Das Prinzip Bösartigkeit

Europa: Das Prinzip Bösartigkeit

Europa. Bösartigkeit als politisches Erfolgsgeheimnis

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Hurra, das ist doch mal eine gute Nachricht! Jahrelang hat jeder Sonntagsredner, jeder Zeitungskolumnist und jeder Polit-Augur uns Europäer damit genervt, dass der Kontinent dringend eine Idee brauche; eine Vision, der sich alle anschließen; eine Maxime, die das politische Handeln, Denken und Wollen leitet.

Da war aber nichts.

Manchmal wirkt eine Kraft lange im Verborgenen, ehe sie benannt werden kann. Manchmal benötigt die Politologie einen neuen Begriff, um zu fassen, was bis dahin unfassbar war. Und manchmal ist die Lösung viel simpler, als man vermutet hätte. Die Suche nach dieser Grundhaltung muss in der täglichen, realen Politik ansetzen, bei den Problemen und wie sie gelöst werden.

Drei Beispiele.

Ausgangssituation eins:
Wegen historischer Umwälzungen in Nordafrika flüchten in den vergangenen Wochen rund 20.000 Araber über das Mittelmeer nach Italien.

Reaktion:
Italien befördert die Flüchtlinge mittels provisorischer Papiere außer Landes. Frankreich kappt daraufhin vorübergehend die Eisenbahnlinie zwischen Ventimiglia und Nizza. Und gemeinsam arbeiten Paris und Rom an dem Plan, die Reisefreiheit im Schengen-Raum auszusetzen.

Ausgangssituation zwei:
Durch Einwanderung hat die Zahl der Muslime in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen, der Islam ist zur zweitstärksten Religion nach dem Christentum geworden. Zunehmend steigt auch die Sichtbarkeit dieser fremdländischen Kultur.

Reaktion:
Die Schweizer verbieten im November 2009 per Volksabstimmung den Bau von Minaretten.

Ausgangssituation drei:
In österreichischen Städten tauchen vermehrt Bettler aus Osteuropa auf.

Reaktion:
Die steirische Landesregierung erlässt im Februar 2011 ein Gesetz, wonach Betteln im öffentlichen Raum gänzlich untersagt wird.

All diese politischen Maßnahmen - und sie sind nur ein winziger Ausschnitt - haben eines gemeinsam: Sie orientieren sich nicht daran, ein Problem zu lösen. Die Aufkündigung oder Aussetzung der Schengen-Vereinbarung ändert gar nichts daran, dass Flüchtlinge nach Europa kommen. Das Verbot von Minaretten verhindert bestimmt keine fundamentalistischen Tendenzen im Islam. Das Betteln in der Steiermark zu verbieten verdrängt die Bettler im besten Fall aus Graz in andere Städte. Offenbar liegt der Politik also ein anderer Wert zugrunde.

Es ist die Bösartigkeit.

Das klingt absurd, denn noch nie hat sich ein Politiker oder eine Partei der Bösartigkeit gerühmt. Die Bösartigkeit hat es an sich, dass sie unausgesprochen bleibt, beschönigt und verschleiert wird - und sich dennoch zeigt. Das Beispiel des Schengen-Raums macht es deutlich: Parteien am rechten Rand, wie etwa der Front National in Frankreich, hatten seit jeher die Idee der offenen Grenzen innerhalb Europas bekämpft. Für sie ist es ein Wert an sich, Ausländern Barrieren entgegenzustellen. Die Parteien der Mitte hingegen verteidigten das Konzept der Reisefreiheit ohne Passkontrollen in 26 Staaten. Nun aber stellt Staatspräsident Nicolas Sarkozy dies infrage. Jeder weiß, dass die 20.000 Flüchtlinge nicht aus Europa verschwinden, nur weil man Schengen außer Kraft setzt. Doch allein die Ankündigung, die Grenzen wieder dichtzumachen, erfüllt das Verlangen nach Bösartigkeit - gegenüber Italien und gegenüber den Flüchtlingen.

Das ist nicht die populistische Laune eines konservativen Politikers, der für seine Wiederwahl Wähler am rechten Rand gewinnen möchte. Bei der Bösartigkeit handelt es sich tatsächlich um ein europäisches Phänomen, das den Mainstream beherrscht, rechte Parteien ebenso wie linke, und das sich über den gesamten Kontinent erstreckt. Ziel der Bösartigkeiten sind Ausländer, Muslime, Roma, Flüchtlinge und Bettler, wobei diese Liste jederzeit durch weitere Minderheiten ergänzt werden kann, die sich gerade anbieten.

Insolvente EU-Staaten zum Beispiel.
"Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!“, höhnte die deutsche "Bild“-Zeitung im Vorjahr, als die Athener Regierung die Euro-Partner um Finanzhilfe ersuchen musste, und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ließ die Bittsteller lange hängen, ehe sie schließlich doch in den Rettungsplan einwilligte. Das Beispiel machte Schule. Da Portugal der Bankrott droht, brüsteten finnische Parteien sich im Wahlkampf damit, die maroden Südländer hängen lassen zu wollen. Die "Wahren Finnen“, eine rechtspopulistische Partei, errangen mit dieser Haltung 19 Prozent der Stimmen und einen formidablen Erfolg. Auch die Sozialdemokraten sprachen sich teilweise gegen den Schutzschirm für Lissabon aus. Die finnische Regierungsbildung drehte sich mit einem Mal vornehmlich um die Frage, ob man die Portugiesen ihrem Schicksal überlassen solle oder nicht. Der geplante finnische Beitrag an der Portugal-Hilfe beträgt übrigens 1,8 Prozent.

Weil rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien lange Zeit ein Monopol auf Anti-EU-Propaganda, Nationalismus und ausländerfeindliche Forderungen hatten, lässt sich die Genese der meisten Bösartigkeiten von weit rechts bis in die Mitte und weiter nach links gut nachvollziehen. In Österreich etwa beschloss das Parlament vergangenen Freitag ein Fremdengesetz, das Zuwanderern bereits vor ihrer Einreise Deutschkenntnisse abverlangt. Hierzulande kam die Gesetzesinitiative von einer sozialdemokratisch geführten Koalitionsregierung; in der Schweiz wurde derselbe Vorschlag zuletzt etwa vom Vizepräsidenten der Schweizerischen Volkspartei (SVP), Christoph Blocher, formuliert: einem Rechtsausleger, der oft der Fremdenfeindlichkeit bezichtigt wird.

Blocher argumentiert ganz im Sinne der SPÖ, deren Parlamentsklub von Klubobmann Josef Cap mehrheitlich auf Linie gebracht wurde: Sprachtests seien integrationsfördernd. Dass der Besuch eines Deutschkurses vor der Einreise in manchen Gegenden dieser Welt unzumutbar aufwändig ist, kümmert kaum jemanden. Die Bedingung, bereits vor Zuwanderung Sprachkenntnisse zu erwerben, ist nichts anderes als eine bösartige Abwehrmaßnahme. So fügt sich das Gesetz in den europäischen Zeitgeist.

Schikanen gegenüber Randgruppen erfreuen sich rechts wie links steigender Beliebtheit. Schubhaft-Limits zu erhöhen, Abschiebungen zu erleichtern, die Zumutbarkeitsgrenzen für Arbeitslose zu verschärfen - all das kommt in den Umfragen gut an. Selbst der Hinweis der Caritas, dass damit "das menschenrechtliche Limit weiter ausgeschöpft“ und "diese Grenze auch überschritten werden kann“, beeindruckt die Mehrheit kein bisschen.

Um solche Grenzen zu überschreiten, bedarf es längst keiner Rechtspopulisten mehr. Die französische Regierung ließ im Sommer 2010 Angehörige der Minderheit der Roma - und damit Staatsbürger der EU - deportieren und beschloss danach ein Gesetz, das es ermöglichen sollte, Bewohner "illegaler Lager“ (gemeint waren natürlich nur die Roma) ohne richterlichen Beschluss zu delogieren. Das Gesetz wurde vom Verfassungsgericht aufgehoben.

Rechtsaußenpolitiker wie Marine Le Pen, Heinz-Christian Strache oder Geert Wilders haben inzwischen Mühe, sich mit ihren Forderungen von der konservativ-sozialdemokratischen Mitte abzuheben. Kopftuchverbot, Burkaverbot, Minarettverbot, Bettelverbot sind keine Tabuthemen mehr.

Auch rhetorisch herrscht europaweit ein politischer Schulterschluss. "Kaum sind sie eingebürgert, werden sie kriminell“, sagt Christoph Blocher über Zuwanderer. "Geht die Einwanderung ungebremst weiter wie bisher, kommen wir nicht um den Bau neuer Atomkraftwerke herum“, ergänzte sein Parteichef Toni Brunner wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. "Wogegen wir uns sträuben werden bis zur letzten Patrone“, sei die Gefahr, "dass wir eine Zuwanderung bekommen in die deutschen Sozialsysteme“, donnerte wiederum der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). Und der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin darf nach anfänglich großer Aufregung um sein Buch "Deutschland schafft sich ab“ nun doch weiterhin Parteimitglied bleiben. "Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar“, heißt es dort etwa.

Ein Parteiausschlussverfahren wurde vergangene Woche zur beiderseitigen Zufriedenheit beendet - ohne Rauswurf Sarrazins. Wer so herzhaft über Sozialschmarotzer, Zuwanderer und Muslime herzieht wie der Ex-Bundesbanker, ist für die SPD im Superwahljahr offenbar unverzichtbar.

Glaubhafte Bösartigkeit hat im politischen Geschäft heute größere Bedeutung als jedes noch so pathetische Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Denn Öko-, Energie- oder Klimaprojekte brauchen Jahre, ehe sie Wirkung zeigen. Eine Verwaltungsstrafe für einen Bettler, eine vorübergehend festgenommene verschleierte Muslimin, ein Flieger voll abgeschobener Deutsch-Unkundiger zeitigen unmittelbare Effekte.

Woher kommt der Drang nach der neuen Bösartigkeit? Wie bahnte sie sich den Weg vom verschämt unterdrückten Trieb zum politischen Konzept?

Nie zuvor in der Geschichte gab es eine Phase, in der Europa über einen so langen Zeitraum konfliktfrei und wirtschaftlich erfolgreich war wie in den sechs Jahrzehnten seit 1945.

Das reale Wirtschaftswachstum lag mit ganz wenigen, krisenhaften Ausnahmen verlässlich bei zwei Prozent und mehr pro Jahr; die Arbeitslosenquote im Durchschnitt der EU-27 blieb mit rund acht Prozent nicht unbedingt niedrig, aber ohne erkennbare Tendenz nach oben.

Eine ganze Reihe von Zuwanderungs- und Flüchtlingswellen hat der Kontinent zunächst ohne größere Probleme bewältigt. Das soziale Netz ist zwar deutlich belastet, doch es hält - und kann, entsprechende Maßnahmen vorausgesetzt, auch weiterhin halten.

Dennoch hat sich überall auf dem Kontinent ein diffuses Unwohlsein ausgebreitet, das teils depressive, teils aggressive Züge trägt und das auch erklärbar ist.

Zum Beispiel dadurch, dass die Zeit des scheinbar unaufhaltsamen wirtschaftlichen Aufstiegs, der mit einem ständigen Ausbau der sozialen Leistungen einherging, mittlerweile eindeutig vorbei ist. Inzwischen sind die Gesellschaften Westeuropas vorwiegend damit beschäftigt, ihren Wohlstand zu verteidigen oder ihren Abstieg zu bremsen - in der begründeten Befürchtung, dass der Generationenvertrag in Auflösung begriffen ist: eine psychologisch fatale Situation, die das Entstehen von Abwehrhaltungen begünstigt.

Gleichzeitig öffnet sich die soziale Schere immer weiter. In Deutschland etwa zählten nach Definition des Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bis zum Jahr 2000 mehr als 60 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht. 2006 waren es nur mehr 54 Prozent. Ein Viertel der Deutschen gehört inzwischen zu den Beziehern geringer Einkommen, während die höchsten Bezüge der reichsten neun Prozent weiter gestiegen sind - eine Situation, in der sich die psychologische Binsenweisheit bewahrheitet, dass die Zufriedenheit von Gesellschaften maßgeblich davon abhängt, ob es ihren Mitgliedern in etwa gleich gut oder gleich schlecht geht.

Entscheidende politische Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte sind der Abstieg der Nationalstaatsidee zugunsten der supranationalen Europäischen Union bei gleichzeitiger Massenmigration. Grenzen, die einst Völker, Religionen und Wirtschaftsräume, aber auch Mentalitäten und Identitäten voneinander trennten, verschwanden.

Flüchtlinge, Armuts- und Arbeitsmigranten drängten vom Balkan, dem Nahen Osten, aus der Türkei, Zentralasien, Afrika und den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion nach Europa. Millionen von Zuwanderern aus aller Welt veränderten die europäischen Identitäten. Widerstand regte sich erst gegen "die Ausländer“ und seit den Anschlägen des 11. September 2001 gegen die Muslime.

Was hinzukommt, ist wohl das Gefühl, einer überstrapazierten Solidaritätserwartung ausgesetzt zu sein: von Hilfsbedürftigen in aller Welt bis hin zu den staatlichen Pleitekandidaten innerhalb der EU.

Diese Gemengelage weckt in breiten Schichten der Bevölkerung offenbar Abwehrhaltungen gegenüber Randgruppen. Doch weil es nicht gelingt, die Zuwanderer wieder zu verscheuchen, die Muslime zu christianisieren und die Armut einfach verschwinden zu lassen, suchen sich die aufgestauten Frustrationen ein Ventil.

Dieses Bedürfnis ist in der Geschichte der Menschheit nicht neu. Neu hingegen ist in der jüngeren Geschichte Europas, wie leichtfertig sich auch die Politik der so genannten Mitte zum Erfüllungsgehilfen seiner kurzfristigen Befriedigung machen lässt - durch ostentative Gemeinheit gegen die Sündenböcke. Die Maßnahmen, die ihnen auferlegt werden, haben oft nur ein Ziel: das vermutete Bedürfnis der Mehrheit nach "Härte“ gegen die vermeintlich Verantwortlichen für die allgemeine Unzufriedenheit zu befriedigen, egal ob das irgendeinen Sinn ergibt oder nicht.

Die Bösartigkeit ist politisch kalkuliert. Sie lohnt sich - vielleicht sogar finanziell. Ein Bericht, den dänische Ministerien im Auftrag der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei erstellten, kommt zu dem Schluss, der Staat habe in den vergangenen zehn Jahren durch verschärfte Zuwanderungsgesetze umgerechnet 6,7 Milliarden Euro gespart. So viel hätte die Versorgung der Migranten aus nicht westlichen Ländern gekostet, deren Einwanderung verhindert werden konnte.

Die Rechnung stimmt nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten hat sie einen Haken. Mit einer Politik stetig verschärfter Schikanen würde Europa seine wesentlichen Assets verlieren: die Attraktivität, die es bisher weltweit ausstrahlt, und auch seine Glaubwürdigkeit als Soft Power - als Weltmacht, deren Einfluss weniger auf militärischer als auf moralischer Stärke beruht. Stattdessen stünde der alte Kontinent womöglich bald im Ruch, seinen Lebensstandard auf Niedertracht und mutwilliger Diskriminierung aufzubauen.

Wie sieht das europäische Selbstbild aus?
Eine Mischung aus Le Pen, Sarkozy, Sarrazin, Strache, Fekter, Cap? Falls sich das jemand vorstellen möchte.

Wie wird die Welt auf Europa blicken? Wäre der alte Kontinent noch ein gefragter Bündnispartner? Wie werden sich Produkte aus Europa am Weltmarkt verkaufen?

Was wird aus der EU, wenn der nationalistische Eigensinn alle gemeinsamen Projekte zerfressen hat?

Am Ende der Bösartigkeit wartet ein böses Erwachen.