Europa: Ende für Eurovisionen

Das doppelte Nein stürzt die EU in eine Sinnkrise

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Es klang hilflos und auch ein wenig trotzig. EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner besuchte wie lange geplant vom 1. bis 3. Juni mit den Außenministern der EU-Troika hohe US-Politiker in Washington. Zum Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden über die EU-Verfassung erklärte Ferrero-Waldner im ORF, dass jetzt eine „Reflexionsperiode“ eingeleitet werden sollte. „Wir müssen schon auf unsere Bevölkerung hören.“

Doch zu Untergangsstimmung bestehe kein Anlass. „Wir funktionieren trotzdem, daher bin ich auch mit der Troika in Washington“, beteuerte die Kommissarin die Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen.

Zur gleichen Zeit befassten sich US-amerikanische EU-Experten weit kritischer mit der gegenwärtigen Verfassung Europas. Eine veritable „Revolte gegen das Establishment“ konstatierte der Politologe Charles Kupchan. US-Medien orteten gar eine „demokratische Intifada“ auf dem Alten Kontinent.

In den Brüsseler Entscheidungszentralen, aber auch in den einzelnen EU-Hauptstädten herrscht eine Mischung aus Ratlosigkeit und Verzweiflung.

Das „Non“ der Franzosen und „Nee“ der Niederländer zur neuen EU-Verfassung stürzte die Europäische Union in eine schwere Sinnkrise.

Noch nie zuvor in der 55-jährigen Geschichte der europäischen Einigung haben gleich zwei Gründungsmitglieder – und noch dazu so eindeutig – gegen eine Reform des EU-Vertrags gestimmt. 55 Prozent der Franzosen und 61,6 Prozent der Niederländer sagten Nein zu einer EU-Verfassung, die eigentlich das Funktionieren einer auf bald 27 Mitglieder erweiterten Union sicherstellen sollte.

Die EU wurde sowohl für nationale Missstände wie auch für europaweit steigende Arbeitslosigkeit und Einsparungen im sozialen Bereich abgestraft. Viele EU-Bürger wollten auch nicht glauben, dass in der EU-Verfassung genau jene Ziele verankert sind, deren Erreichung sie derzeit so schmerzlich vermissen: Vollbeschäftigung, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, hoher sozialer Standard. „Es ist schon tragisch“, erklärt der frühere Präsident des EU-Parlaments, der deutsche SPD-Politiker Klaus Hänsch, der im Konvent maßgeblich an der Ausarbeitung der EU-Verfassung mitgewirkt hat. Nie zuvor habe er einen so starken Rückzug ins Nationale erlebt wie in diesen Wochen. „Dabei kann man die Globalisierung nur als starke EU mit der Kraft von 450 Millionen Menschen beeinflussen.“

Denkzettel. Doch eine Mehrheit der Franzosen und Niederländer wollte die Gelegenheit nützen, ihren nationalen Regierungen und einer zunehmend abgehoben erscheinenden EU-Politik einen Denkzettel zu verpassen.

Daher sagten sie mehrheitlich Nein zu einer EU, die sich zunehmend von den Anliegen der Bürger entfernt, Nein zu einer Politik, die zu wenig für die Schaffung von Arbeitsplätzen tut und zunehmend ohnmächtig gegenüber den Herausforderungen der Globalisierung erscheint.

Vor allem in Frankreich spielte der Unmut über Einsparungen im sozialen Bereich eine gewichtige Rolle. Auch die von oben verordnete Arbeit am Pfingstmontag stärkte das Lager der Verfassungsgegner. Ein deutliches „Non“ kam vor allem von Bewohnern ländlicher Gebiete und Regionen, in denen veraltete Industriebetriebe zusperrten oder wo Produktionen ins billigere Ausland verlagert wurden.

In ganz Frankreich machte sich der Unmut über die geplante Liberalisierung des Dienstleistungssektors an den Wahlurnen Luft. Die Angst vor dem Zuzug billiger Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten veranlasste viele, die Karte mit dem „Non“ einzuwerfen. Der polnische Installateur wurde zum Feindbild.

In den Niederlanden waren andere Motive ausschlaggebend. Viele fürchteten den Verlust von Einfluss im erweiterten Europa. Auch die hohen Nettozahlungen der Niederlande an das EU-Budget wurde von den Aktivisten der „Nee“-Bewegung ins Treffen geführt. Sogar das schlechte Abschneiden des niederländischen Beitrags beim Eurovisions-Song-Contest in Kiew wurde mit einer Verschwörung der neuen EU-Länder erklärt. Dazu kamen – wie in Frankreich – Ängste vor Immigration und Sorge um kulturelle Eigenständigkeit.

Jetzt ist in den EU-Zentralen Feuer am Dach. Plötzlich werden schon getroffene Beschlüsse infrage gestellt: die engere Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik, die Erweiterungsschritte, die Liberalisierung der Dienstleistungen und sogar der Euro (siehe „Lahmes Pferd, totes Pferd“ im neuen profil).

Die ständigen Beteuerungen, für den Fall einer Ablehnung der EU-Verfassung keinen „Plan B“ zu haben, waren nicht, wie vielerorts angenommen, bloß taktische Aussagen, um die Dramatik zu erhöhen und an das Verantwortungsbewusstsein der Franzosen und Niederländer zu appelieren. Sie erwiesen sich als bittere Wahrheit. Der Versuch, der EU eine Verfassung zu geben, droht in einer ernüchternden Feststellung zu enden: außer Spesen nichts gewesen. Ein 15 Monate dauernder Konvent mit zahllosen Sitzungen von 110 Mitgliedern kostete zwölf Millionen Euro – und dies noch ohne Einrechnung der Gehälter für das Präsidium unter Frankreichs ehemaligem Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Diese Arbeit könnte sich nun als genauso vergeblich erweisen wie die anschließende Regierungskonferenz samt pompöser Unterzeichnungszeremonie in Rom Ende Oktober 2004.

Nur magere 1,5 Millionen Euro budgetierte die EU-Kommission heuer für die Informationsoffensive für die EU-Verfassung. Noch schlimmer war das Versäumnis der nationalen Abgeordneten, die im Konvent saßen. „Sie hätten die EU-Verfassung zu Hause kommunizieren sollen, haben dies aber nicht oder zu wenig getan“, klagt der frühere EU-Kommissar Franz Fischler.

Jetzt wird eilig nach Schuldigen gesucht. Die EU-Kommission weist jede Verantwortung für das Debakel zurück. Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der bisher immer noch nicht richtig Tritt gefasst hat und sich nach dem Bekanntwerden von Urlaubsreisen auf Kosten eines griechischen Reeders zudem mit persönlicher Kritik konfrontiert sieht, wirkt jetzt, wo Führungsstärke gefragt wäre, eher hilflos.

Der slowakische EU-Kommissar Jan Figel, zuständig für Kultur und Bildung, meint, dass die EU nun „eine Zeit der Konsolidierung“ brauche: „Oft haben Taten zu unseren Ankündigungen gefehlt.“

EU-Politiker, die glaubwürdig für europäische Ziele kämpfen, sind derzeit rar: Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder ist ebenso wie Frankreichs Präsident Jacques Chirac schwer angeschlagen. Italiens Premier Silvio Berlusconi, der Demonstranten den Stinkefinger zeigte, ist europapolitisch ein Leichtgewicht.

EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker konnte nicht einmal ein Treffen der sechs EU-Gründerstaaten zustande bringen. Er will beim kommenden Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 16. und 17. Juni in Brüssel Auswege aus der Krise finden. Dass dies so kurzfristig tatsächlich gelingen kann, gilt freilich als eher unwahrscheinlich.

Agonie. Derzeit ist völlig unklar, ob die in 15 EU-Ländern noch ausstehenden Ratifizierungen der Verfassung überhaupt noch stattfinden werden. In Großbritannien will Premierminister Tony Blair die für das Frühjahr 2006 geplante Volksabstimmung am liebsten gleich ganz absagen.

Aber auch bei den Referenden in Dänemark, Irland und Tschechien könnten Gegner der Verfassung die Mehrheit erringen. „Der Damm ist gebrochen“, meint der österreichische Meinungsforscher Peter Ulram, „der allgemeine Frust über Europa wird größer.“

Der Vorstoß von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, nun rasch die gesetzlichen Möglichkeiten zu schaffen, um ein EU-weites Referendum abzuhalten und ein solches, wo dann eine Mehrheit der Staaten und der Gesamtbevölkerung über die Verfassung abstimmen würde, auch tatsächlich abzuhalten, hat wenig Chancen auf Realisierung. Das ließ dem Kanzler unter anderem EU-Kommissar Günter Verheugen prompt ausrichten. Denn nötig wären dafür Änderungen der nationalen Verfassungen mehrerer Staaten wie etwa Deutschlands. Außerdem wollen manche EU-Mitgliedsländer das letzte Wort zu einer Änderung des EU-Grundrechts nicht aufgeben. Und schließlich wäre es realpolitisch kaum vorstellbar, dass die Regierung und die Bevölkerung in Frankreich und den Niederlanden es einfach akzeptieren würden, von einer allfälligen Mehrheit an Verfassungsbefürwortern in den restlichen EU-Staaten einfach überrollt zu werden.

„Die EU droht, in eine lang anhaltende Agonie zu verfallen“, klagt Ursula Stenzel, die ÖVP-Delegationschefin im Europaparlament. Jetzt räche sich auch die alte EU-Methode, Erfolge national zu verkaufen und alles Böse auf Brüssel zu schieben.

Tatsächlich scheint die Europäische Union an einem Wendepunkt angelangt zu sein. Erreichte Ziele wie die Sicherung von Frieden oder die Herstellung billiger Lebensmittel werden – vor allem von den jüngeren EU-Bürgern – bereits als selbstverständlich aufgefasst und können den Zusammenhalt der vergrößerten EU-Familie nicht mehr sicherstellen.

Einen „Kulturbruch“ ortet auch der österreichische Generaldirektor in der EU-Kommission Heinz Zourek: „Nachdem zwei Generationen in Frieden und Wohlstand gelebt haben, ging jetzt in der EU die Grundeinstellung, dass niemand durchs soziale Netz fallen soll, verloren“, erklärt der frühere Funktionär von ÖGB und Arbeiterkammer. „Die Leute haben Angst um ihren Job. Sie haben Opfer für soziale Reformen gebracht und bekommen dafür keine Gegenleistung mehr.“

Der Zorn der EU-Bürger richtet sich daher verstärkt auf die anonymen Bürokraten in Brüssel. Jede Nachricht über eine Verlagerung von Produktionsstätten in die neuen Mitgliedsstaaten oder Richtung Fernost weckt neue Ängste. Aber auch die Bürger der neuen Mitgliedsstaaten fühlen sich benachteiligt, etwa durch die vorläufige Aussperrung vom EU-weiten Arbeitsmarkt.

Alte Rezepte wie die Konjunkturankurbelung über höhere Staatsschulden scheiterten – ungeachtet der erst jüngst erfolgten Aufweichung des Stabilitätspakts – zunehmend am Druck der Kapitalmärkte sowie an der generellen Zurückdrängung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft.

Der bisherige Modus operandi der politischen EU-Eliten, komplexe und weit reichende Integrationsschritte wie den Binnenmarkt, den Euro oder die Erweiterung von oben anzuordnen, wird immer stärker abgelehnt. Die EU ist in den Augen vieler Bürger unglaubwürdig geworden. In vielen Mitgliedsstaaten und auch auf EU-Ebene wurde manches versprochen und wenig gehalten. Paradebeispiel ist der im Jahr 2000 verkündete so genannte Lissabon-Prozess, durch den die EU innerhalb von zehn Jahren zum „größten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden wollte.

Europafrust. Die selbst gesteckten Ziele bei Beschäftigung, Forschung, Sozialem und Umwelt wurden klar verfehlt. Erst im vergangenen März beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs den geordneten Rückzug. Caspar Einem, SPÖ-Europasprecher, kritisiert die vollmundigen Versprechungen der EU-Regierungschefs bei Gipfeltreffen: „Kaum sitzen sie wieder im Flugzeug nach Hause, erinnern sie sich nicht mehr an ihre Beschlüsse.“

Einem machte kürzlich die Probe aufs Exempel. Er stellte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage 27 konkrete Fragen zu den von Schüssel mitbeschlossenen Schlussfolgerungen beim jüngsten EU-Gipfel – von Maßnahmen am Arbeitsmarkt bis zur Forschung. In 22 Punkten gab Schüssel keine Antwort, weil die Fragen „keinen Gegenstand der Vollziehung des Bundeskanzlers“ betroffen hätten.

„Das zeigt, wie realitätsfern die EU-Regierungschefs agieren“, kritisiert Einem. „Sie kündigen alle möglichen Maßnahmen bei Gipfeln an. Doch daheim werden sie dann nicht oder nur mangelhaft umgesetzt. Und dann wundern sich die Politiker über wachsenden Europafrust.“

Von Otmar Lahodynsky