Die sieben ­Taliban-Gebote

Europa in Mali: Die sieben ­Taliban-Gebote

Mali. Bittere Lehren aus Afghanistan

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Es geht also wieder einmal alles ganz schnell. Aber etwas anderes war wohl auch nicht zu erwarten. Kaum ist die von Frankreich geführte Militärintervention in Mali angelaufen, jagt eine Erfolgsmeldung die nächste: Straßenverbindungen gesichert, Städte befreit, Islamisten zurückgedrängt.
„Wir sind in einer Phase des Vormarschs“, erklärt ein Sprecher der französischen Streitkräfte. „Wir planen, jede Woche rund hundert Kilometer weiter vorzurücken“, ergänzt ein Kollege aus Mali. „Islamisten evakuieren ihre Bastionen“; „Frankreich bombt den Weg frei“; „Nun können Franzosen und malische Armee auf einer breiteren Kampflinie Richtung Norden vorstoßen“, schreiben die Zeitungen.
So viele gute Nachrichten stimmen angesichts der Erfahrungen mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“, dem der Einsatz in Mali durchaus zuzurechnen ist, eher pessimistisch: Man hat sie in Afghanistan ebenso gehört wie im Irak, und in beiden Fällen endeten sie in jahrelangen, verlustreichen Kriegen mit letztlich äußerst überschaubarem Erfolg.
Diese Gefahr droht auch in Nordafrika. Noch ist sie abzuwenden – aber nur, wenn der Westen aus den Fehlern, die er im vergangenen Jahrzehnt vor allem in Afghanistan gemacht hat, seine Lehren zieht.

1. Vertraue nicht auf dein Militär

Wer die Kriegsmaschinerie der NATO in Afghanistan erlebt hat, glaubt zunächst, dass ihr nichts und niemand die Stirn bieten kann: hochmoderne Kampfjets und Hubschrauber, Aufklärungsdrohnen und Abhörsysteme, Panzerfahrzeuge in allen Variationen, 130.000 bestens ausgerüstete Soldaten – und ein milliardenschweres Budget.
Es hat trotzdem nicht gereicht, um die Taliban zu vertreiben, die sich lediglich mit Handfeuerwaffen und improvisierten Sprengfallen zur Wehr setzten. Die Islamisten bekamen umso mehr Zulauf, je mehr Druck der Westen auf sie ausübte. Das resultierte erstens aus dem Gefühl der Bevölkerung, einer übermächtigen fremden Besatzungsarmee ausgeliefert zu sein, und zweitens aus der parallel zur steigenden Zahl von Militäroperationen immer größer werdenden Zahl von „Kollateralschäden“ in der Zivilbevölkerung.
Feuerkraft ist also nicht alles, im Gegenteil: Sie kann sogar dazu führen, dass man verliert.

2. Kauf dir die Bevölkerung

Regionen mit Sicherheitsproblemen sind in den meisten Fällen auch Regionen ohne Infrastruktur. Das übersehen zu haben ist der zweite wichtige Grund für die Erfolglosigkeit von NATO und USA in Afghanistan.
Die Organisatoren der kommende Woche geplanten ­Geberkonferenz für Mali sollten nicht nur versuchen, die ­veranschlagten 340 Millionen Dollar für Militäroperationen einzusammeln, sondern gleich noch einmal so viel für den Ausbau von Straßen, Schulen, Elektrizitäts-, Wasser- und Gesundheitsversorgung in der Sahara-Krisenregion.
Auch das zeigt die Erfahrung aus Afghanistan: Die Bevölkerung muss konkrete Verbesserungen ihrer Lebenssituation bemerken. Andernfalls hält ihre Loyalität mit der Regierung und ausländischen Interventionstruppen nur sehr ­begrenzt.

3. Schau nicht auf die Uhr

Wochen? Monate? Das sind keine Zeitspannen, in denen es sich abseits der Bewältigung akuter Notsituationen zu denken lohnt. In Krisenregionen wie Mali geht es vielmehr um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte, wenn sich nachhaltig etwas ändern soll.
Oder glaubt wirklich jemand, die noch immer in archaischen Traditionen verhaftete, nomadisch geprägte Gesellschaft im Norden Malis binnen kürzerer Zeit modernisieren zu können? Oder die vielfach auf Schmuggel basierende Parallelwirtschaft, die einen guten Teil der Bevölkerung ernährt, in eine legale Ökonomie zu verwandeln?
Afghanistan hat gezeigt, dass tief verwurzelte Probleme wie das komplette Fehlen einer Mädchen- und Frauenbildung nur über Generationen hinweg zu bereinigen sind – und dass die Illusion einer schnellen Lösung möglicherweise die gefährlichste ist, der man erliegen kann.
Zeit ist also entscheidend – aber nicht im Sinne von Eile, sondern vielmehr im Sinne von Geduld.

4. Setz deine Ziele lieber zu niedrig an

Demokratie, Sicherheit, Korruptionsfreiheit: Schön, wenn man Ziele wie diese vor Augen hat und daran arbeitet. Die Hoffnung, sie vollinhaltlich umzusetzen, ist in Mali aber ebenso illusorisch, wie sie es in Afghanistan war.
Verabschieden sollte sich der Westen aber auch von der Vorstellung, dass 450 europäische Militärberater Malis Regierungstruppen binnen absehbarer Zeit in die Lage versetzen können, selbst für die Sicherheit im Land zu sorgen. Wenn der deutsche Außenminister Guido Westerwelle erklärt, dass es dort „auf Dauer keine europäische oder militärische Lösung geben kann“ und es darum gehe, „dass die afrikanischen Kräfte es schaffen müssen“, muss er bedenken, dass genau dieser Ansatz in Afghanistan grandios gescheitert ist. Unter anderem daran, dass Soldaten und Polizisten unmittelbar nach dem Ende ihrer Ausbildung in Scharen zu den Taliban überliefen: Diese zahlten im Gegensatz zum Staat nämlich ordentlich.
Entscheidend für Erfolg und Misserfolg wird auch sein, ob ein realistischer Plan für die Zeit nach der unmittelbaren Militärintervention existiert: In Mali könnte durchaus in Erwägung gezogen werden, den Tuareg bei der Erfüllung ihres Wunschs nach einem eigenen Staat in Norden Malis zu verhelfen, um sie dort als Ordnungsmacht gegen die Islamisten zu festigen.

5. Denk nicht an Grenzen

Mehr als ein halbes Jahrzehnt kämpfte die NATO in Afghanistan letztlich am falschen Kriegsschauplatz: Die Militärstrategen hatten zu wenig beachtet, dass staatliche Grenzen für die Taliban wenig bis gar keine Bedeutung haben und sich ihr Aktionsradius bis tief in die Stammesgebiete Pakistans hinein erstreckt.
Ähnlich verhält es sich jetzt mit den Islamisten in der Sahara. Sie können sich mehr oder minder ungehindert bewegen: auf dem Territorium von Mali ebenso wie in jenen Teilen Algeriens, Mauretaniens, Libyens und des Nigers, deren Abgelegenheit und Unübersichtlichkeit staatliche Überwachung mehr oder minder unrealistisch machen.
Ein Einsatz, der sich auf den Norden Malis – der allein bereits ungefähr so groß ist wie Frankreich – beschränkt und nicht die Regierungen und Sicherheitskräfte der Nachbarländer einbezieht, bringt also von vornherein wenig.

6. Pfeif auf die Religion

Es liegt nahe, den Konflikt in Mali zum Frontabschnitt eines Feldzugs des Islam gegen den Westen hochzustili­sieren, aber es ergibt letztlich nur begrenzt Sinn. Gewiss befinden sich unter den Bewaffneten, die dort ihr Unwesen treiben, religiös fanatisierte Terrorgruppen, die der kruden Ideologie von Al-Kaida anhängen. Andere dürften ihr Fundamentalisten-Image aber eher aus taktischen Gründen pflegen. Das macht die Art und Weise, wie sie die Bevölkerung drangsalieren, zwar nicht besser – die Milizen selbst aber durchaus empfänglich für Verhandlungen.
Auch das hat sich bereits in Afghanistan gezeigt: Die Taliban gibt es als einheitliche, von den gleichen Motiven geleitete Terrorbewegung ebenso wenig, wie die ­Islamisten im Norden Malis eine straff organisierte Guerilla­bewegung darstellen. Vergangene Woche soll sich etwa ein Teil der Ansar al-Dine („Helfer des Glaubens“), das ist eine der vier großen Fundamentalisten-Milizen im Norden Malis, abgespalten und Friedensgespräche angeboten haben.
In religiösen Dimensionen zu denken verschleiert jedenfalls den Blick auf die Realität und droht die Lösung des Konflikts durch Sakralisierung zu erschweren.

7. Gib zu, dass es auch ums Geschäft geht

Uran, Gold, Öl und Gas: Unter der Sahara liegen beträchtliche Bodenschätze. Zu leugnen, dass europäische Länder – allen voran Frankreich – Interesse daran haben, sich den Zugang zu diesen Ressourcen zu sichern, ist dämlich. Ebenso dämlich ist es aber auch, sich darüber zu empören: Das kann man tun, wenn es um die Frage geht, ob die dort beschäftigten Arbeiter gut behandelt werden, auf die Bevölkerung und die Umwelt geachtet und das jeweilige Land nicht über den Tisch gezogen wird.
Wenn der Deal fair ist, soll man ihn machen. Man soll aber auch dazu stehen. Das stärkt Glaubwürdigkeit und Legitimität, vor allem bei den Einheimischen, deren Unterstützung unverzichtbar ist.
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Wer in Mali eine Brutstätte für den internationalen Terrorismus sieht, sollte es nicht bei leeren Worten belassen, sondern handeln: zunächst durchaus mit militärischen Mitteln, in der Folge aber auch mit gezielter und großzügiger Aufbauhilfe. Und er ist gut beraten, die eigene Rhetorik ernst zu nehmen, aber nicht, wie ÖVP-Außenminister Michael Spindelegger, „konzertiertes Handeln“ in Mali zu verlangen, gleichzeitig jedoch das EU-Sondertreffen zum Thema zu schwänzen; oder wie SPÖ-Verteidigungsminister Norbert Darabos die Vorzüge einer professionell geführten Berufsarmee für internationale Einsätze zu preisen, die Beteiligung österreichischer Soldaten aber selbst an der EU-Trainingsmission kategorisch abzulehnen.
Denn fühlt sich Frankreich durch eine allfällig vom Krisenherd Sahara ausgehende Gefahr bedroht, dann sollte das auch das EU-Mitgliedsland Österreich tun. Und sei es nur aus Solidarität.