Das könnt ihr euch sparen!

Europa: Massenproteste gegen das Sparen

Europa. Massenproteste gegen Sparen: Wie lange können die Regierungen dem Volkszorn standhalten?

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Ein Meer roter Fahnen in den Pariser Straßen, geballte Fäuste, wütende Sprechchöre, Polizeiabsperrungen. Die Szenerie ist dieselbe wie im vergangenen Mai, als die französischen Sozialisten gegen die verhasste Sparpolitik des konservativen Gaullisten Nicolas Sarkozy in die Schlacht zogen. Auch die Plakate sind dieselben: „Für ein solidarisches Europa, nein zum Sparen“, steht darauf.

Nur: Sarkozy ist nicht mehr Präsident. Mittlerweile ist ausgerechnet derjenige der Adressat des Zorns, der versprochen hatte, alles anders zu machen: Staatspräsident François Hollande – oder: „Sarko light“, wie die Demonstranten ihn nennen. Er hat dem europäi­schen Fiskalpakt zugestimmt, der in ein Vertragswerk gegossenen Austeritätspolitik für Europa. Im Wahlkampf hatte er beteuert, dem Pakt in dieser Form die Unterschrift zu verweigern.

Marie-Angel, 24-jährige Politologiestudentin, ist aus Limoges in die Hauptstadt gereist, um mit Zehntausenden anderen zu demonstrieren: „Ich sage Nein zu einem Europa der Banken. Es reicht. Die Regierungen in Europa und Brüssel werden nicht umhinkönnen, auf die Straße zu hören.“ Der Aufstand gegen den europäischen Sparkurs hat nach Griechenland, Portugal, Spanien und Italien nun auch Frankreich erreicht.

In Paris trägt der Groll gegen den linken Präsidenten noch eher theoretische Züge. Das jüngste Sparpaket ist zwar das umfangreichste seit Langem. Die Steuererhöhungen, die von der sozialistischen Regierung zuletzt dekretiert wurden, treffen jedoch die Wohlhabenden im Land weit stärker als die breite Masse. Und auch die Kürzung von Sozialleistungen hält sich in erträglichen Grenzen. Die konservative Presse schießt mindestens so scharf gegen das Hollande-Budget – die verstärkte Besteuerung der Reichen wird als sozialistische Enteignungsmaßnahme bezeichnet – wie die Demonstranten, die einen verderblichen Rechtsschwenk jener erkennen wollen, die sie voll der Hoffnung an die Macht gehievt haben.

Ob nun sozial ausgewogen oder nicht: Hollande setzt letztlich wie fast alle EU-Regierungen auf das Brüsseler und Berliner Rezept gegen die europäische Wirtschaftskrise – sparen.

Dieser Kurs hat sich jedoch – das ist mittlerweile nicht mehr zu leugnen – als die falsche Medizin erwiesen. So habe die EU „ihr deklariertes Ziel, die Schulden zu reduzieren und den Weg zu einer ökonomischen Erholung zu ebnen, radikal verfehlt“, diagnostizierte die amerikanische Tageszeitung „New York Times“ Anfang vergangener Woche in einem Leitartikel: Die Austeritätspolitik „beschleunigt vielmehr die Entwicklung zu einer Arbeitslosigkeit auf Depressionsniveau und beschädigt das soziale Sicherheitsnetz, das gerade jetzt so dringend benötigt wird“.

Was in Frankreich noch teils als ideologische Ranküne und teils als Angst vor einer ungewissen Zukunft daherkommt, ist im Süden Europas inzwischen für immer mehr Menschen bittere Realität jenseits aller Ideologien geworden. Die Betroffenen setzen sich immer entschlossener zur Wehr.

„Wir haben Hunger!“
, schreien die Rentner in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon, deren Pensionen im Zuge des zuletzt durchgebrachten Sparpakets auf 420 Euro im Monat reduziert wurden. Nicht minder dramatisch ist die Situation der Erwerbstätigen, die beklagen, dass sie kaum noch über die Runden kommen: Das Durchschnittseinkommen ist seit Beginn der Krise 2008 um 40 Prozent gesunken. Hunderttausende gehen seit Mitte September auf die Straße. Sie wollen nicht länger die „Musterschüler“ unter den maroden europäischen Staaten sein.

Über Monate und Jahre haben sie die Angriffe auf ihren Lebensstandard geschluckt. Als aber die konservative Regierung von Passos Coelho beschloss, die Sozialabgaben der Arbeitgeber von 24 auf 18 Prozent zu senken und gleichzeitig jene der Arbeiter von 11 auf 18 Prozent zu erhöhen, war es mit der Einsicht in angebliche Notwendigkeiten zu Ende: Das roch dann doch zu sehr nach einem direkten Transfer von Arm zu Reich.

Wie vor 38 Jahren, als die Portugiesen die Salazar-Diktatur in der „Nelken-Revolution“ zum Einsturz brachten, skandieren sie auch heute den Slogan „O povo unido jamas sera vencido“ (Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden). Und wieder stecken sich Hunderttausende rote Nelken ans Revers.

Die Regierung bleibt zwar bei ihrem radikalen Sparkurs, die massivsten Sozialkürzungen musste sie aber fürs Erste zurücknehmen. Generalstreiks sind für die kommenden Wochen angekündigt.

Wir erleben einen südeuropäischen Flächenbrand. Am klarsten zeigt sich in Spanien, in welchen Teufelskreis die verordnete Austerität die Wirtschaft treibt: Als 2008 eine gewaltige Immobilienblase platzte, gingen Millionen Jobs verloren, Steuereinnahmen und Konsum brachen ein. Der Staat musste Kredite in Milliardenhöhe aufnehmen, um die Pleitebanken zu retten. Der Versuch, durch Sparbudgets eine Trendumkehr zu bewirken, konnte nur scheitern, das Elend in der Bevölkerung nur verschärfen. Mehr als jeder vierte Spanier ist mittlerweile ohne Job. Bei den unter 25-Jährigen liegt die Arbeitslosenrate gar bei rund 53 Prozent.

Dennoch hält Premier Mariano Rajoy an seiner Politik fest: Rund 40 Milliarden Euro plant Spaniens konservativer Regierungschef 2013 an Einsparungen – und will damit jene dieses Jahres noch um zehn Milliarden übertreffen. Die Protestbewegung breitet sich aus und radikalisiert sich. Da floss auch schon mal Blut.

Die Bilder von gewalttätigen Massendemonstrationen ließen sogar die Börsen erzittern. Die Kurse stürzten Anfang der vergangenen Woche kurzfristig ab.

Nicht nur die sozialen Spannungen werden von Tag zu Tag explosiver, in Spanien droht auch die nationale Einheit zu zerbrechen. Die konservative Regionalregierung Kataloniens lehnt sich gegen die Parteifreunde um Premier Rajoy und die „Madrider Finanzdiktatur“ auf: Für Ende des Jahres plant Barcelona ein Referendum, bei dem über nichts Geringeres als die staatliche Unabhängigkeit dieser reichen Provinz abgestimmt wird. In den Umfragen spricht sich eine große Mehrheit für die Sezession aus.

Der Aufstand gegen das europäische Krisenmanagement ist längst nicht mehr nur die Sache wütender Studenten, Arbeitsloser und Geringverdiener. So kam die spektakulärste Protestaktion der vergangenen Woche von einem Unternehmer: Marcello De Finizio, der Besitzer einer Badeanstalt in Triest, verbrachte eine Nacht lang auf der Kuppel des Petersdoms in Rom. „Hilfe!“, stand auf einem überdimensionalen Transparent. „Genug von Monti, genug von Europa und den multinationalen Konzernen. Ihr bringt uns alle um.“ Italiens Premier Mario Monti bekommt es wegen seines Sparkurses nun auch mit dem italienischen Rechnungshof zu tun. Dieser bezeichnet die drastischen Rationalisierungsmaßnahmen Montis als „nutzlose Therapie“ und als „Kurzschluss“.

Patient Nummer eins der Krise in Europa bleibt jedoch Griechenland. Zwar ist das Gerede vom Rauswurf der Hellenen aus der Eurozone weitgehend verstummt. Am Konzept der Gesundung durch radikale Einschnitte will die Troika – Vertreter der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank – freilich festhalten, und das, obwohl die soziale Lage der Griechen bereits apokalyptische Züge annimmt. Das Land steuert in voller Fahrt auf das sechste Jahr der Rezession in Folge zu. Nach einem voraussichtlichen Minus von fast sieben Prozent in diesem Jahr rechnet das Finanzministerium in Athen für 2013 mit einem weiteren Absacken der Wirtschaft um vier Prozent.

Der griechische Staat ist so sehr mit dem Einsparen beschäftigt, dass kaum noch öffentliche Aufträge an Unternehmen vergeben werden. Mit dem Ruf „Wir haben seit sechs Monaten kein Geld bekommen, wir verelenden!“ stürmten am Donnerstag vergangener Woche 150 Arbeiter und Angestellte einer Werft, die hauptsächlich für die griechische Armee produziert, das Gelände des Verteidigungsministeriums. Es kam zu blutigen Ausein­andersetzungen mit der Polizei.

Der bankrotte Staat verliert zusehends die Kontrolle über die Gesellschaft. Chaos und Gesetzlosigkeit breiten sich aus. Die Partei mit dem Namen „Goldene Morgenröte“, eine veritable faschistische Gruppierung, wird immer populärer. Ihre schwarz gewandeten Bürgerwehren attackieren Ausländer und gerieren sich als Beschützer der Einheimischen. Würde heute gewählt, die Rechtsradikalen wären die drittstärkste Partei im Land.

Premier Antonis Samaras verglich vergangenen Freitag in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ die Situation in seinem Land mit der Weimarer Republik: Der Zusammenhalt der Gesellschaft sei „gefährdet“.

Noch wirken Berichte aus dem europäi­schen Süden über Elend und Wut, über Zerfall und Aufruhr für den Norden des Kontinents wie Erzählungen aus einer exotischen Region. Noch sind Länder wie Deutschland und Österreich von der Krise weitgehend verschont.

Aber wie lange noch?

So furchtbar die Perspektiven erscheinen mögen, ganz ohne positive Resultate ist der Sparkurs auch wieder nicht. Darauf wies etwa der ehemalige polnische Finanzminister und Zentralbankchef Leszek Balcerowicz kürzlich in einem profil-Interview hin (profil 27/2012): Ohne drastische Lohnkürzungen würden die Südländer nie und nimmer konkurrenzfähig werden, argumentierte er. Durch die jüngsten Exportzahlen mag sich Balcerowicz bestätigt fühlen: In Portugal stiegen die Ausfuhren im ersten Halbjahr 2012 um neun Prozent, in Griechenland immerhin um 4,3 Prozent. Auch das Handelsbilanzdefizit reduziert sich in allen europäischen Krisenstaaten rasant.

Skepsis ist freilich angebracht. Die Handelsbilanzdefizite schrumpften vor allem deshalb, weil der Konsum im eigenen Land eingebrochen ist. Und der sprunghafte Anstieg der Exportquoten liegt nicht zuletzt daran, dass Staaten wie Griechenland und Portugal bislang nur sehr wenig exportierten.

Europa befindet sich insgesamt jetzt bereits in einer Rezession. Das Wirtschaftswachstum stabiler Länder wie Deutschland, Österreich und Holland kann den Einbruch in Südeuropa nicht mehr ausgleichen. Die Wirtschaft ist in der gesamten Eurozone bereits im zweiten Quartal 2012 um 0,2 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 11,4 Prozent auf einem neuen Rekordniveau. Und selbst in Deutschland brechen Exporte, Produktion und Industrieaufträge ein. Die bisher so robuste deutsche Ökonomie befindet sich auf dem Weg in die Rezession, befürchten die Wirtschaftsforscher.

Und plötzlich ist auch dort – wenn auch noch zaghafter – Protest zu spüren. Vorvergangenes Wochenende gingen immerhin Zehntausende in 40 Städten der Bundesrepublik mit dem Schlachtruf „Umfairteilen“ auf die Straße.

Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Italien: Können die Bewegungen gegen die europäische Sparpolitik tatsächlich etwas bewirken? Sind sie echte Protagonisten in der europäischen Tragödie oder nur Statisten? Und können die europäischen Regierungen dem Druck der Straße standhalten?

Ja, sie können – glaubt zumindest Nicole Doerr, die an der Universität Harvard zum Entstehen grenzüberschreitender politischer Bewegungen forscht. Das Problem der Protestbewegung sei, dass sie ihre Anliegen noch als national betrachtet und nicht als gesamteuropäisch. „Den EU-Bürgern ist nicht klar, dass sie selbst die Politik der EU machen und ändern können.“ Das bestätigt auch der Chef des Europäischen Gewerkschaftsbundes, Ignacio Fernández Toxo, im profil-Interview. Als die Krise 2009 virulent wurde, „agierten Regierungen und Gewerkschaften nationalistischer denn je“. Nun versuche man ganz bewusst, den Widerstand auf kontinentaler Ebene zu koordinieren und zu organisieren.

Für Elena Panaritis, griechische Parlamentsabgeordnete der sozialistischen Pasok und ehemalige Mitarbeiterin des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, sind die aktuellen Unruhen nur ein Anfang. „Die Demonstrationswelle, die wir jetzt in Südeuropa erleben, wird sich auf ganz Europa ausbreiten“, sagt die Politikerin. Sie sieht den Kontinent auf dem direkten Weg in den Abgrund, sollte die bisherige Krisenpolitik beibehalten werden: „Es wird absolutes Chaos herrschen. Bürgerkriege werden ausbrechen.“

Ganz so dramatisch, wie die griechische Politikerin fürchtet, wird es wohl nicht werden. Recht gelassen sieht inzwischen der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer die Situation. Im Rückblick attestiert er der europäischen Politik ein großes Maß an Flexibilität und Lernfähigkeit: Fast alle Austeritätsdogmen, die vor allem von Berlin formuliert und forciert wurden, seien gefallen, argumentiert Fischer.

Die Liste der unter dem Druck der Verhältnisse gebrochenen Tabus ist tatsächlich lang. Die Europäische Zentralbank kauft entgegen ihren eigenen Regeln massenhaft Anleihen der maroden Staaten; das Verbot, dass EU-Staaten andere vor der Pleite bewahren, ist mit den vielfachen Rettungsfonds längst aufgeweicht worden; in vielen Bereichen wird eine einst strikt abgelehnte gemeinsame Wirtschaftspolitik betrieben. Auch die Rhetorik hat sich grundlegend geändert: Waren die Griechen zu Beginn der Krise etwa noch die faulen Verschwender, die selbst zusehen müssten, wie sie aus dem Schlamassel kämen, so zeigt sogar die deutsche Bundeskanzlerin inzwischen Mitgefühl: Ihr „blutet das Herz“ angesichts der Rentenkürzungen, welche die Griechen in Kauf zu nehmen haben.

An dem Dogma, dass nur schmerzhaftes Sparen aus der Krise herausführt, wird bisher trotzdem nicht gerüttelt. Und das dürfte auf absehbare Zeit noch so bleiben. Was die Demonstrationen aber wahrscheinlich bewirken: Sie können die Doktrin ein wenig aufweichen. Den Regierungen und den EU-Politikern wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als unter dem Druck der Straße den Krisenländern mehr Zeit zu geben, ihre Haushalte zu sanieren und die Rationalisierungen sozial gerechter zu gestalten. „Was fehlt, ist eine europäische Wachstumsstrategie“, sagt Joschka Fischer und ist überzeugt: „Die immer stärker werdenden Unruhen machen eine derartige Strategie unvermeidbar.“

Georg Hoffmann-Ostenhof