EU-Wahlen oder gequirlte Demokratie

EU-Wahlen oder gequirlte Demokratie: Das programmierte Schlamassel der Wahl

Das programmierte Schlamassel der Wahl

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Wissen Sie, wer der Kandidat der sozialdemokratischen Fraktion des EU-Parlaments für das Amt des Kommissionspräsidenten ist? Niemand. Niemand? Nicht Tony Blair, nicht Felipe Gonzalez, nicht mal Alfred Gusenbauer? Niemand. Eine originelle Entscheidung, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Präsidentschaft der EU-Kommission um eines der wichtigsten Ämter Europas handelt und dass die bei den EU-Wahlen siegreiche Fraktion einen Anspruch darauf hat, dass der Kommissionspräsident aus ihrem politischen Lager kommt. Aber die europäischen Sozialdemokraten haben sich nach eigenen Angaben „noch“ nicht entschieden und werden dies, wie es aussieht, vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 7. Juni auch nicht mehr tun. Auf die Idee, erst wählen zu lassen und danach bekannt zu geben, wer der Kandidat sein könnte, ist bisher noch nicht mal Kim Jong Il gekommen. Pjöngjang darf nicht Brüssel werden.

Streng genommen steht der Kommissionspräsident am 7. Juni natürlich bloß indirekt zur Wahl. Der eigentliche Vorschlag wird dem Parlament vom Rat der Staats- und Regierungschefs unterbreitet, und das Parlament kann ihn akzeptieren oder ablehnen. Doch was hindert die beiden stärksten Fraktionen im Parlament, den Wählern in Aussicht zu stellen, wen sie im Fall eines Wahlsiegs als Kommissionspräsidenten favorisieren?

Als vor etwas mehr als einem Jahr die ganze Welt interessiert die amerikanischen Vorwahlen verfolgte, wurden die EU-Parlamentarier neidisch. Die PR-Abteilung des Parlaments befragte einige von ihnen, ob man sich von den Primaries etwas abschauen könnte. Die Antworten fielen eher allgemein aus. Ein Abgeordneter sinnierte, die EU müsse sich als „quirlige und attraktive Demokratie“ organisieren. Gute Idee.

„Quirlig“ ist allerdings möglicherweise nicht der allererste Begriff, der einem zu den EU-Wahlen einfällt, eher noch „gequirlt“. Daran kann auch eine Werbekampagne nichts ändern, die das Parlament im Programm des Musiksenders MTV schaltet. Da werden junge Leute in Mikrofone „Can you hear me?“ brüllen. Doch, ja, hören schon, aber was wollen sie uns sagen? Wenig, wenn man den Wahlkampf verfolgt. In Frankreich startete die Kampagne rund um das Thema „Soll die Türkei der EU beitreten?“. Da diese Frage den Parlamentariern während der nächsten Legislaturperiode nicht gestellt werden wird, dient sie im Wesentlichen als Füllwerk im Vakuum der Ratlosigkeit, worüber man debattieren könnte. In Großbritannien versuchen die Konservativen, die britische Ratifizierung des Vertrags von Lissabon noch einmal infrage zu stellen – auch das ein Thema, mit dem sich das EU-Parlament mangels Kompetenz nicht beschäftigen wird. Hierzulande schließlich gilt es als oberste Tugend eines EU-Abgeordneten zu versprechen, er werde möglichst viel für Österreich herausholen; als ob wir eine Abordnung von Ötzis zur Zerteilung eines Mammuts entsenden würden.

Irgendjemand muss daran schuld sein, dass Wahlen in der modernsten, erfolgreichsten Staatengemeinschaft der Welt relevant und attraktiv erscheinen wie die Europameisterschaften im Tipp-Kick. Die Schuldigen sitzen – Sie werden es nicht glauben – nicht in Brüssel und Straßburg. Dort wird nämlich objektiv betrachtet Erstaunliches geleistet. Dass die Europäische Union innerhalb eines Jahrzehnts die Einführung einer stabilen, weltweit respektierten Währung und die friedliche Erweiterung um zwölf Staaten und mehr als 100 Millionen Bürger geschafft hat, ist beispiellos.

Aber auch die Bilanz der abgelaufenen Legislaturperiode (2004–2009) des Europaparlaments fällt überzeugend aus: Senkung der Roaming-Tarife für Mobiltelefonie, Verbot der Mogelpreise bei Flugtickets, vollständige Öffnung der Postmärkte, Vereinheitlichung des Waffengesetzes, Verschärfung des Antidiskriminierungsgesetzes, Anhebung der Zigarettenpreise. Das heißt nicht, dass man mit jedem einzelnen Gesetz zufrieden sein muss. Manches, wie etwa das Verbot der Glühbirnen, wurde auch von profil kritisiert. Aber das ist auch im Fall von nationalen Gesetzgebern nicht anders. Unverständliche, unpraktikable und jämmerliche Gesetze werden in allen Hauptstädten Europas ersonnen, wie das österreichische Raucherschutzgesetz beweist.

Wer verhindert also, dass sich EU-Abgeordnete auf europaweite Listen einigen, mit gemeinsamen europäischen Projekten in den Wahlkampf ziehen und sich als europäische ­Parteien der Wahl stellen? Die nationalistisch denkenden Volksvertreter daheim. Wer verhindert, dass der Kommissionspräsident ganz ohne Gemauschel aus einer Volkswahl zum Europäischen Parlament hervorgeht? Die nationalen Regierungschefs. Sie wollen keinen starken Widerpart, sondern eine von ihren Gnaden abhängige graue Maus, am besten eine uncharismatische „Notlösung“, wie der amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bezeichnet wurde, als er 2004 als kleinster gemeinsamer Nenner das Rennen um den Top-Job machte.

Kein Mensch interessiert sich für Wahlen, bei denen über die wichtigsten Fragen und Köpfe nicht abgestimmt wird. Wenn der Kommissionspräsident aus der Parteienfamilie der stärksten Fraktion hervorgehen soll, dann muss auch jede Fraktion einen Kandidaten nominieren – und auch durchsetzen können. Der konservative Kandidat für diesen Posten – tatsächlich gibt es auch da offiziell keinen – hieße Barroso. Oder vielleicht doch nicht, denn wenn der Wahlerfolg davon abhinge, wer ganz oben steht, müssten sich die Parteien nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner bemühen, sondern um die zugkräftigste Persönlichkeit. Das Argument, dies sei wegen der Sprachbarriere und des Bekanntheitsgrades nicht machbar, ist unsinnig. Der Politiker mit den höchsten Be­liebtheitswerten in Deutschland spricht nicht Deutsch, verbrachte bisher knapp zwei Tage im Land und heißt: Barack Obama.

Europäische Listen wiederum hätten den Vorteil, dass der vulgär-nationalistische Unsinn, in Brüssel vorwiegend die Interessen des eigenen Landes vertreten zu wollen, weitgehend ein Ende fände. Auch auf diesen Listen bräuchte es Gesichter, die europaweit positive Emotionen auslösen. Alle Parteien wären gezwungen, solche Persönlichkeiten zu finden beziehungsweise aufzubauen. Und, ganz ehrlich: Ist es nicht mehr als wahrscheinlich, dass dabei ein Brite, eine Französin, ein Pole oder eine Griechin auftauchen, die sogar noch einen Tick charismatischer sind als die demnächst hierorts plakatierten Österreicher?

Wähler sind nicht blöd. Sie wissen, welche Wahl bedeutsam ist und welche nicht. Will man sie zum Wählen animieren, muss die Wahl ernsthafte Konsequenzen haben: Welches der Projekte wird umgesetzt? Wer kriegt den Top-Job? So erspart man sich lahme Werbespots, die nichts transportieren, weil sie nichts transportieren können außer der Verzweiflung über die Gewissheit der niedrigen Wahlbeteiligung.

Zum Abschluss noch die Auflösung, wer der heimliche Kandidat der Sozialdemokraten für das Amt des Kommissionspräsidenten ist: Es handelt sich um den Dänen Rasmussen. Anders Fogh Rasmussen, der neue Generalsekretär der NATO? Nein. Oder sein Nachfolger als dänischer Ministerpräsident, Lars Lokke Rasmussen? Auch nicht. Die korrekte Antwort lautet: Poul Nyrup Rasmussen, dänischer Ex-Premier, Abgeordneter des Europäischen Parlaments und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Europas. Aber keine Angst, Sie müssen das nicht wissen. Sie sind ja bloß der Wähler. Der mit den österreichischen Interessen.