Facebook und Profilneurosen

Facebook: Die erfolgreichste Beziehungsmaschine der Welt

Digitales Leben. Die erfolgreichste Beziehungsmaschine der Welt

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Vergangene Woche ist es passiert, fast ohne Vorwarnung und von einem Tag auf den anderen: Ich wurde aufgewertet beziehungsweise upgegradet und hatte plötzlich ein neues Benutzerprofil beziehungsweise Leben. Es war besser bebildert als das alte, ein bisschen übersichtlicher und eigentlich ganz praktisch. Für mich und für die Leute, die mit mir Geld verdienen wollen, auf Facebook, dem sozialen Online-Netzwerk, in dem außer mir noch über 900 Millionen Menschen leben beziehungsweise tratschen, flirten, Zeit verplempern. Das ist jeder zwölfte Mensch und jeder vierte mit Internetzugang.

Dass Facebook die Welt verändert, ist jedem Facebook-User klar; letzte Woche hat es sich auch noch selbst verändert und die persönlichen Seiten seiner User neu gestaltet. Was einen unerhörten Vorgang darstellt, fast so unerhört, als würde mein Vermieter über Nacht mein Zimmer umbauen. Schließlich verbringe ich einen Gutteil meines Lebens in Facebook, unterhalte mich mit Freunden und Bekannten, flirte und streite, sehe mir Fotos und Videoclips an, lese Nachrichten und Gerüchte, arbeite und mache Unsinn. Aber in der kalifornischen ­Facebook-Zentrale schert man sich traditio­nellerweise nicht um solche Bedenken, was dem Unternehmen schon mehrfach schwere Konflikte mit seinen Kunden beschert hat, die allerdings bis dato ohne Folgen ­geblieben sind, zumindest ohne negative.

Facebook wächst und gedeiht:
Von den über 900 Millionen registrierten Usern loggt sich die Hälfte täglich ein. Bei gleichbleibendem Wachstum wird Facebook im August 2012 eine Milliarde Mitglieder haben. Weltweit werden mehr als 700 Milliarden Minuten pro Monat auf Facebook verbracht, täglich im Durchschnitt 100 Millionen Fotos hochgeladen (am Neujahrswochenende waren es 750 Millionen). Pro Minute werden auf ­Facebook 230.000 Nachrichten versandt, 82.000 Statusmeldungen gepostet und fast 100.000 Freundschaften geknüpft. Das Netz wächst, und es lässt sich weder durch unsensibles Management noch durch schlechte Presse davon abhalten.

Facebook-Ente.
Am 9. Jänner titelte das US-Magazin „Weekly World News“ mit einer Sensationsmeldung: Am 15. März werde ­Facebook seinen Betrieb einstellen. Das Blatt zitierte Mark Zuckerberg, den 26-jährigen Unternehmensgründer: „Facebook geriet außer Kontrolle. Der Stress, dieses Unternehmen zu führen, hat mein Leben ruiniert.“ Nun, die Meldung erwies sich als Ente und Zuckerbergs Leben, soweit man das beurteilen kann, als weitgehend unruiniert. Noch am selben Tag vermeldete ein Facebook-Mitarbeiter auf der Facebook-Seite von Facebook (32.177.219 Freunde): „Wir hier haben kein Memo bekommen, dass wir zusperren. Also arbeiten wir weiter wie immer.“ Und das heißt: weiter an der Veränderung der Welt.

Auf seiner privaten Facebook-Seite (900 Freunde) deklariert Mark Zuckerberg wie jeder andere Facebook-User seine persönlichen Interessen, darunter: „Minimalismus“ und „Revolutionen“. Beides hat der Sohn eines Zahnarztes und einer Psychiaterin mit dem Netzwerk, das er im Februar 2004 in einem Studentenwohnheim in Harvard startete und dessen Wert von der Investmentbank Goldman Sachs Anfang 2011 mit 50 Milliarden Dollar beziffert wurde, sehr effizient verknüpft. Facebook ist simpel und revolutionär. Jeder kann es bedienen (sogar die über 40-Jährigen, die in den letzten Monaten die am stärksten wachsende User-Gruppe darstellten), und jeder wird durch Facebook verändert, vor allem was sein Selbstverständnis und Sozialverhalten betrifft, sowie natürlich seine Freizeitgestaltung. Facebook hinterlässt Spuren. Denn Facebook ist mehr als nur ein Medium, mehr als Telefon oder Fernsehen, weil Facebook eben nicht nur Kommunikation und Konsum ermöglicht, sondern auch eine ganz ­eigene Art der Selbstdarstellung und -vermarktung. Man ist in Facebook und man ist durch Facebook. Das soziale Netzwerk wird zum Leitmedium.
Davon abgesehen ist Facebook für jeden etwas anderes, zum Beispiel: „eine Art Sitcom“ (Thomas Glavinic, Schriftsteller, 541 Freunde), „ein nettes unsoziales Spielzeug, mit dem man Telefonieren verlernt“ (Tex Rubinowitz, Zeichner und Musiker, 1259 Freunde), „eine geniale Erfindung“ (Natalia Ushakova, Sopranistin, 856 Freunde), „ein digitaler Stammtisch“ (Christoph Chorherr, Politiker, 3049 Freunde), „eine Art Dorfgemeinschaft“ (Doris Schretzmayer, Schauspielerin, 240 Freunde), „eine Möglichkeit, über meine berufliche Tätigkeit zu informieren“ (Klaus Albrecht Schröder, Albertina-Direktor, 1363 Freunde). Die Liste ließe sich noch weiter variieren, eine zen­trale Eigenschaft wird Facebook aber durchgehend attestiert: seine Unverbindlichkeit. Kommentare können ernst gemeint sein oder nicht, Fragen beantwortet werden oder nicht, Freundschaften gepflegt werden oder nicht oder irgendetwas dazwischen. Facebook hat ein spielerisches Element, Persönlichkeiten und Beziehungen werden flüssig. Das macht in erster Linie Spaß, gibt in zweiter Linie aber auch Anlass zur Sorge.

Die New Yorker Soziologin und Psychologin Sherry Turkle, Professorin für Soziologie der Technik am MIT, äußert sich in ihrem demnächst erscheinenden Buch ­„Alone Together“ besorgt über die Zukunft menschlicher Beziehungen im Online-Netzwerk. Turkle geht davon aus, dass neue Technologien wesentliche Effekte auf das menschliche Innenleben ausüben und dass das soziale Netzwerk, in dem wir uns aufhalten, unsere psychischen Stukturen prägt. Dass diese Prägung keine positiven Auswirkungen hat, steht für Turkle fest: „Die unerbittliche Verbundenheit führt zu einer neuen Einsamkeit“, schreibt sie; die pure Facebook-Kommunikation führe zu einer „emotionalen Entwurzelung“. Denn wie gesagt: Das Leben bekommt in Facebook einen zutiefst unverbindlichen Charakter. Freundschaft, wie wir sie kennen, beruht aber eben auch auf Verpflichtung und ­Verantwortung. Nicht ausgeschlossen, dass Facebook auch das ändert: Elias Aboujaoude, Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung in Stanford, meint dazu: „Das Leben ähnelt immer mehr einem Chatroom.“

Am Abend des 25. Dezember 2010 schrieb Simone Back, 42, aus Brighton in Südengland, auf ihre Facebook-Seite: „Ich habe jetzt alle Pillen genommen und werde bald tot sein, also macht’s gut.“ Einige ihrer 1048 Facebook-Freunde diskutierten daraufhin auf Backs Seite, ob es sich wohl um einen Scherz handle, einige hatten auch hämische Kommentare parat, auf die Idee, nach Back zu sehen oder jemanden zu verständigen, kam niemand. Am 26. Dezember war Simone Back tot und ließ nicht nur ihre Facebook-Freunde mit ein paar bangen Fragen zurück: Zählt Freundschaft auf Facebook tatsächlich so wenig? Gibt es im Netz denn gar keine Empathie? Ist alles nur noch Jux und Plauderei?

Natürlich kann aus dem Extremfall keine Theorie destilliert werden. Bernadette Kneidinger, Kommunikationswissenschafterin an der Universität Wien, hat soeben eine soziologische Studie zu Beziehungen in sozialen Netzwerken veröffentlicht ­(„Facebook & Co“, VS Verlag, Wiesbaden) und kommt zu einem differenzierteren Ergebnis. „Wir haben im Zuge unserer Studie erhoben, dass vor allem relativ schwache ­Sozialkontakte, zum Beispiel zu Arbeits­kollegen oder entfernten Bekannten, durch Facebook intensiviert werden.“ Diese Beziehungspflege setze sich aber auch jenseits von Facebook fort: „Man verlagert die Kontakte auch ins Reale: Es wird wieder öfter telefoniert, man trifft sich.“

Jan-Hinrik Schmidt vom Hamburger Hans-Bredow-Institut für Medienforschung bestätigt dieses Ergebnis: „Facebook wird zum überwiegenden Teil dazu genutzt, bestehende Kontakte zu pflegen. Auch wenn es sich um flüchtige Verbindungen handeln mag, bleibt die Beziehung doch über lange Strecken und Zeiträume erhalten. Das entspricht auch dem Zeitgeist: Menschen leben in immer diffuseren Netzwerken, weil sie viel mobiler sind als früher und sehr viel flexiblere Biografien haben. Netzwerken wird damit zu einer immer wichtigeren Kulturtechnik.“ Bernadette Kneidingers Fazit: „Insgesamt bewirkt Facebook einen Zuwachs an Sozialkapital.“

In intimeren Beziehungen kann sich gerade dieser Zuwachs aber auch schnell als Verlust erweisen, nicht nur im Bezug aufs soziale Kapital. Laut der American Academy of Matrimonial Lawyers hat bereits jeder fünfte Scheidungsfall in den USA seine Ursache oder seinen Auslöser in Facebook, das den Anwälten zunehmend auch als Beweismittel für außereheliche Fehltritte dient. Zudem fördert das soziale Netzwerk die Eifersucht in Partnerschaften, wie Bernadette Kneidinger erläutert: „Dieser Effekt konnte in US-Studien eindeutig nachgewiesen werden. Man erfährt über Facebook mehr über den Partner, als dieser selbst mitteilen würde – etwa über Ex-Partner und deren Verhältnis zueinander. Und natürlich werden Seitensprünge oder Fremdflirts über das Netzwerk schneller publik.“

Die US-Studienergebnisse decken sich mit der österreichischen Alltagsempirie. Ferdinand Sarnitz, 22, Musiker (alias Left Boy) erinnert sich „doch an einige unangenehme Situationen“ in seinem Bekanntenkreis: „Etliche Beziehungen gingen durch Facebook zu Ende, weil jemand unvorsichtigerweise auf jemandes Wall gepostet hat oder auf einem Foto zu sehen war, auf dem er nicht zu sehen hätte sein sollen.“ Umgekehrt hätte Facebook aber auch die Beziehungsanbahnung wesentlich verändert, um nicht zu sagen vereinfacht: „Wenn Mädchen fesch sind, werden sie natürlich geaddet. Dann kannst du sie anpoken oder ihre Fotos liken, und schon hast du einen Flirt.“ Was nicht immer auf Gegenseitigkeit beruhen muss, wie die Sopranistin Natalia ­Ushakova bemerkt hat, für die das soziale Netzwerk während ihrer Auslandsengagements „so etwas wie einen Heimat- und ­Familienersatz“ darstellt: „Ich bin vorsichtiger geworden, zum Beispiel wenn es darum geht, meine Handynummer weiterzugeben. Schon einige angeblich berufliche Facebook-Kontakte haben sich als Dating-Versuche erwiesen.“ Ushakova ist übrigens glücklich verheiratet.

„Gefällt mir“.
Neben ihrer Unverbindlichkeit zeichnet Facebook-Beziehungen eine eigenartige Form von Gleichförmigkeit aus. Mit meiner Tante bin ich im sozialen Netzwerk auf dieselbe Weise befreundet wie mit meiner Chefin. In Facebook wird alles gleichermaßen mit „gefällt mir“ goutiert, sei es die neueste Nike-Werbung oder die Geburtstagsgrüße vom besten Kumpel; die Zwischentöne, die menschliche Beziehungen ausmachen, gehen verloren, weil Facebook-Verhältnisse auf binären Entscheidungen beruhen – „gefällt mir“ oder nicht. Echte Beziehungen sind im Normalfall ein bisschen komplexer. Diese Tatsache kritisiert der New Yorker IT-Pionier Jaron Lanier in seinem Buch „You Are Not a Gadget“: Der Mensch reduziert sich im Netzwerk selbst, das komplizierte Wuchern einer Persönlichkeit ist digital nicht darstellbar. Das Individuum, eigentlich unteilbar, beschränkt sich darauf, zu teilen, wie das im Facebook-­Jargon genannt wird: Statusmeldungen, Freundschaftsangebote, Empfehlungen, allesamt viel eindeutiger, als das menschliche Fühlen und Denken je sein könnte.

Seltsamerweise wird aber dieses Fühlen und Denken gerade von Facebook über Gebühr in Beschlag genommen: Im Vorjahr baten Forscher des Interna­tional Center for Media and the Public Agenda (ICMPA) der Universität Maryland eine Gruppe von Studenten, 24 Stunden lang auf sämtliche Medien zu verzichten – Fernsehen, Internet, Handy, Musik – und ihre Erfahrungen zu protokollieren. Vor allem das Herausfallen aus dem sozialen Netz wurde dabei als intensiv unangenehm erlebt. Die Studienteilnehmer berichteten von Stimmungstiefs und Einsamkeitsgefühlen, selbst wenn sie sich in öffentlichen Räumen bewegten. „Information Deprivation Disorder“ nannten das die Autoren und erklärten: „Das entscheidende Ergebnis unserer Studie ist, dass sich das Verhältnis der Studenten nicht nur zu Nachrichten und Informationen, sondern auch zu Familienmitgliedern und Freunden verändert hat.“ Digitale Beziehungen würden gegenüber realen bevorzugt, weil sie schneller und kontrollierbarer seien.

Beim Stichwort Kontrolle denken Datenschützer üblicherweise nicht an Beziehungen, sondern an Serverfarmen, auf denen massenhaft intimes Wissen lagert. Tatsächlich weiß Facebook fast alles über seine User, weil sie es ja bereitwillig mitteilen, und es verschweigt auch nicht, was es mit diesem Wissen zu tun gedenkt: Werbung machen. Schließlich wollen die Renditeerwartungen erfüllt werden. Facebook-User nehmen das meist ohne gröbere Konflikte in Kauf und verweisen darauf, dass die Warnung vorm gläsernen Menschen inzwischen ohnehin sehr stark nach Vergangenheit klingt und Privatsphäre im Netz längst anders definiert ist. Das sieht nicht jeder so. In einer Titelgeschichte stellte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ jüngst „das Netz der Späher“ an den Pranger und mene­tekelte: „Computer durchleuchten das digitale Ich, um seine Wünsche, Sorgen und Absichten zu ergründen.“ Was daran so schlimm sein soll, blieb unklar.

Tatsächlich ist Facebook-Werbung für Vermarkter so etwas wie der Heilige Gral, attraktiver noch als Googles personalisierte Werbeeinschaltungen (die Facebook ähnlich gut beherrscht): Facebook-User werden selbst zu Werbetreibenden, durch ihr „gefällt mir“ empfehlen sie ihren Freunden auch jede Menge Konsumgüter: neues Handy – gefällt mir; neuer Film – gefällt mir. Und Facebook arbeitet eifrig daran, dieses Prinzip noch auszuweiten: Der „Gefällt mir“-Button ist längst nicht mehr nur auf Facebook zu finden, sondern auch auf Nachrichtenplattformen, Blogs, Onlineshops und -Videotheken. Facebook wuchert.

Gefällt uns das?
Nicht zwangsläufig. Aber wir werden zwangsläufig lernen müssen, damit umzugehen. Die Strategien dafür sind so vielfältig wie die Facebook-Nutzungsweisen: skeptische Authentizität wie bei der Schauspielerin Doris Schretzmayer, die ihre Facebook-Kommunikation „möglichst persönlich“ betreibt, „auch wenn mir bewusst ist, dass Facebook alles andere als persönlich ist – man kann schließlich schreiben und behaupten und darstellen, was man will, alles kann ehrlich sein oder eine Erfindung“. Oder spielerischer Unernst wie beim Zeichner und Musiker Tex Rubinowitz: „Es ist ja ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich in Facebook in die Oberflächlichkeit begibt, dass hier keine Aufrichtigkeit oder Verbindlichkeit herrscht. Wer erwartet, dass hier wichtige Dinge verhandelt werden, hat schon verloren.“ Oder zurückgelehntes Amüsement wie beim DJ Richard Dorfmeister: „Facebook ist total idiotisch und sehr inspirierend.“ Und ganz unverbindlich, natürlich.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.