Europa am Ende? Nein.

Europanik: Was, wenn auch Spanien, Italien oder Portugal kippen?

Finanzkrise. Was, wenn auch Spanien, Italien oder Portugal kippen?

Drucken

Schriftgröße

Dass die ganze Stadt Olympia-Baustelle war, tat der feierlichen Stimmung keinen Abbruch. Am 16. April 2003 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der EU in der Säulenhalle des Attalos an der Agora unterhalb der Athener Akropolis die Beitrittsverträge für zehn neue Mitglieder der Europäischen Union. Der Gastgeber und Ratspräsident, Griechenlands Premierminister Costas Simitis, sprach von einem „historischen Tag“ und ließ als Zeichen des Friedens Olivenbäume pflanzen: „Damit wird die Teilung Europas in einen Osten und einen Westen überwunden.“

Exakt sieben Jahre später scheint die Teilung Europas wieder unüberwindlich. Nicht Eiserne Vorhänge sind es, die freie von unfreien Staaten trennen. Nunmehr verlaufen die Trennlinien ganz anders: Bewertungscodes von ­Ratingagenturen und schnöde Kennzahlen wie Gesamtverschuldung, gemessen an der Wirtschaftsleistung, oder Zinsaufschläge auf zehnjährige Staatsanleihen schaffen in der EU und im Euroraum eine Zweiklassengesellschaft aus Pleitekandidaten einerseits und Zahlmeistern andererseits.

Das Schmuddelkind des Kontinents: die Republik Griechenland. Über das Wochenende handelten Vertreter von EU und Internationalem Währungsfonds die Details zur Rettung der Hellenen aus. Ein Sondergipfel der Euro­länder am 10. Mai in Brüssel soll das Hilfspaket absegnen. Insgesamt wird das Fiasko IWF und EU zumindest 130 Milliarden Euro kosten und den Griechen selbst wahre Tantalusqualen bescheren. Dass unverheiratete Töchter verstorbener Staatsbediensteter forthin auf ihre Waisenprämie verzichten müssen, die in den Jahrzehnten der Budget-Prasserei zum wohlerworbenen Recht geworden ist, wirkt dabei vergleichsweise verkraftbar.

Es drohen viel schlimmere Einschnitte:
Die Löhne der Beamten werden eingefroren, das 13. und 14. Gehalt gestrichen, Pensionen und Sozialleistungen gekürzt, Steuern erhöht und erstmals konsequent eingehoben. Soziale Unruhen scheinen unausweichlich in einem Land, in dem schon Studenten-Demos gegen Uni-Reformen zum Einsatz von Wasserwerfern führen. Kommende Woche wollen die Gewerkschaften Griechenland per Generalstreik lahmlegen. Es wird nicht der letzte gewesen sein.

Inzwischen bahnt sich in den restlichen der so genannten PIGS-Staaten – ein Akronym für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien – der Tragödie zweiter Akt an. Italien gilt bereits seit Jahren als erster Anwärter auf den Staatsbankrott. Portugal und Spanien stehen unter verschärfter Beobachtung: Für beide Länder hat die einflussreiche Ratingagentur Standard & Poor’s vergangene Woche die Bewertung gesenkt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist die EU in eine Krise geraten, die das Worst-Case-Szenario eines Auseinanderbrechens nicht mehr nur akademisch erscheinen lässt. Und diese Krise ist mit der vorläufigen Rettung Griechenlands noch lange nicht ausgestanden.

Hatten Kritiker wie der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman Recht, die von Anfang an vor den Gefahren einer zwanghaften Währungsunion unterschiedlicher Volkswirtschaften warnten? Steht der Club Med aus südeuropäischen Staaten vor der Pleite? Versetzen ihm internationale Spekulanten den Todesstoß? Erlebt der Euro überhaupt seinen zehnten Geburtstag? Löst die Krise einen monetären Verdrängungswettbewerb in der EU aus, an dessen Ende eine Kern-Währungsunion steht, in der die ökonomisch stärksten EU-Mitglieder einen elitären Finanzclub bilden – mit einer neuen Währung, beispielsweise namens E-Mark? Oder verfügt die EU über Kraft und politischen Willen, die Situation zu meistern?

I. Das PIGS-Risiko Gefahrenpotenzial: hoch

Das griechische Virus hat Portugal und Spanien bereits voll erfasst. Für den portugiesischen Premierminister José Socrates, der eine sozialdemokratische Minderheitsregierung anführt, stecken dahinter ahnungslose Analysten und böswillige Spekulanten. Denn bei den Wirtschaftsdaten liege Portugal trotz struktureller Schwachstellen bei Weitem nicht so schlecht wie Griechenland, so der Premier, der übrigens nur zufällig so heißt wie der griechische Philosoph.

Doch Portugal hat in den vergangenen Jahren viele Reformen – etwa im aufgeblähten öffentlichen Sektor und auf dem Arbeitsmarkt – versäumt. Im Wettbewerb mit den neuen Beitrittsländern in Mittel- und Osteuropa ist das Land ebenfalls zurückgefallen. Jetzt muss ein schmerzhaftes Sparpaket durchgesetzt werden, das unter anderem mehrjährige Nulllohnrunden im öffentlichen Dienst, das Einfrieren der Pensionen und Sozialleistungen sowie Verschiebungen großer Infrastrukturprojekte vorsieht. Gleichzeitig werden reichere Bürger durch höhere Steuersätze und Streichungen von Steuerabschreibungen zur Kasse gebeten.

Socrates hat schon einmal bewiesen, dass er einschneidende Maßnahmen durchsetzen kann. In seiner ersten Amtszeit hatte er das Budgetdefizit von sechs Prozent innerhalb von zwei Jahren vor allem ausgabenseitig halbiert. Doch mittlerweile liegt der Abgang im Haushalt bei elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts – Tendenz steigend.

Auch Spaniens sozialistischer Premierminister José Luis Zapatero scheut jeden Vergleich mit seinem griechischen Amtskollegen. Bereits im Jänner wurde ein mehrjähriges Sparpaket über 50 Milliarden Euro beschlossen, wobei schon heuer fünf Milliarden Euro an Ausgabenkürzungen und Steuermehreinnahmen geplant sind.

Bis zur Finanzkrise im Vorjahr hatte Spanien einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Industriesparten wie die Autobranche boomten, und bis 2008 gab es sogar einen Budgetüberschuss. Doch ein großer Teil des Aufschwungs wurde auf dem Bausektor erzielt. Appartementanlagen schossen nicht nur an den Küsten Spaniens aus dem Boden. Ende 2008 platzte die Immobilienblase, die Arbeitslosigkeit stieg seither auf 20 Prozent an, bei jüngeren Arbeitnehmern gar auf bis zu 40 Prozent. Die hohen Sozialausgaben schlugen schnell aufs Budget durch. Das Defizit erreichte elf Prozent. Die gesamte Staatsverschuldung blieb bei vergleichsweise niedrigen 53 Prozent.

Als Nächstes könnte das EU-Gründungsmitglied Italien ins Visier kommen. Das Land hat im Vorjahr die schlechteste Wirtschaftsleistung seit 40 Jahren erzielt, wobei vor allem die Exporte um ein Fünftel zurückgegangen sind. Landesweit sperrten 9000 Unternehmen zu, die Arbeitslosenrate stieg auf über acht Prozent.

Premier Silvio Berlusconi hat durch eine langjährige Rekordverschuldung von nunmehr 116 Prozent und ein Budgetdefizit von knapp fünf Prozent wenig Spielraum für konjunkturbelebende Maßnahmen. Vorteil Italiens: Trotz Schwächesymptomen hat das Land eine starke, hoch differenzierte Wirtschaft und eine international konkurrenzfähige Industrie – sowie einen lebendigen Heimmarkt. Die Italiener müssten freilich wieder mehr konsumieren. Derzeit erzielen sie in der EU die höchste Sparquote.

Für den Großteil der PIGS-Länder lässt die Entwicklung der Staatsverschuldung nichts Gutes ahnen: Für Griechenland wird sie 2010 mit 125 Prozent des BIP prognostiziert – eine Steigerung von fast 26 Prozentpunkten gegenüber 2009. Das Budgetdefizit, also die Neuverschuldung, wird bei knapp mehr als zwölf Prozent liegen. Bedenklich auch die Lage in Spanien (Staatsschuldenquote 66 Prozent 2010 gegenüber 53 Prozent 2009, Neuverschuldung heuer 13 Prozent). Portugals Schulden dürften von 77 Prozent des BIP 2009 auf 85 Prozent steigen, die Neuverschuldung bleibt mit acht Prozent bedrohlich hoch.

In allen Fällen gilt: Die Schulden wachsen stärker als die Wirtschaft – und damit auch als die Steuereinnahmen. Dadurch wird es für diese Staaten immer schwieriger, ihre Außenstände zu begleichen, was wiederum dazu führt, dass sich ihre Zinsbelastung deutlich erhöht. Die vergleichsweise kleine Volkswirtschaft Portugal ließe sich bei einem Bankrott von der EU möglicherweise noch auffangen. Ein Hilfspaket für Spanien würde eingedenk der Größe des Landes und der ohnehin überstrapazierten Möglichkeiten der Euroländer die gesamte Zone ins Wanken bringen. Von Italien ganz zu schweigen. Genau diesen Umstand könnten auch internationale Investoren und Spekulanten durch Wetten auf den finanziellen Kollaps der Wackelkandidaten ausnützen.


II. Das Spekulations-Risiko Gefahrenpotenzial: hoch

Sosehr Damen und Herren wie Angela Merkel, Jean-Claude Trichet oder Josef Pröll die Stabilität der Gemeinschaftswährung auch beschwören mögen: Der Euroraum ist im Jahr zwei nach Ausbruch der Finanzkrise verwundbarer denn je. Das hat viel mit dem Fall Griechenlands zu tun – aber nicht nur. So verfügen derzeit zwar 16 europäische Staaten (mit den Nicht-EU-Mitgliedern Montenegro und Kosovo sind es eigentlich 18) über ein gemeinsames Zahlungsmittel. Und doch sind es immer noch 16 souveräne Staaten mit 16 teils arg zerzausten Staatshaushalten und damit 16 potenzielle Angriffsziele für Spekulanten.

Oder anders gesagt:
Hedgefonds-Artisten wie die US-Amerikaner John Paulson (Paulson & Co), David Einhorn (Green-­light Capital) oder Steven A. Cohen (SAC Capital Advisors) müssen gar nicht gegen den Euro wetten, um die Währungsunion in schwere Bedrängnis zu bringen. Es reicht augenscheinlich schon, auf die Zahlungsunfähigkeit eines einzelnen Landes zu setzen.

Direkte Spekulationen gegen den Euro waren in der Vergangenheit vor allem deshalb mäßig erfolgversprechend, weil die Europäische Zentralbank (EZB) ein so potenter wie unangenehmer Gegner ist. Droht der Eurokurs zu rutschen, kann sie mittels Stützungskäufen jederzeit korrigierend eingreifen. Schuldverschreibungen der einzelnen Eurostaaten darf die EZB dagegen nicht ankaufen. Diese sind folglich dem freien Spiel der Kräfte überlassen.

Noch bis ins Jahr 2009 hinein warfen die Anleihen aller Euroländer annähernd gleich viel Rendite ab. Ob Griechenland, Portugal, Spanien, Deutschland oder Österreich: Investoren konnten davon ausgehen, dass die Eurostaaten ihren Verpflichtungen pünktlich und in vollem Umfang nachkommen würden. Das gilt längst nicht mehr. Die milliardenschweren Stabilisierungspakete zugunsten des Finanzsektors auf der einen Seite, massive Einnahmenausfälle auf der anderen haben die Staatsdefizite in der Eurozone in lichte Höhen getrieben – und damit vor allem jenen Ländern zugesetzt, die schon vor der Krise schwächelten. Allen voran: Portugal, Italien, Griechenland und Spanien.

Die Folge: Anleiheninvestoren verlangten von diesen Staaten im Abtausch für ihr Vertrauen immer höhere Risikoaufschläge in Form höherer Renditen. Die Griechen bekamen das am deutlichsten zu spüren: Die Kurse hellenischer Schuldverschreibungen rasselten ab Ende 2009 tiefer und tiefer in den Keller, die Renditen schossen in die Höhe. Vergangene Woche lag die Marktverzinsung zehnjähriger Staatsanleihen bereits bei annähernd zehn Prozent, während vergleichbare deutsche und österreichische Papiere unter vier Prozent hielten. Das galt und gilt – wenn auch in bescheidenerem Ausmaß – ebenso für Spanien, Italien und Portugal. Für einen Staat haben fallende Anleihenkurse dramatische Konsequenzen: Bringt er neue Schuldtitel auf den Markt, muss er höhere Zinsen bieten als zuvor – sonst bleibt er auf den Papieren sitzen. Das wiederum treibt die Zahlungsverpflichtungen in die Höhe. Und macht die Schulden irgendwann unfinanzierbar.

Mittlerweile mehren sich Hinweise, wonach vor allem US-amerikanische Hedgefonds und Investmentbanken sich um den Jahreswechsel 2009/2010 abgesprochen hätten, griechische Anleihen konzertiert anzugreifen. Das ist an sich illegal, aber mangels tauglicher Kontrollinstrumente nur schwer nachzuweisen. Und es könnte sich folglich jederzeit andernorts wiederholen. Den Spekulanten steht dabei ein breites Arsenal zur Verfügung. Sehr beliebt und aus unerfindlichen Gründen nach wie vor nicht restlos verboten: der so genannte Leerverkauf. Investoren veräußern dabei Wertpapiere, die ihnen (noch) gar nicht gehören. Sie müssen sich lediglich verpflichten, diese zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem vorab fixierten Preis zu liefern. Das Kalkül des Verkäufers: Fällt zwischenzeitlich der Marktpreis, kann er die Titel billiger einkaufen und teurer weiterreichen. Die Differenz ist sein Gewinn. Das Perfide daran: Auch Leerverkäufe drücken die Kurse.

Ungleich komplexer, aber nicht minder gefährlich sind die Mitte der neunziger Jahre von der damals blutjungen Britin Blythe Masters, Absolventin der Kaderschmiede Cambridge, ersonnenen Credit Default Swaps, kurz CDS. Formell handelt es sich dabei um eine Kreditausfallsversicherung. Tatsächlich gelten diese, um es in den Worten der US-amerikanischen Investorenlegende Warren Buffett auszudrücken, längst als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ – die obendrein bar jeden Regulativs zwischen Banken, Versicherungen, Fonds und Pensionskassen hin und her geschoben werden. Die Grundidee: Ein Anleiheninhaber („der Käufer“) sichert sich bei einem Zweiten („dem Verkäufer“) mittels eines CDS gegen den Zahlungsausfall eines Schuldners („die Referenz“) ab. Dafür wird eine Art Versicherungsprämie fällig. Je höher das Risiko, umso höher die Prämie. An sich sollten diese Derivate die Realität abbilden – in Wahrheit verzerren sie diese nachhaltig. Denn je mehr Investoren sich weltweit gegen die Zahlungsunfähigkeit eines Staats absichern wollen (oder zumindest so tun als ob), umso höher werden die CDS-­Prämien auf dessen Anleihen – was die eigentlichen Anleihenkurse belastet und den Schuldner schließlich in den Ruin treiben kann: Musterbeispiel für eine sich selbst ­erfüllende Prophezeiung. Bezeichnenderweise wird die Verfasstheit eines Landes mittlerweile hauptsächlich an den CDS-Prämien bemessen – und weniger an vermeintlich bewährten makroökonomischen Daten wie etwa BIP, Inflation und Arbeitslosigkeit.

Anfang Jänner etwa lagen die „CDS-Spreads“ für Griechenland knapp unter 300 Basispunkten. Das heißt: Wer griechische Anleihen im Wert von zehn Millionen Euro auf fünf Jahre (die gängigste CDS-Laufzeit) absichern wollte, musste dafür rund 300.000 Euro Prämie im Jahr bezahlen. Vergangene Woche waren es bereits 825 Basispunkte oder 825.000 Euro. In Portugal und Spanien zeichnet sich ähnlich Beunruhigendes ab. Zu Jahresbeginn lagen die Prämien bei jeweils rund 100 Basispunkten, mittlerweile sind es 383 beziehungsweise 209. Zum Vergleich: Österreich wird derzeit – noch – mit 77 bewertet, Deutschland mit 51.

Nach Erhebungen der US-Börsenaufsicht SEC und der Europäischen Zentralbank wird der weltweit auf derzeit 30 Billio­nen – also 30.000 Milliarden – Dollar geschätzte CDS-Markt von wenigen Playern beherrscht: JP Morgan, Goldman Sachs, Morgan Stanley, Deutsche Bank, Barclays sowie einer Hand voll Hedge- und Anleihenfonds wie Pimco, Brevan Howard und Paulson & Co.

Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister sieht generell alle Euroländer als potenzielles Ziel spekulativer Anleger, „solange das System ständig neuer Finanzforderungen, die keine realwirtschaftliche Deckung haben, bestehen bleibt“. Natürlich würden sich internationale Investoren nach Griechenland andere schwächere Länder der Eurozone aussuchen: „Das Ganze funktioniert ein wenig nach dem Prinzip einer Brandschutzversicherung, die man auf das Haus des Nachbarn abschließt und dann kassiert, wenn dessen Haus abgebrannt ist“, erklärt Schulmeister.

Das Problem werde so lange bestehen bleiben, bis die EU oder die Europäische Zentralbank ein neues System einführen, wodurch Eurostaaten genaue Vorgaben für Kredite oder Garantien für niedrige Zinsraten erhielten. „In den USA finanziert die Notenbank den Staat direkt, indem sie Staatsanleihen kauft. Die EZB darf dies nicht tun. Stattdessen bietet sie den Banken billiges Geld, mit dem diese viel höher verzinste Staatsanleihen kaufen und so an der Notlage vieler Staaten kräftig verdienen.“ Drohe ein Bankrott, so forderten die Banker von der Politik, Griechenland für sie zu retten.

Der EU- und IWF-Beauftragte der ­Oesterreichischen Nationalbank, Franz Nauschnigg, regte schon im Vorjahr ein 200 Milliarden Euro schweres Garantiepaket an. Dabei sollte die EU-Kommission Gelder auf den Kapitalmärkten aufnehmen und diese an schlingernde Euroländer in Form von Krediten weitergeben. Dieses Konzept hat sich bereits einmal bewährt. 2009 setzten Spekulanten mittelosteuropäische Länder, vor allem Ungarn, aber auch Österreich massiv unter Druck. Auf Initiative von Finanzminister Pröll wurde darauf mithilfe französischer Finanzexperten eine „Fazilität“ – eine Art Garantieerklärung – über 50 Milliarden Euro zugesagt. „Darauf war der ganze Spekulationsspuk sofort vorbei“, rekapituliert Nauschnigg. Die CDS-Prämien auf Ungarn und Österreich sanken umgehend.

Unabhängig von all dem und doch irgendwie mittendrin agieren die drei angloamerikanischen Ratingagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Ihre fragwürdigen Bonitätsbewertungen waren maßgeblich für Aufschwung und Zusammenbruch des US-Hypothekenmarkts 2007 verantwortlich, gewissermaßen Ursprung der weltweiten Finanzkrise. Und sie treiben ihr Spiel ungehindert weiter. Mitte vergangener Woche – zeitgleich mit den Verhandlungen zur Rettung Griechenlands – setzte Standard & Poor’s Athens Kreditwürdigkeit herab (Hellas-Anleihen haben nunmehr „Ramsch-Status“), auch Portugal und Spanien wurden zurückgestuft. Ein schlechteres Rating bedeutet höheres Risiko, höhere CDS-Prämien, höhere Zinsen – ein Teufelskreis für jeden Schuldner. Dabei ist längst bekannt, was von der Arbeit der Kreditprüfer zu halten ist. Von allen US-Hypothekenwerten, die 2006 noch das beste Rating „AAA“ („Triple A“) trugen, sind heute knapp mehr als 90 Prozent „Ramsch“. Und dennoch steht Europa all dem völlig hilflos gegenüber. Alle Versuche, ein europäisches Rating-Pendant zu schaffen, sind bisher kläglich gescheitert.


III. Das Deutschland-Risiko Gefahrenpotenzial: mittel

Nun hat sich Deutschland doch durchgerungen. Griechenland wird, wie es aussieht, im Mai nicht den Staatsbankrott anmelden müssen. Aber es bedurfte harter Überzeugungsarbeit, um Berlin schließlich dazu zu bringen, einer EU-Rettungsaktion zuzustimmen. Die Art und Weise, wie Angela Merkel und Co in den vergangenen Wochen und Monaten auf die Hilferufe aus Athen reagierten, lässt ahnen, von wo in Zukunft die Gefahr für den Euro ausgeht: von Deutschland.

Seit dem Beginn der griechischen Krise hat Berlin immer wieder gebremst. Begleitet wurde diese Politik, die Kanzlerin Merkel in den französischen Medien den Spitznamen „Madame Non“ einbrachte, von der deutschen Boulevardpresse. Blätter wie die „Bild“-Zeitung porträtierten die Griechen als Bande von „Faulenzern“, „Dieben“ und „Lügnern“, denen man auf keinen Fall die schwer und ehrlich erarbeiteten deutschen Euros in den Rachen werfen dürfe. „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen, und die Akropolis gleich mit!“, plärrte „Bild“ in einer Schlagzeile provokativ. Das hätte man noch als Randale der Massenpresse abtun können – wenn nicht einige Politiker der Regierungsparteien den Vorschlag tatsächlich durchaus bedenkenswert gefunden hätten.

Zwischen Ostsee und Bodensee wird nun allgemein gefragt, warum man für die Griechen, aber auch demnächst vielleicht für die Spanier, Portugiesen und Italiener zahlen solle, die geprasst haben und auf einem gewaltigen Schuldenberg sitzen, während man selbst ein Jahrzehnt schmerzhafter Reformen, Steuererhöhungen und stagnierender Löhne hinter sich hat. Inzwischen ist eine überwältigende Mehrheit der Deutschen gegen Hilfszahlungen an in Schwierigkeiten geratene europäische Südländer. Offensichtlich will man nicht sehen, dass Deutschlands „Tugendhaftigkeit“ und die mediterrane „Frivolität“ aufs Engste verflochten sind. Die deutschen Unternehmen haben am meisten von der stabilen gemeinsamen Währung profitiert – vor allem auch von den Millionen Konsumenten in Europa, die auf Pump Waren „made in Germany“ kaufen. Schließlich gehen 44 Prozent der deutschen Exporte und damit 15 Prozent des deutschen BIP in die Eurozonen-Nachbarländer.

Europa sei keine Transferunion, lautet der Tenor in der deutschen Öffentlichkeit. Genau das ist die EU aber. „Sie ist angelegt auf den Ausgleich der Wohlfahrtsunterschiede zwischen den Staaten“, weiß etwa der frühere deutschen Finanzminister Hans Eichel – einer der wenigen Politiker im Land, die für rasche Griechenland-Hilfe eintreten: „Sozialer Ausgleich war der Grundgedanke der Gründungsväter Europas.“ Und tatsächlich hätten eigene Anstrengungen und Hilfen der Stärkeren – in hohem Ausmaß auch der Deutschen – überall dazu geführt, dass die Beitrittsländer stark aufgeholt haben. „Die Wanderungsbewegungen, die es vorher in Europa gab, haben weitgehend aufgehört“, bilanziert Eichel.

Dass die EU letztlich auch eine Institution der Umverteilung ist, wollen die Deutschen immer weniger einsehen – wie überhaupt eine Abwendung von Europa zu registrieren ist. Einst waren sie europäische Musterschüler. „Deutsch sein heißt europäisch sein, das gehört zusammen – hoffen wir, für immer“, hatte Altkanzler Willy Brandt am Tag der Wiedervereinigung gesagt. Und Helmut Kohl, einer seiner Nachfolger, verkündete: Deutschland ist unser Vaterland, Europa unsere Zukunft.“

In der Ära Merkel blüht aber das, was ein Funktionär der Europäischen Zentralbank „deutschen Wirtschaftsnationalismus“ nennt – der seine Ergänzung im xenophoben Boulevardmief finde: So wie man „im Euro bloß die harte Deutsche Mark mit anderem Namen“ sehen wolle, so glaube man, dass alle EU-Länder dem deutschen Wirtschaftsmodell folgen müssten, analysiert der Banker.

Die Regierung Merkel hat bereits in der Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahres jegliche gemeinsame europäische Lösung hintertrieben – offenbar in der Annahme, jeder müsse für sich aus dem Schlamassel herausfinden. In der vielfach beklagten Tendenz zur Renationalisierung Europas ist Deutschland heute Avantgarde. Da mag nun Merkels Bremsen in der Griechenland-Frage innenpolitisch motiviert gewesen sein – man wollte nicht vor den kommenden Wahlen in Nordrhein-Westfalen Milliarden-Hilfszusagen an Athen machen –, aber hinter dieser Politik dürften tiefere Beweggründe stecken.

„Das Grundproblem besteht darin, dass die neue politische Klasse und die intellektuelle Elite in Deutschland zunehmend eine emotionelle Distanz zu Europa aufbauen“, diagnostiziert der deutsch-französische Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit. Und er mutmaßt sogar, dass Merkels Griechenland-Politik auch die Schwächung des Euro zum Ziel hat: „Ich bin überzeugt, dass die Regierung, indem man die griechische Situation verkommen lässt, ganz gezielt den Euro abwerten wollte, um weiter die eigenen Exporte steigern zu können.“ Tatsächlich wurde die Gemeinschaftswährung auf den verunsicherten Märkten verkauft und verlor an Wert. Die deutsche Exportwirtschaft nahm dagegen einen kräftigen Aufschwung.

Die Schuldnerländer haben jedenfalls kein Interesse an einem Austritt aus der Eurozone: Sie müssten ihre Schulden teurer zurückzahlen, und gegen ihre neuen alten Währungen würde wüst spekuliert werden. Deutschland könnte freilich, sollte es sein Wirtschaftsmodell in der EU nicht durchsetzen, versucht sein, aus der Euro-Allianz auszusteigen, analysiert Rainer Münz vom EU-Weisenrat, um gleich hinzuzufügen: „Aber dafür gibt es keine Anzeichen.“ Bisher zumindest. Aber bleibt das auch so? Ein Ausscheiden des bevölkerungsreichsten und ökonomisch bei Weitem potentesten Landes Europas aus der Eurozone würde jedenfalls den Tod der gemeinsamen Währung be­deuten.


IV. Das Brüssel-Risiko Gefahrenpotenzial: mittel

Die Griechenland-Krise machte es nur zu deutlich. Die EU verfügt über keine ausreichenden Instrumente für die Bewältigung von Krisensituationen innerhalb der Eurozone. Der Mangel an Vorkehrungen, um bei Schieflagen einzelner Länder in geordneter Weise eingreifen zu können, ist eklatant.
Die Europäische Währungsunion leidet an einem Geburtsfehler. Die EU-Staats- und Regierungschefs beschlossen Ende 1991 die Einführung einer gemeinsamen Währung, glaubten aber, dass die so genannten Maastricht-Kriterien – eher willkürlich gesetzte Grenzen für Budgetdefizit, Gesamtschulden und Inflation – ausreichten.

Die Aufgabe der D-Mark war der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten. „Stark wie die Mark“ sollte aus Sicht der Regierung von Helmut Kohl die neue Währung werden. Die EZB mit Sitz in Frankfurt sollte lediglich die monetäre Politik verwalten und sich auf die ­Inflationsbekämpfung konzentrieren. Ein politisches Gegenüber zur Zentralbank, also die Etablierung einer Art Wirtschaftsregierung, wie sie Frankreich wiederholt forderte, wurde von vornherein abgeblockt.

Man saß damals dem neoliberal gefärbten Trugschluss auf, dass der freie Markt ohnehin alles regeln würde. Das Gegenstück zur Währungsunion, die „politische Union“, wurde von Anfang an unterbewertet und auf eine bloße Koordination der Außenpolitik beschränkt.

Die Abstimmung der Wirtschaftspolitiken der EU-Staaten blieb marginal. Die Regierungen wollten sich vor allem im Steuerbereich nichts vorschreiben lassen. Auch ein Vorstoß, soziale Kriterien wie die Arbeitslosenrate als zusätzliche Messlatte für den Euroraum einzuführen, stieß auf massive Ablehnung.

Zum anderen haben die Maastricht-Kriterien einen weiteren Schönheitsfehler: Sie sind schwer durchsetzbar, die vorgesehenen Sanktionen zahnlos und kontraproduktiv. Wie sollte ein Euroland, das ins Trudeln gerät, hohe Strafzahlungen an die gemeinsame Brüsseler Kasse leisten, ohne damit noch weiter abzustürzen? Außerdem verließ man sich bei der Kontrolle der Budgetdaten auf die Angaben der Mitgliedsländer und lehnte ein Einschaurecht für Experten der EU-Kommission ab. Gerade der Fall Griechenland zeigt, wohin das führen kann.

Die Schwächen der Maastricht-Kriterien konnte man bereits im Jahr 2005 erkennen: Ausgerechnet die Deutschen, die Einpeitscher der Forderung nach Haushaltsdiszi­plin, verstießen, so wie auch Frankreich, gegen die Maastricht-Regeln. Der Stabilitätspakt wurde in der Folge aufgeweicht und in einen „Wachstums- und Stabilitätspakt“ umgewandelt. Seither war klar, dass Defizitsünder keine Sanktionen mehr befürchten mussten. Die jährlichen Berichte der EU-Kommission über die Haushaltslage wurden zwar oft als Mahnschreiben verschickt, aber die Angst vor solchen „blauen Briefen“ hielt sich in Grenzen.

In der von den USA ausgehenden Finanzkrise schützte der Euro weitgehend vor gezielten Attacken von Spekulanten. Das britische Pfund verlor dagegen deutlich an Wert. Vor allem Irland wäre ohne den Euro ähnlich wie Island in den Staatsbankrott geschlittert.

Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise stimmten sich die EU-Staats- und -Regierungschefs erfolgreich in der Unterstützung notleidender Banken ab. In Kooperation mit dem Internationalen Währungsfonds und den führenden Industrienationen in der G20 wurden auch neue Regelungen für die Finanzmärkte beschlossen. Doch der anfangs festzustellende Eifer sollte bald enden. Forderungen nach einer unabhängigen Europäischen Ratingagentur blieben ebenso folgenlos wie das verlangte Verbot von höchst spekulativen Leerverkäufen von Aktien und Anleihen oder die scharfe Kontrolle des CDS-Marktes. Die versprochenen Finanzmarktregelungen oder eine Steuer auf Finanztransaktionen lassen noch immer auf sich warten.

Die europäischen Staaten verfielen zusehends in nationalen Egoismus. Der Ökonom Stephan Schulmeister vermisst eine expansive Strategie der Euroländer. „Es besteht die Gefahr, dass die Länder nach der Devise ,Rette sich, wer kann‘ nur mehr ­Eigeninteressen verfolgen.“ Damit droht eine Abwärtsspirale, etwa durch die verordneten Sparprogramme, die auch die Konjunktur dämpfen. „Einzelne EU-Länder könnten versucht sein, die Nachfrage nach Produkten anderer Länder zu beschränken und ähnlich wie in der Weltwirtschaftskrise des vorigen Jahrhunderts einen Wettlauf nach unten zu starten“, warnt Schulmeister. Und das gerade in einer Situation, in der sich die europäische Koordination der Wirtschaftspolitik geradezu aufdrängt.

„Nach der Geldpolitik ist es nun hoch an der Zeit, die beiden anderen makroökonomischen Größen zu koordinieren: die Fiskal- und auch die Lohnpolitik“, erklärt der frühere deutsche Finanzminister Hans ­Eichel. Doch dafür fehlt in der EU offenbar der politische Wille. Und weit und breit sind keine Politiker mit Führungskraft auszu­machen, die europäisch denken und einen neuerlichen Schritt der Integration wagen würden.

Der Wiener Investmentbanker Willi Hemetsberger formuliert eine besorgniserregende Prognose: „Europa braucht eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Wenn das nicht passiert, wird sich der Euroraum mittelfristig auflösen.“ Dabei würden sich aber nicht die „schwachen Länder“ verabschieden, sondern vielmehr die „starken“. In der Folge könnte sich eine Gruppe stabiler und reicher Staaten rund um Deutschland eine neue Binnenwährung geben, eine Art ­„E-Mark“. So unwahrscheinlich das aus ­heutiger Sicht noch klingen mag – in ­europäischen Staatskanzleien sollen entsprechende Überlegungen zumindest als „Exit-­Szenario“ kursieren. Das freilich würde das endgültige Aus für den Euro bedeuten – und den Anfang vom Ende des europäischen Projekts.