Blühende Mannschaften

EM-Tagebuch: Blühende Mannschaften

EM-Tagebuch I. Die EURO-Rettung ist dank Mehmet Scholl und Oliver Kahn vorerst geglückt

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Die Euro-Berichterstattung hat, wie inzwischen jeder wissen sollte, ihre Tücken. Vor allem die, dass man sich, obwohl überall und eigentlich andauernd sehr viel Gescheites, Kluges und Wahres zum Thema gesagt wird, am Ende trotzdem nicht mehr auskennt. Immerhin, und das beruhigt einen dann doch wieder: Selbst die größten Experten können die Welt erst im Nachhinein erklären. Das gilt übrigens auch für die Fußball-Europameisterschaft. Diese erwies sich schon in ihren ersten Endrundenrunden als hervorragendes Turnier, was weniger die Qualität der Spiele betraf als deren Unvorhersehbarkeit. Nicht einmal die beteiligten Mannschaften wussten so richtig, wo und wie sie jetzt wirklich stehen und wie das alles weitergehen soll, also spielten sie vorsichtshalber mal so, mal so: Spanien zunächst ganz okay, dann ganz super; Italien erst ganz okay, also überraschend super; Griechenland erst überraschend super, dann, na ja; Deutschland erst altbacken, dann inspiriert, und die Iren rannten sogar zweimal sehr fleißig.

Leider verstärkten sich die mannschaftsinternen Unsicherheiten bei den unvermeidlichen Begegnungen zwischen den Teams noch wechselseitig, weshalb nun wirklich gar nichts mehr klar war: Prognostizierte Knaller erwiesen sich als Reinfälle, angesagte Nullpartien als Instantklassiker, erste Halbzeiten als völlig unabhängig von zweiten Halbzeiten. Erstes Fazit: Es mangelt dieser EURO eindeutig an Eindeutigkeit. Zum Glück fand Roman Mählich, der mit Herbert Prohaska und Frenkie Schinkels das ORF-Expertentriumvirat bildet (Manfred Zsak hatte offenbar wirklich keine Zeit), schon nach wenigen Tagen eine Erklärung für dieses seltsame Phänomen: "Die Wahrheit liegt in der Mitte.“ Wahlweise auch auf dem Platz, aber das ist in den meisten modernen Stadien ja ohnehin dasselbe.

Schon ganz am Anfang wurde es allerdings so richtig eindeutig erfreulich. Zur Turnier-Eröffnung kam nämlich Altteamchef Josef Hickersberger ins ORF-EM-Studio (das diesmal zwar von einem üppigen Raumschiff-Enterprise-Pult und Rainer Pariaseks entsprechend außerirdischem Grinsen dominiert wird, aber ansonsten leider jeglichen Schnickschnacks entbehrt), was insofern schön war, als Hickersberger, wenn er in einem Fernsehstudio steht, immerhin nicht auf einer Trainerbank sitzen muss und das tun kann, was er am liebsten macht und, ehrlich gesagt, auch am besten beherrscht: mit versteinerter Miene Wuchteln schieben, die einem das Blut in den Adern sieden lassen. Was ja ein äußerst adäquater Zustand ist, um Fußball im Fernsehen zu sehen, vor allem, wenn gleich zum Einstand die Griechen spielen und man für den Rest der Woche Roman Mählich ertragen muss.

Keine Sorge: Muss man natürlich nicht. Weil die Deutschen - und das konnte man ausnahmsweise ohne Risiko voraussagen - wieder einmal alles besser machen und mit ihrer TV-Berichterstattung sowohl formal als auch inhaltlich für Furore sorgen. Ersteres mit der wunderschönen, angenehm operettenhaften ZDF-Seebühne auf Usedom, wo Katrin "innerer Reichsparteitag“ Müller-Hohenstein und Oliver "Das kann man so nicht sagen“ Kahn zu stimmungsvollem Wellengeplätscher schillernde Lederjacken und professionelle Seniorenhaftigkeit zur Schau stellen; Letzteres durch die ARD-Experten Lothar Matthäus (der mit vollständigen Sätzen und großem Fachwissen beeindruckte) und Mehmet Scholl, der den deutschen Fußballgott Mario Gomez in einer Spielbesprechung ein bisschen unmotiviert fand und damit eine Welle der Aufregung lostrat, die womöglich sogar bis an den Strand von Usedom schwappte, was dort aber natürlich niemand merkte, weil der Social-Media-Senior Oliver Kahn gerade zur besten Sendezeit das Twittern erklärt bekam (ZDF-Twitter-Expertin: "So, und jetzt folgst du schon vier Leuten. Unter anderem mir.“)

Womit wir auch schon bei den englischen Followern wären, die den Glauben an die Zukunft und eine Wiederauferstehung ihrer doch eher trostlos besetzten Mannschaft leider schon vor Turnierstart verloren hatten und deshalb auf eine massenhafte Anreise zur EURO verzichteten, weshalb in der ersten Turnierwoche Hooligans aus anderen Ländern für schlechte Stimmung sorgen mussten. Polnische und russische Feingeister sprangen spontan und äußerst erfolgreich ein, und auch der österreichische Problemfan und ehemalige BZÖ-Bautensprecher Erich Tadler ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt und bemalte eine Löwenstatue vor dem Warschauer Präsidentenpalast in den Nationalfarben. Genau: Schwarz-Rot-Gold. Auch die übrigen Schlandanhänger witterten ein neues Sommermärchen, fühlten sich schon ganz schwarzrotgoldig, behielten vorerst aber immerhin noch ihren Humor: Das Match gegen die Niederlande begleitete die deutsche Fankurve unter anderem mit der sehr feinsinnigen historischen Anspielung: "Hurra! Hurra! Wir sind wieder da!“ Zum Glück fand das Spiel nicht in Polen statt. Wobei: Die Weltkriegsgeschichte von Charkiw soll ja auch nicht wirklich rosig sein, aber das lassen wir uns am besten von Katrin Müller-Hohenstein irgendwann einmal noch etwas genauer erklären.

Apropos rosig. Als wäre ergebnisbedingt nicht ohnehin schon genug Spannung im Turnier, stiftete die UEFA mit dem eigenwilligen Blütenmotiv ihres EM-Grafikkonzepts noch zusätzlich Unruhe. Wie darf man all die Blüten, Blätter, Stängel verstehen? Sind die Stadionrasen in Polen und der Ukraine tatsächlich so ungepflegt, wie es die spanischen Tikitakisten benörgelten? Soll die florale Optik des Turniers das Schreckgespenst des irisch-italienischen Abwehrbetons bannen? Oder handelt es sich gar um eine Anspielung auf Helmut Kohls "blühende Landschaften“, die sich da im Osten auftun?

Am wahrscheinlichsten ist Letzteres, schließlich handelt es sich bei der EURO 2012 um ein politisch hochgradig aufgeladenes Turnier, wie man im Vorfeld so gut wie überall und seit dem Anpfiff zur ersten Partie seltsamerweise gar nicht mehr lesen konnte.

Die rührendste Nachricht zu dem Thema erreichte den ZDF-Kommentator Béla Réthy während der Partie Deutschland - Niederlande am Mittwoch, und er teilte sie gern mit seinem Publikum: "Ich höre gerade, dass die grünen Europaabgeordneten Rebecca Harms und Werner Schulz in der VIP-Loge ein Transparent enthüllt haben, auf dem sie die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern.“ Na bumm. Zum Glück boykottiert Maria Fekter das Turnier.

Deren Leitmedium hatte derweil ganz andere Sorgen: "Spanier ohne Jobs kommen zu uns!“, titelte die "Kronen Zeitung“ am Donnerstag, meinte dann aber doch nicht den spanischen Angreifer Juan Mata, der einem trotzdem leidtun konnte, weil sein Coach Vicente del Bosque beschlossen hatte, diesmal auch ganz gut ohne Stürmer auszukommen. Und das ausgerechnet jetzt, wo doch spanische Ersatzbanken ohnehin so schwer zu tragen haben. Andererseits ist der Genitiv von Tor eben immer noch Torres, weshalb dieser, als er dann doch noch spielen durfte, das Match auch gleich entscheidend mitbeeinflusste. Das unterschied ihn deutlich von den anderen angereisten Goalgettern und Torschützenkönigen, vor allem aber den holländischen, deren EURO-Krise wohl nicht mehr zu beheben sein dürfte und die sich, anders als ihre ebenfalls schwer schwächelnden Kollegen Cristiano Ronaldo und Mario Balotelli, nicht einmal mit einem Friseurbesuch trösten können.

Aber das muss zum Glück alles nichts heißen, weil die Zukunft eben gewiss bleibt, vor allem aber für die EURO. Mit einer, leider nicht sehr tröstlichen Ausnahme: Herbert Prohaska wird immer das letzte Wort haben. Na dann: "Gute Nacht.“

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