, gibt die düstere Tonlage vor: Das Maximum europäischer Integration, das von den Bürgern akzeptiert wird, sei erreicht, warnte Außenminister Bernard Bot; es gebe „eine wachsende Kluft“ zwischen den Kompetenzen der EU und ihrer Legitimität. „Wir müssen eine Zeit lang aufhören, neue Verträge zu machen.“ Sonst sei die Integration am Ende.

Indiz dafür wird bei dieser Wahl das Erstarken von EU-kritischen Gruppen sein, die außerhalb des traditionellen Parteienspektrums entstanden sind: von der polnischen „Selbstverteidigungspartei“ bis zur britischen „Say no to Europe“. Dies schwächt die beiden großen Fraktionen, die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei (SPE). In einer „großen Koalition“ haben die beiden bislang wichtige Abstimmungen stets gemeinsam im Vorfeld paktiert. Unklar ist nun, ob und wo sich die EU-kritischen Gruppen im Parlament einreihen werden.
Für die EVP könnte das zur Zerreißprobe werden. Sie hat schon bisher die EU-skeptischen britischen Tories integriert. Um stärkste Fraktion zu bleiben, werden sich die Christdemokraten wohl auch noch um die eine oder andere EU-skeptische Partei aus den neuen Mitgliedsländern bemühen. Die Aufnahme etwa der tschechischen ODS, die mit Anti-Brüssel-Parolen Stimmung macht, hat integrationsfreundliche bürgerliche Politiker jedoch derart aufgebracht, dass sie bereits mit dem Austritt drohen – wie etwa den Chef der französischen UDF-Gruppe, Jean-Louis Bourlanges. „Die EVP verkommt zu einer heterogenen Fraktion, wo Europagegner immer mehr mitreden“, sagt er. „Wo bleiben da unsere gemeinsamen europäischen Werte?“

Viel Neues. Diese Frage stellen sich die meisten EU-Bürger schon längst – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo wichtige Entscheidungen anstehen. Im Juli, bei der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments, werden die 732 Abgeordneten über den neuen Präsidenten der EU-Kommission abstimmen – erstmals haben sie sich von den Staats- und Regierungschefs Mitsprache ertrotzt. Der Entwurf für eine neue europäische Verfassung, die 2009 in Kraft treten soll, geht noch weiter: Neu eingeführt wird eine Anhörung vor Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der die Abgeordneten bisher nichts zu sagen hatten; ebenso im Bereich Inneres und Justiz. Internationale Abkommen dürfen ohne Billigung des Europaparlaments nicht mehr in Kraft treten, und auch in Budgetfragen werden die Mandatare das letzte Wort bekommen.

Spätestens dann hätten die Bürger der 25 Mitgliedsländer also Recht, wenn sie meinen, dass das EU-Parlament „großen Einfluss auf ihr Leben“ hat. Ob sie bis dahin auch überzeugt sind, Europäer zu sein, ist eine andere Frage.