Katzen im Sack

EURO 2012: Die zweite Schicksalswoche

EM-Tagebuch II. Sven Gächter über die zweite Schicksalswoche

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Die UEFA, die Vereinigung Europäischer Fußballverbände, genießt in systemkritischen Kreisen keinen ganz so satansgleichen Ruf wie ihre Dachorganisation, der Weltfußballverband FIFA, was unter anderem daran liegen mag, dass der eine durchaus macht- und statusbewusste Präsident, Michel Platini, im Unterschied zum anderen unbeschreiblich macht- und statusbewussten Präsidenten, Sepp Blatter, immerhin einmal aktiver Kicker von Weltrang war. Als solchem ist ihm offenbar auch der kernige Jargon seiner Rasenjahre vertraut geblieben. Die chronischen Pyromanen unter Kroatiens Schlachtenbummlern nannte er ohne Ansehen sportdiplomatischer Gepflogenheiten schlicht "ein paar hundert Arschlöcher“. Möglicherweise waren sie aber auch nur, wie ein paar hundert Millionen friedliche Fußballfans in ganz Europa, an den neuen UEFA-Modalitäten zur Ermittlung der nach der EM-Gruppenphase aufstiegsberechtigten Teams verzweifelt. Selbst die betroffenen Mannschaften haderten während der entscheidenden letzten Vorrundenspiele viel zu verbissen mit tabellarischer Arithmetik, um ernsthaft ihrer ureigentlichen Bestimmung nachzugehen: anständigen Fußball zu spielen.

Zur Halbzeit gönnte sich die EURO 2012 einen dramaturgischen Durchhänger: Kleinkarierte Synchronrechnerei dominierte das Geschehen. Gut, dass es wenigstens eine Handvoll Teams gab, die schon vor dem dritten Match nichts mehr zu verlieren hatten. Die Iren setzten dabei weniger auf sportästhetische Durchschlagskraft als auf die herzerwärmende Sangesfreude ihrer Fans - und den knorrigen Unterhaltungswert des Trainers, der mit einer seiner legendären polyglotten Pressekonferenzen für willkommene Abwechslung sorgte. "No say the cat is in the sakk when you have not the cat in the sakk“, räsonierte Giovanni Trapattoni und ließ salomonischerweise offen, was genau er damit meinte. Stattdessen lachte er herzhaft, so als hätte er gerade einen etwas anrüchigen Witz gemacht.

Humor ist im Fußball meist eine unplangemäße Kollateralerscheinung, was sämtliche Auftritte und Äußerungen von Lothar Matthäus bis heute zweifelsfrei belegen. Leider wird die deutsche Mannschaft unter Jogi Löw zu straff geführt, um noch Spaß-Partouts dieses Kalibers hervorzubringen. Selbst Lukas Podolski hat seit seinem unvergessenen Aphorismus "Fußball ist wie Schach - nur ohne Würfel“ alle einschlägigen Ambitionen eingestellt. Aber immerhin schießt er jetzt Tore mit rechts.

Arjen Robben trifft bekanntlich nicht einmal mehr mit links. Es mag ihn ein wenig getröstet haben, dass er damit im niederländischen Primadonnen-Ensemble keineswegs auffiel. Der Vize-Weltmeister verabschiedete sich mit einer desaströsen Leistungsbilanz: Oranje - zéro points. Elftal-Coach Bert van Marwijk hatte seine notorisch schlechte Laune erfolgreich auf die Mannschaft übertragen und musste sich dafür nicht nur von der hyperventilierenden heimischen Sportpresse, sondern am Ende auch noch von der schmollenden Chef-Diva Robben maßregeln lassen: "Halts Maul!“

Auf Russisch heißt das übrigens "Заткни свою глотку!“, und es war noch eine der höflicheren Injurien, die der ukrainische Trainer und frühere Sowjet-Starkicker Oleg Blochin nach der dramatischen Niederlage gegen England für die Journalisten bereithielt. Dabei konnten die ja nun wirklich nichts dafür, dass der ungarische Torrichter Istvan Vad in der 62. Minute trotz optimaler Position und sichtlich angestrengten Hinschauens das Tor von Marko Devic partout nicht erkennen mochte. Mit dieser fulminanten Fehleinschätzung leistete er einen mustergültigen Beitrag zu einer Kernkonstante jeder Turnierfolklore: der Diskussion über die Performance der Unparteiischen. Auch in den Partien Dänemark-Deutschland, Kroatien-Spanien, Irland-Kroatien und Griechenland-Russland trafen sie zum Teil grob spielverzerrende Entscheidungen. "Peinliche Zufälle, oder steckt viel mehr dahinter?“, warf die "Süddeutsche Zeitung“ kritisch feixend in die Tiefe des Raums. "Ein Turnier mit Spaniern, Engländern und Deutschen im Viertelfinale ist schließlich viel attraktiver als eines mit Dänen, Ukrainern und Kroaten.“

Ein faszinierender Denkanstoß - nur: Wie attraktiv ist denn bitte ein Turnier mit den Griechen im Viertelfinale? Sollte die von der "Süddeutschen“ im Hinblick auf TV-Einschaltquoten und Kommerzialisierungsdruck insinuierte Verschwörungstheorie faktisches Potenzial haben, kann es nur auf die Europameisterschaft 2004 zurückgehen, als die Hellenen unter dem rheinländischen Zuchtmeister Otto Rehagel mit vorsintflutlichem Stahlbetonfußball nicht nur das Viertelfinale, sondern das Finale erreichten (und auch noch gewannen!), sehr zum Entsetzen aller aufrechten Anhänger des "jogo bonito“ - und der stramm wertschöpfungsorientierten UEFA-Granden, die angesichts der himmelschreienden Spektakeldefizite die interne Geheimlosung ausgegeben haben dürften: Nie wieder! Deshalb wurde der FC Chelsea im vergangenen Mai dann wohl auch UEFA-Champions-League-Sieger.

Das Schöne am Fußball ist, dass er alle noch so abenteuerlichen und widerstreitenden Überzeugungen zu einer organisch wabernden Sinnflut sublimiert. Im ORF wird sie allerdings gnadenlos wieder in den Modus letztgültiger Banalität übergeführt. Das EM-Studio verströmt, wie Sebastian Hofer in der Vorwoche hellsichtig anmerkte, das klinisch-kühle Flair von Raumschiff Enterprise, nur dass es leider nicht von Aliens bevölkert wird, sondern von Rainer "Es wäre schon peinlich, wenn wir bei einer Sportfrage scheitern sollten“ Pariasek, Roman "Was heißt hier Streber?!“ Mählich, Frenkie "Eine Wuchtel geht noch“ Schinkels und Herbert "Der Akkusativ wird hoffnungslos überschätzt“ Prohaska. Das analytische Niveau, das die Herren vorgeben, wird von den Kollegen an der Stadionfront kongenial egalisiert: Mehr oder minder wortreich, aber durchgehend eisern referieren sie, was jeder, der vor dem Fernseher noch nicht eingeschlafen ist, mit freiem Auge selbst sieht. Dass "Tempo und Spielwitz das Um und Alles“ sind, weiß man schließlich auch, ohne von Phrasensprenger Thomas König darüber belehrt werden zu müssen. Das EM-Finale wird dem Vernehmen nach Oliver Polzer kommentieren, ein an sich begabter Mann, der den ORF-Sport sicher nachhaltig bereichern könnte, wenn er keine so zwanghafte Leidenschaft für frei assoziierte Pointen hätte wie Cristiano Ronaldo für sinnlose Übersteiger.

Ronaldo gewann dann immerhin das Viertelfinale gegen Tschechien. Seine Teamkameraden durften während des Spiels assistieren und in den Interviews danach eine einzige Frage beantworten, diese dafür immer wieder: "Ist Ronaldo der beste Fußballer der Welt?“ Der tschechische Kapitän Tomas Rosicky hatte sich unerschrockenerweise schon im Vorfeld festgelegt: "Ich bin mir nicht sicher.“ Sandro Rosell dagegen, Präsident des FC Barcelona, hält Ronaldo für den exakt zwölftbesten Spieler der Welt: "Die besten elf stehen in der Barça-Startelf.“ Sieben davon wurden für den EM-Kader der spanischen Nationalmannschaft aufgeboten, deren Trainer Vicente del Bosque mit dem Coaching des amtierenden Welt- und Europameisters offenbar so unzureichend ausgelastet ist, dass er nebenbei den Jobmarkt für Kollegen sondiert: Pep Guardiola empfiehlt er, bei Bayern München anzuheuern, und Jogi Löw bringt er für Real Madrid oder Barcelona ins Gespräch.

Das Endspiel der EURO 2012 findet am 1. Juli im Olympiastadion Kiew statt, aller Voraussicht nach in Anwesenheit des international nicht sonderlich geachteten ukrainischen Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch. Schon bei den Gruppenspielen des Ko-Gastgeberlands hatte er auf der Ehrentribüne Platz genommen, was jedoch keinerlei Aufmerksamkeit erregte, weil er von der UEFA-Bildregie konsequent ausgeblendet wurde. Dabei schlägt in seiner Brust ein echtes Sportlerherz. Nicht ohne Stolz rühmt Janukowitsch sich gelegentlich, 1974 bei der Rallye Monte Carlo für die UdSSR an den Start gegangen zu sein. Dummerweise fiel die Rallye in jenem Jahr wegen der Ölkrise aus.

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