Exklusiv: Horrorstudie zur Staatsschuld

Exklusiv: Horrorstudie zur Staatsschuld - Realitätsverweigerung der Regierung

Realitätsverweigerung der Regierung

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Die Sprachlosigkeit dauert nie länger als einen Tag. Dann aber ist der Teufel los, wie zwei Vorfälle der jüngsten Vergangenheit belegen. Am 23. Juli dieses Jahres hatte die OECD, die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa, verlautbart, dass Österreich mit seinen Ausgaben für Pensionen an der OECD-Spitze rangiert und daher eine Pensionsreform dringend angeraten ist. Tags darauf gab der Sozialminister eine empörte Gegendarstellung ab: Die Studie sei für ihn „nicht nachvollziehbar“, das österreichische System „stabil und sicher“.

Vor knapp zwei Wochen stach die in Paris ansässige Organisation erneut in ein Wespennest: Österreichs Lehrer hätten weniger Schüler zu unterrichten als Kollegen in anderen OECD-Ländern, und sie verbrächten überdies deutlich weniger Zeit im Klassenraum. Die Lehrer vergaßen sich und ihre Vorbildwirkung, griffen zu Formulierungen wie „Blödsinn“ und versuchten mittels undurchsichtiger Rechenbeispiele, die OECD-Forscher zu widerlegen.

Internationale Studien und Vergleiche sind hierzulande willkommen wie die Schweinegrippe. Sie schrecken die Bevölkerung auf und untergraben das Macherimage der Politik. Und das kann dieses beschauliche Land so gar nicht brauchen, obwohl es dringend nötig wäre. Die jüngste Studie des ehemaligen Leiters des Wirtschaftsforschungsinstituts, Helmut Kramer, im Auftrag des Management-Clubs zeigt, mit welcher Kurzsichtigkeit hierzulande Zukunftsfragen behandelt werden. Sie belegt, wie Österreich bei internationalen Organisationen mit wolkigen Formulierungen Sparwillen vorgaukelt und mit optimistischen Prognosen drohende Finanzierungsprobleme leugnet. Die mangelnde Einsicht zeitigt fatale Folgen: Dem Budget droht eine Verschuldungsspirale, die auf Dauer nicht mehr zu beherrschen sein wird. Die Augen-zu-und-durch-Politik droht die sozialen Systeme in die Pleite zu treiben.

Kramer hat als Chef des Wifo von 1981 bis 2005 viele Finanzminister kommen und gehen sehen. An eine Begebenheit erinnert er sich sehr gut: Er habe einem Finanz­minister Sparmaßnahmen vorgeschlagen, die der Ressortchef für sinnvoll gehalten habe, aber auch für unpopulär und langfristig. Und deshalb winkte er ab: „Das käme ja meinem Nach-Nachfolger zugute.“

Leben für die Umfragen, Überleben bis zum nächsten Wahltag – nach diesem Motto werden seit Jahren Probleme aufgeschoben. Doch mittlerweile ist das Ende der Fahnenstange erreicht. In den vergangenen Jahren hat es die Regierung verabsäumt, das Budget zu sanieren und die Staatsverschuldung zu senken. Nun ist kein Spielraum mehr vorhanden, denn die – durchaus notwendigen – Mehrausgaben für krisenbedingte Maßnahmen verschärfen die Situation zusätzlich. Wie die der meisten europäischen Staaten wird auch Österreichs Neuverschuldung die von der EU erlaubte Grenze überschreiten. 4,7 Prozent Defizit kündigte ­Österreich für 2010 an, doch das erscheint Brüssel allzu optimistisch. Von 5,3 Prozent geht die EU, von 6,1 Prozent die OECD aus.

Laut jüngsten, offiziellen OECD-Prognosen wird sich Österreich noch 2017 mit einer Staatsverschuldung von 84 Prozent herumschlagen müssen (die unveröffentlichten Zahlen gingen von 98 Prozent aus). Die EU-Kommission skizziert in einer Risiko-Analyse vom Juli, dass die Verschuldung des heimischen Budgets im Jahr 2035 sogar an der 140-Prozent-Marke kratzen könnte. „Ob man diesen Szenarien entkommt, hängt von der Entschlossenheit der Regierung ab. An dieser sind berechtigte Zweifel angebracht“, sagt Kramer.

Skepsis. Die EU-Kommissionsdienststellen teilen diese Skepsis offenbar, wie aus ihren Kommentaren zum heimischen Stabilitätsprogramm hervorgeht. Zu optimistisch ­seien die Wirtschaftsprognosen, die Österreichs Sparpfad zugrunde liegen; auffallend positiv die prognostizierten Staatseinnahmen und die Effekte automatisch gesteigerter Ausgaben. Österreichs Absichtserklärungen, mit denen Effizienzsteigerung und Einsparungen angekündigt werden, erschöpfen sich in Sätzen wie „Arbeitsgruppen sind gegründet“. Das Prinzip Hoffnung als Programm? Das Finanzministerium verteidigt sich mit Verweis auf den Zeitpunkt der Budgeterstellung im April. Diese habe auf den März-Prognosen basiert, die Auswirkungen der Krise hätten aber erst im Sommer voll durchgeschlagen. Daher die optimistischen Annahmen.

Virulent wird es bei den Kostentreibern des Systems, also Pensionen, Pflege und Gesundheit. 2009 regte der Ecofin-Rat einen Anti-Ageing-Report an, um den alterungsbedingten Mehraufwand in den EU-Mitgliedsstaaten abschätzen zu können. Finanzministerium, Sozialressort und Statistik Austria erarbeiteten den Beitrag. Hier werden etwa im Pensionsbereich kostendämpfende Maßnahmen angeführt, die von der Realität längst überholt sind. Die Frühpensionen will Österreich stoppen, heißt es beispielsweise. Aber allein von Jänner bis Juni dieses Jahres wurden 15.000 neue Anträge unter diesem Titel gestellt.

Das Kalkül ist offensichtlich: Die Bevölkerung soll nicht aufgescheucht werden, denn „die Beunruhigung der Menschen da draußen grenzt fast an Hochverrat“, ätzt Kramer. Seinen Berechnungen zufolge wird der budgetäre Mehraufwand für die Bereiche Gesundheit, Pflege, Pensionen und Klimaschutz im Jahr 2035 um sechs Prozentpunkte des BIP höher liegen als von der Regierung angegeben (2,3 Prozent des BIP). Auf das BIP 2009 umgelegt, wären dies 24 Milliarden Euro.

Dabei wäre der Wähler offenen Argumenten durchaus aufgeschlossen, wie eine aktuelle Umfrage des OGM-Meinungsforschungsinstituts ergab. Zuerst wurde erhoben, ob der einzelne Bürger mehr Eigenleistungen übernehmen sollte – vorgegeben waren 16 Lebensbereiche, von Gesundheit über den Gratiskindergarten bis zur Sicherheit. Die Mehrheit war dagegen und bevorzugte den Ausbau staatlicher Unterstützung. 55 Prozent meinten, dies sei auch ­finanzierbar. In einem nächsten Schritt wurde gefragt, ob der Staat für diese Leistungen neue Schulden aufnehmen sollte. Dies verneinten 59 Prozent. Danach wurde noch einmal erhoben, in welchen Lebensbereichen sich die Befragten mehr finanzielle Eigenverantwortung vorstellen könnten – und siehe da: Nachdem ihnen die Budget- und Schuldenproblematik bewusst geworden war, befürworteten sie nur noch in drei Punkten mehr staatliche Mittel: Gesundheit, Pflege und Sicherheit.
„Die Bevölkerung erkennt Probleme sehr wohl, und man kann sie ihr auch erklären“, sagt OGM-Forscher Wolfgang Bachmayer. Der Fehler liege bei den Politikern: „Indem sie ständig neue Versprechungen und Ansagen machen, bauen sie Hürden auf, die sie nicht mehr überspringen können.“ Die Pflege ist gesichert, lautet eine dieser Ansagen. Doch was dieses Versprechen kostet, will die Regierung offenbar nicht so genau wissen.

Selbst dann, wenn heimische Studien klare Aussagen treffen, werden die Ergebnisse noch nach unten revidiert. So hat etwa das Wirtschaftsforschungsinstitut eine Prognose für den Pflegebereich bis 2030 erarbeitet, die auf einen Kostenanstieg von über einem Prozentpunkt in den kommenden zwei Jahrzehnten hinausläuft. Trotzdem meldete Österreich für den Anti-Ageing-Report lediglich 0,6 Prozentpunkte. Zur Veranschaulichung: Die kleine Differenz von 0,4 Prozentpunkten entspricht ­einer Milliarde Euro.

Besondere Kurzsichtigkeit herrscht im Bildungsbereich. Aufgrund sinkender Schülerzahlen spekuliert das Finanzministerium auch mit sinkenden Ausgaben bis 2035. Dabei schneidet das heimische Bildungssystem in allen internationalen Umfragen unterdurchschnittlich ab. Nun entscheidet nicht zuletzt der Bildungsgrad über die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Daher dürfen Einsparungen „nicht einmal dem Wunschdenken des Finanzressorts entspringen. Das ist politisch schlicht unvertretbar“, heißt es in der Studie von Helmut Kramer.

Effizienter könnten freilich die Verwaltung und die Organisation sein, was jedoch einen Dauerkonflikt mit der Lehrergewerkschaft provozieren würde. Der Versuch der Bildungsministerin vom Frühjahr, das Unterrichtspensum der Lehrer leicht anzuheben, war ein Schritt in Richtung effiziente Organisation. Doch nach massiven Protesten der Interessenvertreter knickten Kanzler und Vizekanzler ein. Claudia Schmied musste nachgeben – und wurde in der Folge vom Wähler in der Beliebtheitsskala nach unten durchgereicht.

Unbeliebt will ein Politiker schon gar nicht sein. Doch für Beliebtheitswettbewerbe „ist die Zeit abgelaufen“, befindet Herbert Paierl, heute Chef des Management-Clubs und vormals steirischer Wirtschaftslandesrat. „Das Budget lässt keinen Spielraum mehr.“ Sparmaßnahmen, vor allem im Verwaltungsbereich, müssten dringend in Angriff genommen werden. Davon war bei der jüngsten Klausur der Regierung keine Rede.