Der kaputte Kontinent

Krise. Europa leidet unter dramatischen Zerfallserscheinungen. Wären wir ohne die EU heute nicht besser dran?

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Die gute Nachricht zuerst: Griechenland verzichtet auf das Referendum über den EU-Rettungsschirm. Die einschneidenden Reformen im Land werden somit fortgesetzt. Die nächste Tranche der Hilfsgelder wird wie geplant nach Athen geschickt.

Die EU kann also vorerst aufatmen – aber nicht lange.

Denn die nächste Schockwelle rollt bereits an. Die hellenische Finanzkrise ist – mit oder ohne Premierminister Giorgos Papandreou an der Spitze – noch lange nicht ausgestanden. Zugleich wackelt ein anderes Sorgenkind der Union: Italien, die drittstärkste Volkswirtschaft der Euro-Zone, hat international jedes Vertrauen verspielt, dringend anstehende Reformen lassen unter dem Skandal-Premier Silvio Berlusconi auf sich warten. Die Märkte werden immer nervöser. Unter dem Druck der akuten Schuldenkrise musste Berlusconi beim G-20-Gipfel in Cannes am vergangenen Freitag einwilligen, sein Reform- und Sparprogramm auch vom IWF bewerten zu lassen. Und so hechelt das politische Führungspersonal Europas von einer Krise zur nächsten. Unter den EU-Bürgern wächst inzwischen die Angst um die Sicherheit ihres Geldes. Europa-Skepsis steigt gefährlich an. Untergangsstimmung macht sich breit.

Von Georg Hoffmann-Ostenhof, Otmar Lahodynsky und Gunther Müller

Wozu brauchen wir eigentlich noch ein gemeinsames Europa? Diese Frage wurde Jahrzehnte lang höchstens von rechten Provokateuren und radikalen Nationalisten gestellt. Jetzt hat sie den Mainstream der öffentlichen Meinung erreicht.

Die Krise der EU, die Notlage der europäischen Finanzen, die Konfusion des politischen Führungspersonals und die Furcht vor einem großen Crash lassen einen gefährlichen Gedanken gar nicht mehr so absurd erscheinen: Vielleicht hätte man das Projekt Europa gar nicht auf den Weg bringen sollen.

Ob die Welt nach 2008 neuerlich in eine Rezession stürzt, scheint derzeit vor allem von den europäischen Staats- und Regierungschefs abzuhängen. Doch denen traut man international wenig zu. „Vielleicht wird es der EU zu Beginn des 21. Jahrhunderts so gehen wie dem Völkerbund zu Beginn des 20. Jahrhunderts – eine große Idee, die zum politischen Waisenkind wurde“, warnte kürzlich die „New York Times“. Auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman sieht für die Europäische Union wenig Zukunft: „Europa zerfällt, das Zentrum hält nicht mehr“, befindet der US-Ökonom und Kolumnist. Und auch in der europäischen Öffentlichkeit sind solche apokalyptischen Perspektiven, ob sie nun als gewünschte Alternative oder als Untergangsprophezeiung daherkommen mögen, inzwischen weit verbreitet. Und das ist höchst alarmierend.

Zumal es Jahrzehnte lang nicht den geringsten Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Union gab: Der Aufbau eines vereinten Europas war ein historisches Friedensprojekt, das ein- für allemal Schluss machte mit den massenmörderischen Kriegen, die den Kontinent Jahrhunderte lang verwüstet hatten. Dieser Staatenbund sollte zu einem weltweiten Vorbild einer freien Gesellschaft werden, die soziale Wohlfahrt mit wirtschaftlicher Dynamik kombiniert, ein Club, in dem die ökonomischen Zugpferde wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien sich mit den rückständigen Ländern des Südens, Griechenland, Italien und Spanien vereinen und einander stützen.

Den Grundstock für dieses Projekt legten – unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des anlaufenden Wiederaufbaus – die französischen Politiker Jean Monnet und Robert Schuman im Jahr 1950. Die Rohstoffe Kohle und Stahl wurden unter eine gemeinsame Verwaltung gestellt. Zur „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ kam 1957 eine „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) mit sechs Mitgliedsstaaten. Alle Zollbarrieren und Einfuhrquoten sollten beseitigt und mit einer gemeinsamen Agrarpolitik auch die Belieferung mit ausreichend Lebensmitteln sichergestellt werden.

Ende der siebziger Jahre legten der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing den Grundstein für eine europäische Währung. Die ständigen Geldabwertungen in den verschiedenen Ländeern sollten durch fixe Wechselkurse weitgehend abgeschafft werden. Der so genannte „ECU“ existierte aber vorerst nur als Verrechnungseinheit.

Der dynamische französische EU-Kommissionspräsident Jacques Delors setzte mit dem Binnenmarkt und dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen Mitte der Achtziger Jahre ein weiteres ehrgeiziges Ziel. „Die Geschichte beschleunigt sich, also muss das auch Europa tun“, befand Delors.

Noch bis zur Finanzkrise 2008 war es in der Öffentlichkeit bei allen Schwierigkeiten und genereller Europa-Skepsis selbstverständlich: Es gibt keine Alternative zur EU. Mit guten Argumenten konnte darauf hingewiesen werden, dass die Union in nur wenigen Jahren zustande brachte, wofür Nationalstaaten Jahrhunderte gebraucht hätten: Seit den neunziger Jahren erweiterte sich die EU um einen halben Kontinent, wurden die Grenzbalken demontiert und eine gemeinsame Währung geschaffen. Da mochte man über die schwerfällige Brüsseler Bürokratie noch so viel jammern – Handlungsfähigkeit und Dynamik konnte man Brüssel angesichts dieser Errungenschaften nicht absprechen.

Und jetzt ist die Katastrophe schlechthin da. Was ist passiert? Und wie kam es, dass die Erfolgsgeschichte EU so abrupt zu einer Horrorstory wurde? Wo liegen die Wurzeln des aktuellen europäischen Elends?

Dafür muss man in die euphorischen Aufbruchsjahre 1989 und 1990 zurückblenden. Im Osten hatten die sanften Revolutionen die Politbüros weggespült. Die Sowjetunion stand vor ihrem Untergang. Und die Berliner Mauer war gefallen. Gerade die Wiedervereinigung Deutschlands stellte letztlich die Weichen für den Weg in die gemeinsame Währungsunion. Nun wurde er konkret beschritten.

Noch war der Zweite Weltkrieg nicht so lange vorbei. Und die Angst, die Deutschen, nun um die ehemalige DDR vergrößert, könnten – wie schon mehrfach in der Geschichte – wieder einen gefährlichen Sonderweg einschlagen und nationalistisch ausrasten, ging um. Um die potenziellen teutonischen Berserker endgültig zu verlässlichen Europäern zu machen, erschien die Einbindung in die gemeinsame Währung als probates Mittel. So wollte der französische Präsident François Mitterrand auch „die Wirtschaftskraft Deutschlands europäisch einhegen“, beschreibt der deutsche Ex-Regierungschef Gerhard Schröder die Interessenlage Frankreichs.

Helmut Kohl, der Kanzler der deutschen Einheit, verstand die Ängste. Und er machte einen Deal mit weit reichenden Konsequenzen: Die Deutschen bekommen die Einheit, geben dafür ihre geliebte D-Mark auf, im Gegenzug wird die Finanzpolitik Europas weitgehend von ihnen bestimmt. Nicht nur sollte die Europäischen Zentralbank in Frankfurt ihren Sitz haben, sie wurde auch der deutschen Bundesbank nachgebildet, die im Unterschied etwa zur amerikanischen Federal Reserve fast ausschließlich auf Geldwertstabilität und den Kampf gegen Inflation ausgerichtet ist. Mit anderen Worten: Wirtschaftswachstum und Wirtschaftspolitik fällt nicht in die Kompetenzen der Zentralbank.

Doch genau dieser Deal sollte sich in den vergangenen Monaten als fatal erweisen. Angesichts der Krisensituationen an der südlichen Peripherie der EU – vor allem in Griechenland – hatte die Zentralbank nicht das Pouvoir, schnell und effektiv Geld in die maroden Volkswirtschaften zu pumpen, um den Zusammenbruch zu verhindern. Die Krise zwang die EZB zwar, von ihrem Dogma abzugehen – sie begann durch Anleihenkäufe den Hellenen, Portugiesen und Co. zu helfen –, aber die europäischen Zentralbanker haben bei weitem nicht so freie Hand wie ihre US-Kollegen.

Auch die No-Bail-Out-Bestimmung, also die Klausel, wonach Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten nicht haften, ist eine deutsche Erfindung, die wesentlich dazu beitrug, dass die deutsche Kanzlerin Merkel den Not leidenden Griechen viel zu lange partout nicht aus der Patsche helfen wollte. Als einen „zentralen Denkfehler“ sieht der ehemalige deutsche Finanzminister Hans Eichel diese Sonderregelung. Hilfen an EU-Länder außerhalb der Euro-Zone werden gewährt. Warum aber ähnliche Transfers ausgerechnet innerhalb der Währungsunion verboten sein sollten, sei nicht logisch: „Immerhin sind das ja die Länder, in die wir unsere Waren verkaufen.“

Kein Wunder, dass der Euro in die Krise gerutscht ist, wurde er doch ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik etabliert: Darüber besteht heute Einigkeit. Aber die Erkenntnis ist beileibe nicht neu. Wäre es nach dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors gegangen, wäre Europa politisch besser gerüstet gewesen und zentralisierter und einheitlicher regiert worden. Auch Helmut Kohl wusste bereits im November 1991: „Es ist klar: Eine Währungsunion ohne politische Union ist abwegig.“
Die Europäische Union wurde zwar ein Jahr später in Maastricht beschlossen. Allein: Der ökonomischen Integration folgte die politische nur sehr zögerlich. Man beruhigte sich mit der Hoffnung, die wirtschaftliche Entwicklung und die Gemeinschaftswährung werde die politische Union erzwingen.

Das sollte sich als folgenschwerer Irrtum erweisen. Der angenommene Automatismus wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil: In den neunziger Jahren, als man daran ging, die EU um die osteuropäischen Reform-Staaten zu erweitern, wuchs der Euro-Skeptizismus. Rechtspopulisten punkteten mit Brüssel-Bashing. Und langsam kam eine neue Generation von Politikern ans Ruder, für welche die furchtbare Kriegsvergangenheit des Kontinents bereits tote Geschichte und nicht mehr real europäisch motivierend ist, wie das noch bei der Generation der Kohls, Mitterrands und Delors der Fall war.

Die Dringlichkeit des Projekts Europa empfinden die EU-Politiker von heute nicht mehr so intensiv wie ihre Vorgänger: Und so erlebten wir in den vergangenen Jahren das, was im EU-Jargon „Renationalisierung“ genannt wird. Augenfälligster Ausdruck dieser Entwicklung: Die Kommission als „Hüterin der Verträge“ wurde sukzessive entmachtet, der Rat der Staats- und Regierungschefs, welche die nationalen Interessen ihrer jeweiligen Länder einbringen, wurde zum alles beherrschenden Gremium. Und der Versuch, der EU eine Verfassung zu geben, scheiterte.

Am 1. Jänner 2001 konnten die Europäer erstmals mit Euro-Scheinen zahlen. Die Gegner einer gemeinsamen Währung verstummten, als die Entschlossenheit der europäischen Politik, das historische Projekt durchzuziehen, mit internationalem Vertrauen belohnt wurde. Die Märkte scheuten sich auch nicht, Entwicklungsländern in der Euro-Zone wie Griechenland und Portugal, die man aus politischen Gründen und wider besseres ökonomisches Wissen aufgenommen hatte, großzügig billiges Geld zu leihen.

Über fast ein Jahrzehnt hinweg war der Euro tatsächlich überaus erfolgreich: Er erwies sich nicht nur als stabil, er gewann auch spektakulär an Wert gegenüber dem Dollar und etablierte sich als die zweite globale Reservewährung.

Erst seit der Lehman-Pleite, also seit dem Finanzcrash 2008, wurde nur allzu deutlich, wie brüchig die Konstruktion der europäischen Währung ist: Mit dem Euro sollte Europa zusammenwachsen, aber nun treibt er im Gegenteil den Norden und den Süden der EU auseinander. Und jetzt erleben wir „ein Europa der zwei Geschwindigkeiten: hier das rasende Europa der Finanzmärkte und Banken, dort das hinterher hechelnde Europa der Regierungen und Parlamente“, schreibt das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.

Die US-Finanzkrise im Jahr 2007 und 2008 traf Europa mitten in einer Abschwungphase. Die Arbeitslosenrate stieg steil an. Versuche der Europäischen Zentralbank, mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anzukurbeln, blieben weitgehend erfolglos. Was die ratlosen EU-Politiker noch mehr schmerzen sollte: In den USA erholte sich die Wirtschaft schneller als in der EU.

Und nun wurden auch andere Defizite Europas sichtbar: „Europa vergreist“, stellte der US-Politologe Robert Kagan ein demographisches Problem fest. Die Geburtenzahl in Europa sinkt stetig. Noch im Jahr 1950 betrug der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung knapp 22 Prozent. Bis heute ist dieser Anteil auf knapp über zehn Prozent gesunken. Prognosen zufolge wird er im Jahr 2050 nur mehr 7,6 Prozent ausmachen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die EU keine wirksame Einwanderungspolitik betreibt. Zuwanderer werden nach unterschiedlichen nationalen Regelungen aufgenommen. Anders als die USA sucht sich die EU nicht gezielt Immigranten aus Drittstaaten aus.

Dazu kommen die steigenden Lasten für die Finanzierung der Pensionisten: Im Jahr 2030 werden in Deutschland oder Österreich auf 100 Erwerbstätige 50 Personen im Ruhestand kommen. 20 Jahre später sind es schon 60. Nur eine gezielte Zuwanderung könnte diesen Trend aufhalten. Aber die EU ist für mobile und gut ausgebildete Fachkräfte zu wenig attraktiv. Und unter den europäischen Universitäten können nur wenige Hochschulen wie die britischen mit der US-Konkurrenz mithalten.

Zu allem Überdruss hat die Schuldenkrise inzwischen fast alle 17 Euro-Länder erfasst. Gerade noch drei Mitglieder, Finnland, Estland und Luxemburg, halten die Kriterien zu Budgetdefizit und Neuverschuldung ein. Viel zu spät wurden auch Kontrollen bei den nationalen Budgets beschlossen.

Seit dem Urteil des deutschen Verfassungsgerichtshofs in Karlsruhe des Jahres 2009 müssen auch bei den Rettungsschirmen für krisengeschüttelte Euro-Länder bedenkliche Konstruktionen eingegangen werden, um Einsprüche der Höchstrichter zu verhindern. Denn neue Kompetenzverlagerungen an EU-Institutionen haben die deutschen Höchstrichter mit ihrem Urteil untersagt. Damit werden auch Änderungen des EU-Vertrags immer schwerer. Doch ohne diese wird die EU mittelfristig nicht aus der Krise herauskommen.

Ratlosigkeit herrscht in Brüssel und den europäischen Metropolen. Die allgemeine Paralyse rührt nicht nur daher, dass man sich nicht einigen kann – die europäische Politik betritt historisches Neuland, und für einen solchen Krisenfall gibt es keine Blaupause.

Der Dramatik der Situation sind sich die führenden politischen Köpfe aber inzwischen bewusst. Selbst Angela Merkel hat ihr Dogma, ohne Hysterie einen Schritt nach dem andern zu tun, zugunsten eines für die pragmatische Politikerin erstaunlichen Europa-Pathos aufgegeben. Und plötzlich sprechen besonnene Politiker davon, dass die Schaffung eines europäischen Bundesstaates, der Vereinigten Staaten von Europa, auf der Tagesordnung stehe – was bisher als realitätsferne Utopie abgetan wurde. „Jetzt kommt es zur großen Entscheidungsfrage. Entweder wir schaffen einen wirklichen Integrationssprung. Oder es kommt zum großen Crash“, meint der ehemalige grüne Europa-Politiker Johannes Voggenhuber.
Droht also wirklich ein Crash? Was tatsächlich passiert, wenn das bankrotte Griechenland zur Drachme zurückkehrt oder – wie etwa der ungarisch-amerikanische Investor George Soros vorschlägt – gleich die maroden Peripherieländer Griechenland, Portugal und Irland gemeinsam aus der Währungsunion austreten sollten, ist nicht absehbar. Die Mehrheitsmeinung der Ökonomen, Kommentatoren und Politiker sieht im Fall solcher europäischer Scheidungen langfristig den Beginn des Endes der EU, eine Entwicklung, die nicht ohne gewaltige ökonomische Verwerfungen vor sich ginge. Die Europäischen Länder würden sich wieder gegeneinander abschotten, das Wiederaufleben radikaler Nationalismen wäre die Folge.
Jacques Delors hält das Auseinanderbrechen der Euro-Zone für unwahrscheinlich: „Das wäre zu teuer, ich denke, dass dieses Risiko niemand eingehen wird.“ Und er hat harsche Worte für das aktuelle europäische Polit-Personal: „Die rennen herum wie planlose Feuerwehrleute, und sie glauben immer noch, alle Feuer löschen zu können. Dabei bräuchte es eine starke Zentrale in Brüssel, die den Einsatz koordiniert.“ Ein fundamentaler Umbau der EU sei dringend nötig.
Ob die Menschen jedoch bei solch einem Vorhaben mitmachen würden? Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas meint jedenfalls: „Unsere schlappen politischen Eliten“, die lieber Boulevard-Schlagzeilen folgten, als eigenständige Politik zu betreiben, „dürfen sich nicht darauf hinausreden, dass es die Bevölkerungen seien, die sich einer tiefer gehenden europäischen Einigung in den Weg stellen.“ Demoskopisch erfasste Meinungen seien nicht dasselbe wie das Ergebnis einer echten demokratischen Willensbildung der Staatsbürger. Und Habermas gibt zu bedenken: „Bisher hat es in keinem Land auch nur eine einzig Europawahl oder ein einziges Referendum gegeben, in denen über etwas anderes als über die nationalen Themen und Tickets entschieden worden wäre.“

Dafür aber, dass sich diese „schlappen politischen Eliten“ einen Ruck geben und zu einem großen Sprung in eine wirkliche politische Union ansetzen könnten, fehlen bislang die Anzeichen. Eher gewinnt man den Eindruck, Europa habe den Rückwärtsgang eingelegt und steuere in Richtung Desaster.

Der Traum vom größten Wirtschaftsraum der Welt mit über 500 Millionen Einwohnern, von einem Europa, das als globaler Player eine Rolle spielt, scheint ausgeträumt zu sein: „Ob Europa in der multipolaren Welt der Zukunft ein wichtiger Pol sein wird, wird mittlerweile von strategischen Denkern in fast allen Teilen der Welt, einschließlich der USA mit einem Fragezeichen versehen“, schreibt der deutsche Politologe Eberhard Sandschneider in seinem neuen Buch „Der erfolgreiche Abstieg Europas“. Und er zitiert den Bericht des National Intelligence Council. Darin wird Europa als Schlüsselakteur nur mehr unter ferner liefen geführt. Bis zum Jahr 2025 werde Europa „an Einfluss verlieren“, heißt es da. Selbst große EU-Staaten wie Deutschland werden nicht einmal mehr extra aufgezählt.