Europa ist Asiatin

Europa ist Asiatin

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Seinen Namen bezieht unser Kontinent von einer schönen Prinzessin aus Tyros, die Göttervater Zeus – in Gestalt eines Stiers – übers Meer nach Kreta entführt und dort mit ihr die ersten Europäer zeugt. Geht es also nach der griechischen Mythologie, haben wir alle asiatische Wurzeln und sind MigrantenInnen der x-ten Generation, die sich jetzt Sorgen darüber machen, ob ein erfolgreiches Gesellschaftsmodell, die EU, Schaden nimmt durch die Integration einer vorwiegend asiatischen, muslimischen Gesellschaft.

Die europäische Integration: Das war von Anfang an ein kulturell-zivilisatorisches Friedensprojekt. Das darniederliegende Nachkriegs-Deutschland sollte eingebunden werden in ein wirtschaftliches Kooperationsprogramm, die Erbfeinde zweier Kriege sollten durch gemeinsame Integration und Wohlfahrt keine Gewalt mehr gegeneinander anwenden. Das hat zur längsten Friedens-, Stabilitäts- und Wohlstandsphase in der Geschichte des Kontinents geführt – die eigentliche kulturelle Großtat des an Barbarei so reichen 20. Jahrhunderts.

Folgerichtig ist die Ausweitung dieses Erfolgsmodells auf benachbarte Regionen die einzige Versicherung dagegen, dass der Frieden von außen beeinträchtigt wird.
Die europäische Integration als kulturelle Errungenschaft und Versicherung gegen den Rückfall in die Barbarei: Das war am Beginn so, das war im Falle Griechenlands, Portugals und Spaniens so, das ist auch im Falle Osteuropas so.

Es gibt nun erstmals ein überzeugendes europäisches Konzept gegen jenes, das den Kampf der Kulturen propagiert. Amerika geht den Weg der innerkontinentalen Integration und der außerkontinentalen Separation. Europa versucht erstmals anzudenken, sein wohlfahrtsstaatliches Friedensmodell auch außerhalb kontinentaler Grenzen zu verwirklichen. Europäische Integration gegen amerikanische Separation. In Randbereichen funktioniert es ja schon: Am Eurovisions-Songcontest nimmt auch Israel teil, europäischer Fußball wird auch in Baku gespielt, aber wenn es um volle politische Teilhabe geht, stoßen wir uns noch an der „muslimischen“ Türkei.

Scheinbar rationale Argumente sind nur Vorwand: Den Konservativen geht es darum, das christliche Abendland zu retten. Dabei ist die Türkei heute ein laizistischeres Land als Österreich: Im Unterschied zum EU-Mitglied Österreich ist die Trennung von Religion und Staat bereits vollzogen. Während selbst ernannte Moralapostel mit dem Zeigefinger auf die Türkei zeigen, vergessen die meisten, dass der viel diskutierte Tatbestand des Ehebruchs in Österreich erst 1996 gestrichen wurde.

Den Populisten – in allen Parteien – geht es darum, sich vermeintlich öffentlicher Meinung anzubiedern. In Wahrheit bedienen sie lediglich Vorurteile und rufen tief sitzende Ressentiments wach: Türkenbelagerung, Gefahr aus dem Osten, zu groß, zu weit. In Ostösterreich gibt es noch in jeder kleinen Ortschaft den Türkensturz. Vergessen wird, dass das Osmanische Reich über Jahrhunderte oftmals toleranter und offener war als das häufig repressive Habsburger-Regime, dessen letzter Kaiser nun selig gesprochen wurde, als leiser Anklang an das überkommene Gottesgnadentum. Mögen die, die am Sonntag in Rom waren, nicht den Fundamentalismus in der Türkei beklagen!

Vergessen wird auch, dass es die „abendländische“ ohne die „morgenländische“ Kultur gar nicht gäbe: Daran erinnert erfreulicherweise die Frankfurter Buchmesse, die erstmals die arabische Welt als Gast geladen hat, um zu zeigen, dass die Araber das Erbe der Griechen, der Inder und der Chinesen kritisch aufarbeiteten. Auch aus dieser Sicht ist die Türkei als Verbinder beider Kulturen prädestiniert, Europa im Geiste zu erweitern.

Die Türkei ist auf dem besten Weg, sich von einem unterentwickelten muslimischen Staat über die zweite Revolution nach Atatürk zu einem „westlichen“ Staat zu verändern. Eine Dekade ist eine lange Zeit; denken wir an die rasanten Veränderungen in Osteuropa. Wer hätte der Slowakei vor zehn Jahren große Chancen gegeben? Und vergessen wir auch nicht, dass davor noch die Aufnahme Bulgariens, Rumäniens und der Nachfolgestaaten Jugoslawiens steht.

Es gilt, die Vorurteile gegen die „große Türkei“, das „Asiatische“, den „Fundamentalismus“ aus unseren Köpfen zu kriegen und mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Damit Europa mit seinen Ursprüngen Frieden schließen und seine kulturelle Großleistung weiterbringen kann.

Wenn es eine umfassende kulturelle Vision gibt, dann die der europäischen Integration.
Sie kann nur an Kleingeistern scheitern.


Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ) ist Stadtrat für Kultur und Wissenschaft in Wien.