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Europa: Die Nervensäge

Die Nervensäge

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Über die Schlagzeilen österreichischer Zeitungen zum Transitdebakel schüttelte vergangenen Donnerstag ein Gast im Wiener Café Griensteidl verwundert den Kopf. Der drahtige Belgier gilt als einer der Väter des 1992 vereinbarten Transitvertrags, der am Silvestertag wohl ersatzlos auslaufen wird. „Es war doch gar nicht so schlecht, was damals ausgehandelt wurde“, erklärt der ehemalige EU-Verkehrskommissar Karel Van Miert im Gespräch mit profil.

Den Einwand, dass die dauerhafte Senkung der Abgase um 60 Prozent aus österreichischer Sicht nicht erreicht wurde, lässt Van Miert nicht gelten. Das Ökopunktesystem habe immerhin dazu geführt, dass durch Österreich überwiegend moderne, abgasarme Lkws fahren.

Auf die Frage, warum die EU Österreich nur ein schwaches Angebot zur Verlängerung des Abkommens machte, geht der flämische Sozialist zum Gegenangriff über: „Österreich hat die im Transitvertrag eingegangenen Verpflichtungen leider nicht eingehalten.“ So sei die Bundesregierung beim versprochenen Ausbau der Bahnstrecken säumig geblieben. „Und beim Brenner-Tunnel ist man noch nicht einmal mit den Planungsarbeiten fertig“, tadelt Van Miert. „Man kann nicht immer nur Forderungen an die EU-Partner stellen und selber untätig bleiben.“

Das Transitdebakel hat in Österreich eine Welle der patriotischen Empörung ausgelöst, wie sie seit der Verhängung der Sanktionen gegen die schwarz-blaue Regierung im Jahr 2000 nicht mehr zu registrieren war. „Österreich wehrt sich“, titelte die „Kronen Zeitung“. „Gute Nacht Österreich: Lkw-Lärm rund um die Uhr“, warnte der „Kurier“ und rief zur „nationalen Gegenwehr“ auf.

Schon kündigten Nordtiroler Schützenverbände martialisch Aufmärsche auf der Brennerautobahn gemeinsam mit den Kameraden aus Südtirol an. Erboste Landeshauptmänner forderten die Bundesregierung zur Klage beim Europäischen Gerichtshof auf. Gorbach sagte dies beim Transitgipfel am vergangenen Freitag auch zu.

Klein gegen Groß. Österreich wieder ganz allein im Kampf gegen die böse EU? Wie schon bei der Verhängung der Sanktionen im Februar 2000 steht es neuerlich 14:1. Und die Europaskepsis in Österreich ist laut Meinungsforschern wieder dramatisch angewachsen. Anlässe dafür gab es zuletzt gleich in Serie: Da tobte der von der „Kronen Zeitung“ geschürte Volkszorn, weil die EU die heiß geliebte „Marmelade“ nur noch als „Konfitüre“ zulassen will. Unter den Frühstückstisch fiel dabei jedoch, dass heimische Erzeuger schon seit vielen Jahren ohnehin nur mehr den Begriff „Konfitüre“ auf ihre Produkte drucken lassen und Österreichs Regierung gar keine Sonderregelung in Brüssel beantragte.

Der von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel angeführte „Zwergenaufstand“ kleinerer Länder für den eigenen Kommissar in der erweiterten Union spielte bewusst mit der Angst vor einem Direktorium der Großen.

Dass die kleineren EU-Länder sparen müssen, während große wie Deutschland und Frankreich ungesühnt den Stabilitätspakt verletzen dürfen, passt da nur zu gut ins Bild. Finanzminister Karl-Heinz Grasser forderte gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus den Niederlanden, Spanien und Finnland Sanktionen gegen die Defizitsünder Deutschland und Frankreich, wurde aber vergangene Woche im Ecofin-Rat überstimmt. Wenig später wurde er freilich auch von der eigenen Regierung zurückgepfiffen. Anlässlich seines Besuchs bei Kanzler Gerhard Schröder in Berlin sprach sich Schüssel – um Entkrampfung der Beziehungen zwischen Wien und Berlin bemüht – vergangenen Donnerstag für Änderungen beim Stabilitätspakt aus.

„Es gibt derzeit ein starkes Gefühl, dass in der EU Kleine von Großen dominiert werden und Europa zu heterogen ist, um wirklich zusammenzuwachsen“, sagt Andreas Kirschhofer vom Umfrageinstitut IMAS. „Aber von einem Austritt will kaum jemand etwas wissen.“

Dafür machen die Österreicher mit Schimpfen auf ominöse Drahtzieher in Brüssel ihrem Ärger Luft. FPÖ-Klubobmann Herbert Scheibner rief bereits offen zum Widerstand auf. Bisher sei Österreich in Brüssel immer nur als Musterschüler aufgetreten, das müsse sich jetzt ändern. „Österreichs Außenpolitik braucht andere Strategien gegenüber Brüssel“, erklärte er trotzig, ganz so, als würde Österreich der EU gar nicht vollwertig angehören.

Reflexartig drohte Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider wieder einmal mit einem Veto gegen die Osterweiterung. Am kommenden Donnerstag findet im Nationalrat die Abstimmung über die Beitrittsverträge der zehn neuen Mitgliedsländer statt. Es ist nicht auszuschließen, dass einige FPÖ-Abgeordnete mit Nein stimmen werden.

Vetodrohungen sind in der EU keineswegs ungewöhnlich. Aber allmählich beginnt Österreich seine alten und neuen Partner damit nachhaltig zu nerven. Grund: Niemand glaubt mehr, dass diese Vetokeule tatsächlich zum Einsatz kommt, weil sie letztlich auch Österreich treffen würde.

Insofern kommt der Regierung der Volkszorn gegen die EU durchaus gelegen. Denn drei Jahre nach Aufhebung der Sanktionen macht das Kabinett Schüssel II noch immer schwere Fehler im Umgang mit den EU-Partnern. So wurde in der Transitfrage verabsäumt, rechtzeitig Verbündete zur Durchsetzung der Forderungen zu suchen. Während andere kleine EU-Länder Interessengemeinschaften schließen, blieb Österreich – mit Ausnahme des Kampfes um den eigenen Kommissar – isoliert.

Vizekanzler und Verkehrsminister Hubert Gorbach räumt Versäumnisse seitens der Regierung unverhohlen ein. „Wir haben zu wenig erkannt, wie Lobbying in der EU abläuft. Dass man sich rechtzeitig Freunde suchen muss, dass man Deals ausmachen muss. Nach dem Motto: Ich stimme dir da zu, du stimmst mir dazu“.

Zu hoch gepokert. „Hat Österreich keine Freunde mehr?“, fragte „Die Presse“ bang und ortete einen „generellen Aufholbedarf bei seinem Lobbying in der EU-Kommission und bei den großen europäischen Partnern“.

Das jahrelange Ringen um den Lkw-Transitverkehr ist ein Musterbeispiel für ungeschicktes Agieren österreichischer Politiker auf europäischer Ebene.

Ausgehandelt wurde der Vertrag 1992, als Österreich zwar schon sein Beitrittsgesuch in Brüssel abgegeben hatte, aber noch nicht EU-Mitglied war. Der Schönheitsfehler war von Anfang an eingebaut: Nur die Transit-Lastwagen sollten weniger Abgase ausstoßen, die heimischen Lkws blieben bis heute von ähnlichen Auflagen verschont.

Nur mit Mühe gelang es 1994 dem damaligen Verkehrsminister Viktor Klima, den Transitvertrag in den Beitrittsprotokollen zu verankern. Er musste dafür ein Jahr von der ursprünglich vereinbarten Geltungsdauer bis Ende 2004 opfern. Die von Klima verlangte Nachfolgeregelung für den Fall, dass die Abgasreduktion nicht eintreten sollte, ließ sich nicht durchsetzen. Für die EU-Mitgliedsländer war der freie Warenverkehr als Eckpfeiler des neu geschaffenen grenzenlosen Binnenmarktes der höhere Wert als Rücksicht auf sensible Alpenzonen.

Aber anders als die Schweiz, die selber zwei neue Alpentunnels finanziert, blieb Österreich beim versprochenen Ausbau der Eisenbahnstrecken bis heute säumig.
Die Hauptschuld am Transitdebakel trägt Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Nach Anfangserfolgen, als es ihm gelungen war, den EU-Staats- und Regierungschefs die prinzipielle Zustimmung zu einer Nachfolgeregelung für das Transitabkommen abzuringen, pokerte er einfach zu hoch.
Ende 2002 hatte er das dänische Kompromissangebot, das nur die saubersten Lkws der modernsten Euro-4-Klasse von der Ökopunktepflicht ausnehmen wollte, abgelehnt. Beim EU-Gipfel in Kopenhagen, wo die historische Erweiterung beschlossen wurde, wollte sich niemand mit österreichischem Kleinkram wie Transit oder Temelin beschäftigen. Schüssel kehrte mit leeren Händen heim und lehnte darauf auch den „Silvesterkompromiss“ ab.

Damit löste er eine Kettenreaktion aus. Das Europaparlament verabschiedete in der Folge eine weit nachteiligere Transitlösung, peinlicherweise mit großer Zustimmung der Abgeordneten der Europäischen Volkspartei. Die Folge: Das mühsame Vermittlungsverfahren zwischen Rat und EU-Parlament begann. Schüssels Lobbying-Versuche bei seinem „Forza Wolfgang“-Freund Silvio Berlusconi blieben ohne Erfolg. Auch Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber wollte oder konnte Schüssel nicht helfen.
„Es ist für uns Bayern schwer einsehbar, warum man auf eurer Westautobahn Ökopunkte bezahlen muss und ab Freilassing oder Passau freie Fahrt herrscht“, meinte dazu der CSU-Abgeordnete Markus Ferber.

Nach Murphy’s Law ging am Ende fast alles schief: Wenige Tage vor der entscheidenden letzten Sitzung im EU-Parlament wurde Österreich vom EU-Höchstgericht in Sachen Ökopunkte verurteilt, mit dem blamablen Hinweis, dass Österreich bei der Zählung von Transitfahrten schummle.

Niederlage in Brüssel. Die endgültige Niederlage Österreichs erfolgte am Dienstag vergangener Woche im fünften Stock des G-Büroturms des Europaparlaments in Brüssel. Der Vermittlungsausschuss zwischen EU-Rat und EU-Parlament hatte knapp vor Mitternacht einen Beschluss zur Verlängerung des Ökopunktesystems um längstens drei Jahre gefasst. Da für die moderneren Lkws aber ab 2004 freie Fahrt durch Österreich gelten soll, würde das Ökopunktesystem nur mehr für ein Drittel der jetzt durchfahrenden Lkws gelten, rechnete Gorbach vor. „Das wäre dann nur ein teures Zählsystem ohne jede Wirkung, eine ökologische Bankrotterklärung.“

Noch ist unklar, ob die EU-Partner die Nachfolgeregelung ohne Zustimmung der Österreicher durchsetzen werden. Aber selbst bei der geplanten EU-weiten Maut („Wegekostenrichtlinie“) werden alte Fehler wiederholt. Bis heute gibt es keine klare österreichische Position in dieser Frage. Der Europa-Abgeordnete Hans Kronberger (FPÖ) hat im Umweltausschuss des EU-Parlaments als Berichterstatter umfangreiche Änderungen verlangt: Lkw-Beschränkungen würden demnach nicht nur in sensiblen Alpentälern erlaubt sein, sondern auch in Ballungsgebieten und im Flachland: „Dann ist ganz Österreich eine sensible Zone“, witzelte ein deutscher Kollege.

EU-Verkehrskommissarin Loyola de Palacio verwies darauf, dass Österreich mit der neuen Transitregelung als einziges EU-Mitglied das Privileg habe, weiterhin den Schwerverkehr auf dem gesamten Territorium einzuschränken. Weiterer Vorteil der von Gorbach abgelehnten Regelung: Ab 2004 könnten auch abgasreiche Lastwagen aus den neuen Mitgliedsländern durch das Ökopunktesystem beschränkt werden.

Der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Lorenz Fritz, riet bereits zu einer Annahme des Vorschlags. „So schlecht ist das eigentlich nicht, was uns da angeboten wurde.“

Auch aus der Wirtschaftskammer kamen Warnungen. Sollten in Zukunft mehr Lastwagen als bisher kontrolliert oder gar temporäre Fahrverbote verhängt werden, wären auch inländische Laster betroffen, zum Schaden der heimischen Wirtschaft. Auch die Höhe der neuen Lkw-Maut ab Jänner 2004 auf heimischen Straßen löste Kritik bei österreichischen Unternehmern aus: 22 Cent pro Kilometer seien zu hoch, hieß es. Und so könnte es bald passieren, dass die EU-Kommission die Maut aus diesem Grund beeinsprucht und wieder kippt.
Pikanterweise wegen Beschwerden aus Österreich.

„Diese Doppelbödigkeit ist unerträglich“, ärgert sich der frühere Vizekanzler Erhard Busek, jetzt Beauftragter für den Stabilitätspakt für Südosteuropa. „An der Niederlage im Transitstreit sind ganz allein wir selbst schuld.“ Busek macht dafür schlechtes Lobbying und Konzeptlosigkeit verantwortlich. „In dieser Frage haben wir acht Minister in wenigen Jahren verbraucht. Damit ist alles gesagt.“

Obendrein habe Österreichs Glaubwürdigkeit in der EU gelitten. „Wir sollten endlich aufhören, dauernd mit Veto zu drohen, wenn wir das ohnehin nie tun.“ Die Drohungen in Richtung neue Mitgliedsstaaten haben laut Busek nur bewirkt, „dass wir potenzielle Partner verärgert haben“.

Die Transitniederlage verstärkt antieuropäische Gefühle unter den Österreichern, fürchtet der Generalsekretär der „Gesellschaft für Europapolitik“, Gerhard Bauer. „Es wird auch die Glaubwürdigkeit unserer Politiker hinterfragt werden, weil wir den versprochenen Ausbau der Eisenbahn so vernachlässigt haben.“

Anonymer Feind. In Österreich funktioniere noch immer das Spiel der Politiker mit antieuropäischen Reflexen. „Die kommen entweder als Sieger zurück, wenn sie irgendwas für Österreich erreicht haben, oder als Verlierer gegen einen übermächtigen Gegner, der Österreich zu irgendetwas Unangenehmem zwingt“, klagt Bauer. „Es wird so getan, als wäre die EU ein anonymer Feind. Die Politiker verschweigen gern, dass in Brüssel gemeinsam entschieden wird. Das wird nicht kommuniziert.“

„Wir sind in den Zug nach Brüssel gestiegen, aber viele sind dort noch immer nicht angekommen“, brachte es EU-Kommissar Franz Fischler auf den Punkt. Paradebeispiel ist die miserable Personalpolitik bei der Besetzung von EU-Posten. Während andere Staaten großen Wert auf ein nationales Netzwerk in den Machtzentren der EU legen, ging Österreich seit 1995 eher tollpatschig vor. Zunächst wurden nur Kandidaten nach dem Parteienproporz für höhere Posten vorgeschlagen, was dazu führte, dass Österreicher für wichtigere Funktionen chancenlos blieben. EU-Beamte, die nach einigen Jahren wieder zurückwollen, werden als lästige Heimkehrer abgewimmelt. In Frankreich eröffnet gerade eine EU-Karriere daheim neue Aufstiegschancen.

Mangelhaft verläuft bisher auch die Koordination der Europapolitik unter den verschiedenen Ministerien. Kürzlich wurden zwei unterschiedliche Stellungnahmen zu einer neuen Chemikalienrichtlinie in Brüssel vorgelegt, eine kam aus dem Wirtschaftsministerium, die andere aus dem Umweltressort.