Europa: Sündenfall oder Neustart

Die Reform des Stabilitäts-paktes für den Euro

Drucken

Schriftgröße

Jahrelang wurde darüber gestritten. Doch am vergangenen Dienstag beschlossen die EU-Staats- und -Regierungschefs bei ihrem Frühlingsgipfel die Reform des Stabilitätspaktes für den Euro im Eilverfahren ganz ohne Diskussion. Die EU-Granden wirkten sichtlich erleichtert darüber, dass ihre Finanzminister schon am Sonntag zuvor eine Einigung erzielt hatten. Ergebnis: Die im EU-Vertrag verankerten Grenzen zu Haushaltsdefizit und Gesamtverschuldung bleiben bestehen. Aber künftig sollen besondere Belastungen – von den Kosten der deutschen Wiedervereinigung über Frankreichs Militärausgaben und die Rentenreform in Polen bis zu Ausgaben für Forschung und Bildung – bei der Beurteilung berücksichtigt werden, ob ein Budgetdefizit zu hoch ist (siehe Kasten Seite 18).

Langjährige Defizitsünder wie Deutschland oder Frankreich brauchen in Zukunft keine Strafverfahren mehr zu befürchten, solange ihr Budgetdefizit als bloß „temporär“ eingestuft wird und „nahe“ der erlaubten Höchstgrenze von drei Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts liegt. Was knapp und temporär ist, wurde nicht genau festgelegt. Aktuelle Defizite wie in Griechenland mit über sechs Prozent würden nicht toleriert, beschwichtigten EU-Diplomaten. Die Grenze liege irgendwo zwischen drei und 3,5 Prozent.

Sogar Hardliner wie Österreichs Finanzminister Karl-Heinz Grasser, der sich bis zuletzt gegen eine Aufweichung des Paktes zur Wehr gesetzt hatte, waren unter dem Druck der Mehrheit und der Verhandlungstaktik des Luxemburger EU-Ratsvorsitzenden Jean-Claude Juncker eingeknickt. Noch knapp vor der Entscheidung hatte Grasser deutsche Forderungen nach Anrechnung der Kosten für die Wiedervereinigung als „Treppenwitz“ bezeichnet. Nach dem Beschluss entwich der Minister, der Deutschland wegen der Budgetsünden einst das Stimmrecht entziehen wollte, „über die Hintertreppe“, mokierte sich die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Bundeskanzler Wolfgang Schüssel verteidigte seinen Finanzminister: „Er hat mit seiner klaren Linie verhindert, dass wir eine Aufweichung des Stabilitätspaktes ohne feste Regeln bekommen.“

Aufweichung. Für Kritiker der Reform ist freilich genau dies passiert. Der deutsche Finanzminister Theo Waigel, der 1996 den Stabilitätspakt samt hohen Geldstrafen durchgesetzt hatte, um den Euro „stark wie die Mark“ zu machen, hält die „Aufweichung“ des Paktes für eine „Sünde gegenüber kommenden Generationen“ (siehe Interview Seite 18).

Von einem „schwarzen Sonntag“ und einer „Reform zum Schlechteren“ schrieb in der neutralen Schweiz die konservative „Neue Zürcher Zeitung“. Deutliche Warnungen kamen auch von den Währungshütern der Europäischen Zentralbank, darunter auch von Klaus Liebscher, Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank, der sich „enttäuscht“ zeigte. Die Reform bedeute eine „deutliche Schwächung“ dessen, was für eine gesunde und dauerhafte Finanzpolitik notwendig wäre. Höhere Defizite könnten Inflation und Zinsraten nach oben treiben.

Einen „faulen Kompromiss“ beklagte der EU-Abgeordnete Othmar Karas. Der ÖVP-Mandatar ist im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des EU-Parlaments Berichterstatter über die öffentlichen Finanzen. „Das war keine gute Woche für Europa“, kritisiert Karas das Ergebnis des EU-Gipfels. Beim Stabilitätspakt, bei der Dienstleistungsrichtlinie und auch bei der Verschiebung der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien sei die EU „ihren eigenen Beschlüssen untreu geworden“.

Angstsparen. Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac, die beide seit drei Jahren die Defizitgrenze überschreiten, weinten dem Korsett des alten Pakts freilich keine Träne nach. „Wir konzentrieren uns wieder mehr aufs Wachstum“, jubelte Chirac. Ob der neue Pakt sinnvolle Investitionen in die Zukunft – darunter die bisher kaum verwirklichten Bauvorhaben im Rahmen der so genannten „transeuropäischen Netze“ wie Hochgeschwindigkeits-Bahnlinien oder neue Autobahnen – erleichtert, ist jedoch keineswegs gesichert. Defizitsünder werden sich auf das Stopfen der schlimmsten Lücken im Haushalt konzentrieren, nicht auf teure Infrastrukturprojekte. Nur Länder mit eher ausgeglichenen Budgets könnten mehr öffentliche Investitionen wagen, wenn sie die Rute in Brüssel nicht mehr fürchten müssen.

Anhänger der Thesen des Ökonomen John Meynard Keynes, wonach der Staat mit Deficit Spending, also neuen Schulden, die lahme Konjunktur beleben soll, fühlen nun Aufwind. Tatsächlich haben die erzwungenen Einsparungen nach dem alten Stabilitätspakt in vielen Ländern öffentliche Investitionen reduziert. In den „alten“ EU-Staaten ist seit Anfang der neunziger Jahre die öffentliche Investitionsquote deutlich zurückgegangen (von drei auf 2,3 Prozent). Laut ÖGB-Experten weist Österreich neben Großbritannien dabei den größten Rückgang auf. „Jetzt gibt es durch den neuen Pakt, der eine notwendige Anpassung an die Realität darstellt, eine Chance, dem gemeinsamen Ziel von mehr Wachstum und Beschäftigung näher zu kommen“, hofft ÖGB-Chef Fritz Verzetnitsch. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel habe beim Sozialpartner-Gipfel in Brüssel zu Recht auf die hohe Sparquote in einem Drittel der OECD-Länder hingewiesen. „Das zeigt, dass die Leute kein Vertrauen in die Zukunft haben.“

Die neuen Regelungen zum Stabilitätspakt werden Österreich unmittelbar wenig nützen. „Im Prinzip profitieren nur Länder, welche die Grenze des erlaubten Defizits überschreiten“, stellt Margit Schratzenstaller vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo in Wien klar. Für das exportorientierte Österreich sei es jedoch von Vorteil, dass Deutschland nicht mehr zu einem rigorosen Sparkurs gezwungen werde. Die Wifo-Expertin kritisiert aber, dass im neuen Pakt manche „mildernde Umstände“ für Defizitsünder wie die Ausgaben für „internationale Solidarität“ zu schwammig formuliert wurden. „Insgesamt ist der neue Pakt aber kein Freibrief zum Schuldenmachen“, so Schratzenstaller.

Deficit Spending. Weit skeptischer äußerte sich Bernhard Felderer, Chef des Instituts für Höhere Studien. Zu nebulos seien die neuen Bedingungen formuliert, etwa zur Dauer und Höhe der erlaubten Überschreitungen. „Wir sind schon mittendrin im Deficit Spending. Kleinere Länder fragen sich, wozu sie Budgetdisziplin halten sollen“, erklärte er im „Standard“.

Während vor allem linksliberale Politiker und Wirtschaftsexperten den neuen Pakt begrüßen, weil er die als zu starr empfundenen Sparmechanismen beendet, gibt es nicht nur unter konservativen Ökonomen warnende Stimmen. Stefan Collignon, Ökonom an der London School of Economics, einst Vertrauter des früheren deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine, kritisiert den neuen Pakt im Gespräch mit profil. „In Europa gilt wieder der Grundsatz: Jeder kämpft für sich alleine.“ Bei der Reform sei es nicht um gesamteuropäische Interessen, sondern um „blanke Partikularinteressen“ gegangen.

In dieselbe Kerbe schlägt auch Daniel Gros, Direktor des Brüsseler Centre for European Policy Studies. „Das ist ein Kaugummi-Pakt, der den Euro schwächen wird. Die EU-Kommission wurde bei der Reform auf der ganzen Linie geschlagen. Alles, was eine Lockerung des Pakts bedeutet, haben die Finanzminister abgesegnet.“ Bereits im Jahr 2003 hatten die EU-Finanzminister das von der EU-Kommission angestrengte verschärfte Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich gestoppt und waren dafür später – zumindest teilweise – vom Europäischen Gerichtshof gerügt worden.

Ziele verfehlt. Der zweite Teil des Paktes für „Stabilität und Wachstum“ kam bisher immer zu kurz. Das im Jahr 2000 noch als „echte Revolution“ gefeierte Vorhaben, die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wurde vergangenen Mittwoch beim EU-Gipfel im Rahmen der Halbzeit-Bilanz offiziell beerdigt.

Denn die hehren Ziele der so genannten „Lissabon-Agenda“, darunter eine Beschäftigungsquote von 70 Prozent, die Aufstockung der Forschungsausgaben auf drei Prozent des BIP, die Liberalisierung der Energiemärkte bis hin zu mehr Kindergärten, wurden allesamt verfehlt.

Schlimmer: Auch die Wohlstandskluft gegenüber den USA, gemessen an der pro Kopf erzielten Wirtschaftsleistung, hat zugenommen. Die europäische Wirtschaft wächst weit langsamer als die amerikanische, und die Arbeitslosenrate steigt (siehe Grafik).

Statt die USA zu überflügeln, soll nun Europa laut neuer Losung von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit einer neuen „Strategie für Wachstum und Beschäftigung“ zumindest wachgerüttelt werden.

Die nationalen Regierungen müssen nun gemeinsam mit Parlamenten und Sozialpartnern neue Aktionspläne ausarbeiten, um in den nächsten drei Jahren das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und mehr neue Jobs zu schaffen. Jedes Land soll dafür einen Verantwortlichen nominieren. Ob die versprochenen Reformschritte tatsächlich umgesetzt werden, bleibt offen. Die EU-Kommission soll auf Versäumnisse nur warnend hinweisen dürfen. Ein „naming and shaming,“ das An-den-Pranger-Stellen von Nachzüglern, haben die EU-Regierungschefs diesmal bewusst nicht vorgesehen.

Schon in diesem Jahr hatten sie die Veröffentlichung der bisher üblichen Liste über die Fortschritte bei der Erreichung der Lissabon-Ziele abgelehnt. Das Londoner Centre for European Reforms hat dennoch das Ranking veröffentlicht: Österreich rutschte demnach vom fünften auf den sechsten Platz (siehe Grafik). In der Rangliste der seit 1999 erzielten Fortschritte unter allen 25 EU-Ländern liegt Österreich gar nur auf dem 21. Platz. Schlechte Noten kassierte Österreich weiter bei der Zahl der Uni-Absolventen, bei der Beschäftigung älterer Personen, bei der Kinderbetreuung und bei der Reduktion der Treibhausgase sowie wegen der zu geringen Forschungsausgaben.

Bundeskanzler Schüssel zeigte sich „erschüttert“ darüber, dass Österreich in Brüssel so viel Fördergeld für Forschungsprojekte nicht abhole. Von den 100 Millionen Euro, die für Österreich reserviert seien, würden bloß 40 Millionen abgerufen. „Dieselben Forschungsmanager, die in Zeitungen mehr Geld für die Forschung fordern, nützen nicht einmal das, was jetzt schon zur Verfügung steht“, klagte Schüssel.

EU-Skepsis. Bei der europäischen Aufholjagd sind nun die 25 Regierungen am Zug: Die nationalen Aktionspläne sollen noch heuer ausgearbeitet werden. Eine erste Bewertung wird dann unter österreichischer EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2006 erfolgen.

Vor allem zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fehlen freilich noch immer brauchbare Rezepte. Die EU-Kommission versprach mit einer neuen, heftig umstrittenen Richtlinie zur Liberalisierung von Dienstleistungen die Schaffung von 600.000 neuen Jobs in der gesamten EU. Doch viele EU-Bürger bekamen wegen des befürchteten Sozialdumpings Angst, ihre Jobs zu verlieren (siehe Kasten).

Beim EU-Gipfel forderte Frankreichs Staatspräsident Chirac am lautesten eine Überarbeitung der Richtlinie. Denn die EU-Skepsis unter den Franzosen steigt nicht zuletzt wegen der geplanten Regelung. Am 29. Mai stimmen die Franzosen über die neue EU-Verfassung ab. Ein Nein Frankreichs würde den europäischen Integrationsprozess um Jahre zurückwerfen. Der frühere EU-Kommissar Franz Fischler warnt demgemäß vor einem solchen Szenario: „Dann hätten wir wirklich eine ernsthafte Krise, was die weitere Integration Europas auf Jahre hinaus blockieren würde.“

Von Otmar Lahodynsky
Mitarbeit: Sabine Radl (Brüssel), Christa Zöchling