Fatale Nebenwirkungen

Fatale Nebenwirkungen bei Bruno Kreisky

profil-Serie. Haben US-Ärzte Bruno Kreiskys krankes Auge falsch behandelt und so sein Nierenleiden dramatisch verschlecht

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Als Dr. Peter Grün 1990 seine Augenarztpraxis in der Wiener Josefstadt aufgab, war er schon ein alter Herr. Vierzig Jahre lang hatte er in der Albertgasse ordiniert. Jetzt war es Zeit zu gehen. Seine Kundenkartei hinterließ er dem Nachfolger.

Dessen Sohn Dr. Anton Hommer, der die Augenarztpraxis heute führt, las den vorwöchigen profil-Bericht über das Augen­leiden von Altkanzler Bruno Kreisky, das am Beginn der langen Krankengeschichte des Jahrhundertpolitikers gestanden war.

Kreisky hatte behauptet, er habe sich nach der Eröffnung des Arlbergtunnels im Dezember 1979 derart über seinen Finanzminister Hannes Androsch aufgeregt (dieser war angeblich betrunken zu einem Empfang erschienen), „dass ich an diesem Abend auf einem Auge erblindet bin“. Stimmt so nicht, sagen andere: Dem Bundeskanzler sei bei der Tunneleröffnung von einem vorbeifahrenden Auto ein Steinchen ins Auge geschleudert worden. Wegen einer Fehlbehandlung sei diese Verletzung dann irreversibel geworden.

Dr. Hommer, der vergangene Woche Kontakt mit profil aufnahm, wusste es besser: Er hatte in den alten Unterlagen seines Ordinations-Vorvorgängers Dr. Grün eine Karteikarte gesehen, die einen sehr bekannten Namen trug: Bruno Kreisky. Und er wusste daher auch, warum sich das Nierenleiden Kreiskys nach der Behandlung seines erkrankten Auges so rapide verschlechterte: Ärzte in Boston, bei denen der verzweifelte Kanzler Hilfe gesucht hatte, hatten ihm mit einem hoch dosierten Medikament schwer zugesetzt.

Kreisky hatte laut Krankenakt an jenem denkwürdigen Dezemberabend 1979 am Arlberg einen Gefäßverschluss im Auge erlitten, der wohl Folge von Kreiskys Grundkrankheiten war: Der damals 68-jährige Kanzler litt – was der Öffentlichkeit nicht bekannt war – seit Langem an Bluthochdruck und Diabetes, beides auch Risikofaktoren für Gefäßverschlüsse im Auge.
Diese können dramatische Folgen haben, bis hin zur völligen Erblindung. Wie profil von prominenten Wiener Augenchirurgen bestätigt wurde, würde ein solcher „Augeninfarkt“ heute chirurgisch durch eine Laserbehandlung der Netzhaut nach Entfernung des Glaskörpers behandelt werden – eine Operationsmethode, die damals noch recht neu war, an der 2. Augenklinik des alten Wiener AKH aber bereits durchgeführt wurde.

Kreisky begab sich am AKH allerdings in die Obhut der 1. Augenklinik, wo man diese Methode noch nicht praktizierte. „Wir haben uns damals sehr gewundert, dass man den Bundeskanzler nicht zu uns gebracht hat“, erinnert sich ein damals an der 2. Augenklinik arbeitender Arzt.
Stand Konkurrenzdenken am Beginn des langen Leidenswegs Kreiskys? Hätte er sich alle Folgeleiden, die schließlich im Juli 1990 zu seinem Tod im Alter von 79 Jahren führten, ersparen können, hätte man damals am AKH richtig reagiert?

Dreißig Jahre danach sind fast alle Beteiligten schon gestorben oder längst in Pen­sion. Dennoch lässt sich die Fehlerkette in der Behandlung anhand des in der Ordination in der Albertgasse zurückgelassenen Krankenakts ziemlich genau nachverfolgen.

Hoch dosiert.
Kreisky war im April 1981, einige Monate nach dem Fehlschlag bei der Behandlung am Wiener AKH, erbittert in die USA gereist. Man hatte ihm das mit der Harvard-Universität verlinkte Bostoner „Retina Institute“ empfohlen. Die augenmedizinische Spitzenklinik war vom Belgier Charles Schepens gegründet worden, einem Mann, der Kreisky nicht nur wegen seines hervorragenden Rufs als Augenchirurg imponierte. Der gleichaltrige Schepens hatte in der französischen Résistance gegen Hitler gekämpft und jüdische Flüchtlinge über die Pyrenäen-Grenze nach Spanien gebracht (er starb 2006).

Wie aus dem von Dr. Hommer gefundenen Krankenakt hervorgeht, wurde in Boston bei Kreisky ein „Sekundärglaukom“ diagnostiziert, Folge des unzureichend therapierten Gefäßverschlusses. Bei einem Glaukom (früher „grüner Star“ genannt) steigt der Augeninnendruck, was sukzessive den Sehnerv schädigt und schließlich zu völliger Erblindung führen kann. Die Erkrankung kann im besten Fall gestoppt oder verlangsamt werden, reparierbar ist ein bereits eingetretener Schaden am Sehnerv nicht.

Die Ärzte in Boston, auch das geht aus dem Krankenakt hervor, behandelten Kreisky mit dem Medikament Diamox, das auf dem Wirkstoff Acetazolamid beruht. Dieser wird zur Senkung des Gehirndrucks (etwa nach Schädel-Hirn-Traumen) aber auch zur Senkung des Augeninnendrucks bei Glaukompatienten eingesetzt.

Freilich:
Acetazolamid ist eine mit großer Vorsicht anzuwendende Arznei. Als „häufige Nebenwirkung“ werden „Störungen des Wasserhaushalts, Störungen des ­Mineralhaushalts, Kaliummangel, Blutzuckersteigerung“ beschrieben. Im Beipackzettel ist darum auch angeführt, wann das Mittel Diamox nicht angewendet werden darf: bei Nieren- und Lebererkrankungen.

Zu diesem Zeitpunkt litt Kreisky allerdings bereits an einer Schrumpfniere, wie sein damaliger Internist, Dr. Anton Neumayr, gegenüber profil bestätigt: „Er war Diabetiker und Hypertoniker, seine Nieren­erkrankung war seit Jahren schleichend verlaufen.“ Hatte er dies seinen Bostoner Ärzten verheimlicht, oder hatten sie ihn nicht ausreichend untersucht?
Laut dem nun aufgefundenen Krankenakt verordneten sie Kreisky pro Tag 1000 Milligramm des heiklen Wirkstoffs, die ­absolute Höchstgrenze bei diesem Medikament. Laut Anleitung liegt die Dosis bei Dauerbehandlung nur bei 125 bis 500 Milligramm täglich. Kreisky bekam trotz seiner kranken Niere also bis zum Achtfachen der empfohlenen Dosis.

An seiner Sehkraft änderte das nichts: Sein Auge war durch das Sekundärglaukom schon zu stark geschädigt. „Und durch die Medikation haben sie ihm dann auch noch die Niere endgültig ruiniert“, glaubt ein Wiener Augenarzt.

Wenige Monate nach der Behandlung des Auges versagte sie den Dienst, Kreisky musste zur Dialyse. Im März 1983 sollten die nächsten Nationalratswahlen stattfinden. Der Gesundheitszustand des Bundeskanzlers wurde zum Wahlkampfthema. In dieser Situation beauftragte er ein prominentes Ärzteteam mit einem medizinischen Gutachten, das der ÖVP den Wind aus den Segeln nehmen sollte.
Die Ärzte nahmen den Auftrag ( „Ich bitte um objektive Feststellung, politische ­Opportunitätsgründe dürfen keine Rolle spielen“) allerdings zu ernst. Vor der Ver­öffentlichung legten sie den Befund im Mai 1982 dem Kanzler vor. Der „lebensbedrohliche Zustand der letzten Monate“ sei gebannt, hieß es da, aber es blieben zwei Probleme: „Die Gefahr der Überforderung des Herzens und die eingeschränkte Nierenfunktion.“ Ein solcher Befund half Kreisky in der innenpolitischen Auseinandersetzung wenig. Er forderte einen „überarbeiteten“ Bericht, der wenig später prompt eintraf. Bloß der Internist Anton Neumayr weigerte sich, bei dieser „Verschönerungsaktion“ mitzutun. Der heute 90-jährige Arzt: „Er hat mir das lange nicht verziehen, aber später eingesehen, dass ich nicht anders handeln konnte.“

Kreiskys gesundheitliche Schwächen ließen sich ohnehin nicht länger verheimlichen. 1983 zog er sich nach dem Verlust der absoluten Mehrheit aus der Politik zurück, 1984 musste ihm eine Niere transplantiert werden. Die sechs Jahre, die ihm danach noch verblieben, waren von vielen Erkrankungen gekennzeichnet. Zuletzt versagte auch sein zweites Auge. Als er im Juli 1990 starb, war Bruno Kreisky erblindet.