Feindberührung beim Tschad-Einsatz

Reportage. Auf der Suche nach dem Feind

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Wenn Mark Brownen wollte, dann könnte er jetzt Tod und Vernichtung entfesseln, einen verheerenden Feuersturm, der die Halb­wüste bis hinüber nach Goz Beida in ein Schlachtfeld verwandeln würde: Commandant Brownen, Offizier der irischen Armee, als Soldat der EU im Tschad stationiert, steht vor dem Waffendepot der Militärbasis Camp Ciara und mustert sein Arsenal.

Da sind Drohnen, die er über den Himmel jagen könnte, um seine Gegner aufzuspüren. Die Granatwerfer, die ihre Sprengladungen über fünf Kilometer weit verschießen. Die schweren Maschinengewehre, die 550 Projektile in der Minute ausspucken. Die Panzerfäuste, die bis zu einem halben Meter dicke Stahlplatten durchschlagen. Brownen wuchtet eine davon, Typ Carl Gustav, Kaliber 84 mm, hoch und linst durch die Zielvorrichtung. „Just to let them know: We’ve got the bigger stick“, sagt er. („Nur damit sie es wissen: Wir haben den größeren Knüppel.“)

Sie: Das sind die Bewaffneten, die den Osten des Tschad unsicher machen – Banditen auf der Jagd nach leichter Beute bei wehrlosen Zivilisten, Rebellen im Kampf gegen Regierungstruppen, Schmuggler, Menschenräuber und all die anderen Desperados, die hier im Grenzgebiet zur sudanesischen Bürgerkriegsregion Darfur ihr Unwesen treiben. Goz Beida, Bezirk Dar-Sila, Region Ouaddai, Tschad, Zentralafrika. Nach Brownens Heimatstadt Cork sind es von hier aus 5350 Kilometer, nach Brüssel 4500, nach Tschads Haupstadt N’Djamena 700, in den Sudan 70.

Dass es in dieser gottverlassenen Gegend das Camp Ciara gibt, mit rund 400 Mann eine von vier großen Militärbasen der EU-Truppe Eufor im Osten des Tschad, kam so: Seit Beginn der Darfur-Krise im Jahr 2003 herrscht entlang der Grenze Anarchie. Im Tschad sind fast 480.000 Menschen auf der Flucht – Sudanesen vor den feindlichen Milizen und Regierungstruppen, Tschader vor Übergriffen bewaffneter Banditen, Menschen aus der südlich gelegenen Zentralafrikanischen Republik vor dem Chaos in ihrer Heimat.

Missionen. Nachdem die internationale Gemeinschaft vier Jahre lang untätig zugesehen hatte, beschlossen die Vereinten Nationen 2007 Maßnahmen, mit denen die Region befriedet werden soll: zwei Blauhelm-Missionen, eine im Sudan, die inzwischen mehr schlecht als recht in Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union begonnen hat, und eine zweite im Tschad, die kommendes Jahr starten soll. Bis dahin hat es die Europäische Union mit der Eufor übernommen, für die Sicherheit der Zivilbevölkerung und der Hilfsorganisationen im Tschad zu sorgen – ohne anfangs wirklich zu wissen, worauf sie sich dabei einlassen würde.

3700 europäische Soldaten aus 14 Nationen in einer absolut komplexen, länderübergreifenden Konfliktsituation: Im 350.000 Quadratkilometer umfassenden Einsatzgebiet der Mission Eufor Tschad/RCA (das Kürzel steht für Zentralafrikanische Republik; Anm.) ist es nicht nur aufgrund der Distanzen schwer, den Überblick zu behalten. Der Bürgerkrieg in Darfur zeigt dort ebenso Auswirkungen wie die Feindschaft zwischen dem Tschad und dem Sudan, die dazu führt, dass beide Länder mit den Rebellen des jeweils anderen paktieren. Im Februar hätten vom Sudan unterstützte Milizen um ein Haar das Regime des Tschad gestürzt, im Mai drangen Guerilleros vom Tschad aus bis in die sudanesische Hauptstadt Khartum vor. Und um die Sache vollends zu komplizieren, stellt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich nicht nur das größte Kontingent der zur strikten neutralitöt verpflichteten Eufor, sondern schützt gleichzeitig mit anderen Soldaten auch das Regime von Idriss Déby, dem Langzeit-Diktator des Tschad.

Entsprechend heftig war anfangs die Debatte über die Mission – besonders in Österreich, das sich mit 160 Soldaten daran beteiligt: Einen „Kampfeinsatz im Bürgerkriegsgebiet“ prophezeite der grüne Sicherheitssprecher Peter Pilz, ein „Himmelfahrtskommando“ wähnte BZÖ-Generalsekretär Gerald Grosz. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache gruselte sich vor dem „afrikanischen Hexenkessel“ und forderte, als das Vorkommando des Bundesheers tatsächlich in einen Rebellenangriff hineingeriet, entsetzt: „Holt unsere Jungs heraus!“ Eine der am häu­figsten diskutierten Fragen war, ob Österreicher auch auf Kindersoldaten schießen würden. Die Militärs selbst sahen die Lage zwar weniger dramatisch, aber keineswegs unbesorgt. „Wir haben mit Gefechten gerechnet“, erinnert sich Oberst Heinz Assmann, Kommandant des österreichischen Kontingents.
„Ein gefährlicher Einsatz? Auf jeden Fall. Der gefährlichste in der Geschichte des Bundesheeres? Wohl kaum“, schrieb profil damals.

Kreuzfeuer. Inzwischen ist es 100 Tage her, seit die Eufor Mitte März offiziell ihre „initial operating capability“ bekannt gegeben hat, also den Beginn ihrer Einsatzfähigkeit. Mehr als 2000 europäische Soldaten sind bereits im Land, wöchentlich landen neue Kontingente. Von den ursprünglich skizzierten Horrorszenarien ist bisher keines einge­treten. Und das, obwohl vor ein paar Tagen alles darauf hinzudeuten schien, dass Commandant Brownen den ganz großen Knüppel brauchen würde.

Am späten Vormittag des Samstag, 14. Juni, fegte von Osten her eine Staubwolke auf Goz Beida zu. An die 80 tarnfarbene Toyota-Pickup-Trucks bretterten durch die Wüste, wie üblich mit aufgepflanzten Maschinengewehren und jeweils zehn bis 15 abenteuerlich uniformierten Kämpfern auf den Ladeflächen: eine der zahlreichen Rebellenfraktionen, die gegen das Regime in N’Djamena kämpft – laut diplomatischer Sprach­regelung der Eufor so genannte „nicht identifizierte bewaffnete Elemente“. Wenig später wurde in Goz Beida geschossen. Zwischen den Fronten im Kreuzfeuer: Commandant Brownen und dutzende andere irische Soldaten.

Goz Beida, als zweitgrößte Stadt der Region Ouaddai von strategischer Bedeutung, hat offiziell 29.544 Einwohner, einen Gouverneur, vor dessen Haus ein paar gelangweilte Soldaten mit Kalaschnikows herumlungern, eine Gendarmeriewache, bei der sich kein Uniformierter blicken lässt, eine Zollstation, ein staatliches Justizgebäude und ein Scharia-Gericht sowie eine große, erst kürzlich neu errichtete Moschee. Ein paar Kilometer östlich des Zentrums befindet sich der Flugplatz – unbefestigte Piste, kein Abfertigungsgebäude, kein Tower, nicht einmal ein Funkgerät. Am Ende der Landebahn haben die irischen Eufor-Truppen ihr Camp aufgebaut.

Westlich der Stadt, die von bis zu 1000 Meter hohen Bergrücken umgeben wird wie von einem Wall, liegt das vom UN-Flüchtlingshochkommissariat Unhcr eingerichtete Lager Djabal, in dem nach jüngster Zählung 15.855 Vertriebene aus dem Sudan leben. Dazu kommen einige hundert Einheimische, die Schutz vor der Gesetzlosigkeit in den Dörfern suchen. Nicht zu vergessen mehr als 200 Mitarbeiter von rund zwei Dutzend Hilfsorganisationen, die in der Gegend tätig sind. Sie alle soll die Eufor beschützen.

Rund um die Flüchtlingslager hat sich eine eigene Ökonomie entwickelt. Wer dort Unterschlupf findet, ist – abgesehen davon, was sie oder er zuvor erlitten hat – vergleichsweise privilegiert. Die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen haben ein System entwickelt, das die Ansprüche und Bedürfnisse der Vertriebenen penibel katalogisiert. Für jede Person, die in einem vom Unhcr organisierten Lager registriert ist, sollen mindestens 2100 Kalorien Nahrung und 15 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung stehen. In Djabal waren es im vergangenen Monat sogar 19 Liter. Dafür konnte das World Food Programm (WFP), zuständig für die Essensversorgung, nur durchschnittlich 1700 Kalorien pro Person auftreiben.

Was ihnen von ihren Rationen übrig bleibt, verkaufen die Flüchtlinge an die Einheimischen. Mehl und Öl, Salz und Zucker sind am Markt von Goz Beida ohnehin Mangelware. Djabal, seit Jahren in Betrieb, hat sich mittlerweile zu einer eigenen Stadt entwickelt – Schulen wurden dort gebaut, Geschäfte eröffnet und Bäume gepflanzt. Vor ihrer strohgedeckten Lehmhütte nimmt Kalthuma Duma Abdelkarim, 18, aus Darfur ihre fünfjährige Tochter in den Arm und erzählt die Geschichte, die hier alle in ähnlicher Form erzählen können: wie sie mit ihrer Familie jenseits der Grenze in einem abgelegenen Dorf lebte, bis eines Tages die Bewaffneten kamen; wie die Fremden vergewaltigten, brandschatzten und töteten; wie sie ihren Mann aus den Augen verlor und ihn seither nicht wieder gesehen hat, inzwischen vier Jahre lang. Und wie sehr sie hofft, dass er noch am Leben ist und sie sucht.
Kalthuma sagt: „Ich habe Sehnsucht nach Darfur.“

Als vorvergangenen Samstagvormittag die Rebellen nach Goz Beida kamen, mussten die Eufor-Soldaten zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in der Region Helme aufsetzen und Splitterwesten anlegen. Normalerweise treten sie betont unmartialisch auf, die Gewehre laut Vorschrift in „nicht aggressiver Weise“ umgehängt, Sonnenhüte auf den Köpfen. Während die Aufständischen ins Zentrum von Goz Beida vordrangen, wurde Commandant Brownen in die Nähe des Flüchtlingslagers Djabal beordert, wo bereits andere Eufor-Einheiten Stellung bezogen hatten. Von Camp Ciara aus führt der Weg dorthin allerdings direkt durch die Stadt – und damit zwischen die Fronten. Der Konvoi geriet zwischen „unidentifizierten bewaffneten Elementen“ und Regierungstruppen ins Kreuzfeuer, nicht gezielt, sondern „wahrscheinlich irrtümlich in der Verwirrung des Gefechts“, wie Commandant Stephen Morgan, Sprecher der Eufor in Goz Beida, gegenüber profil sagt. In dieser Situation begannen auch die Iren zu ballern, allerdings nur in die Luft. Morgan: „Als die Truppe das Feuer erwiderte und sich klar als Eufor identifizierte, hörte die Schießerei sofort auf.“

Der Rest war fast schon Routine: die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen ins Camp Ciara evakuieren und Patrouille fahren, um die Kämpfe von den Flüchtlingslagern fernzuhalten. Was die Eufor nicht verhindern konnte, waren Plünderungen. Dem Unhcr wurden etwa Satellitentelefone, Moskitonetze und Plastikplanen gestohlen, anderen Organisationen kamen Fahrzeuge abhanden. Die Bilanz der Auseinandersetzungen: ein Toter und 20 verletzte Zivilisten im Stadtgebiet von Goz Beida. Über die Verluste der Rebellen und der Regierungstruppen ist nichts bekannt. „Die Flüchtlinge waren von den Kampfhandlungen jedenfalls nicht bedroht“, resümiert Roland Schönbauer, Sprecher des Unhcr in Österreich. Die Flüchtlinge: Ihr Schutz war von Beginn an das Hauptargument, einer potenziell skeptischen Öffentlichkeit in Europa den Eufor-Einsatz zu verkaufen.

Als der österreichische Verteidigungsminister Norbert Darabos im April den Tschad besuchte, brachten ihm Kinder ein Willkommensständchen dar. „Wir sind Menschen aus Darfur und wollen in unsere Heimat zurück“, sangen sie, und der Sozialdemokrat durfte sich seinen Kritikern in der Heimat gegenüber voll und ganz im Recht fühlen. Der humanitäre Einsatz ist allerdings nur ein Aspekt. Dahinter stehen geopolitische Überlegungen, die lieber hinter vorgehaltener Hand geäußert werden. Da murmeln Diplomaten beispielsweise, man müsse den Chinesen zuvorkommen, die sich in Afrika breitmachen, Rohstoffe abbauen und dafür wahlweise mit Geld oder Waffen zahlen, ohne ihren Geschäftspartnern in den Regimes lästige Fragen zu stellen. Andere machen sich Sorgen wegen der möglichen Ausbreitung eines militanten Islam südlich der Sahara, gegen den europäische Präsenz notwendig sei. Die Rede ist auch von der Gefahr, dass ein Kollaps der Region einen gewaltigen Flüchtlingsstrom nach Norden und einen Dominoeffekt nach Süden hin auslösen könnte – bis ins zerrüttete Gebiet der „Großen Seen“ zwischen dem Kongo, Uganda und Ruanda: „Wir haben 500 Millionen Euro investiert, um das Chaos dort halbwegs einzudämmen“, sagt ein europä­ischer Diplomat. „Das Geld wollen wir nicht verlieren.“

Entschuldigung. Von geopolitischen Planspielen ist Commandant Brownen so weit entfernt wie Goz Beida von Brüssel. Für ihn reduzieren sich die Überlegungen auf eine ganz pragmatische Frage: Wo ist die Gefahr für die Eufor, die Flüchtlinge und die Hilfsorganisationen? Von den Aufständischen geht sie offenbar nicht aus. Nach ein paar Stunden war der Spuk vorbei. Die Rebellen verkündeten die Befreiung von Goz Beida sowie des gesamten Bezirks Dar Sila und zogen am Nachmittag Richtung Norden weiter, während die Stadt umgehend wieder von den Regierungstruppen übernommen wurde. Rebellenführer Mahamat Nouri entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, die seine Milizen der Eufor bereitet hätten. Der Zwischenfall sei „unglücklich und bedauerlich. Die Eufor-Mission ist gerechtfertigt, ihre Soldaten sind uns willkommen.“ Ein mindestens so großes Sicherheitsrisiko wie in den Rebellen sehen die Iren in den Blindgängern, die nach bewaffneten Auseinandersetzungen wie jener vom 14. Juni massenhaft im Gelände liegen bleiben: Von zehn Patronen aus russischer oder chinesischer Produktion versagen im Schnitt acht oder neun, um später spielenden Kindern in der Hand zu explodieren.

Bleiben die Banditen, kleine Gruppen von Bewaffneten mit Kalaschnikows, die in der Gegend ihr Unwesen treiben – vor allem an Markttagen, wenn viele Menschen mit Geld und Waren unterwegs sind – und die bislang sofort Reißaus nahmen, wenn die Eufor auftauchte. „Den großen militärischen Gegner gibt es nicht“, resümiert Oberst Heinz Assmann (siehe Seite 64). Und er wird so bald wohl auch nicht auftauchen. Dieser Tage beginnt im Tschad die Regenzeit. Dann sind die Straßen unpassierbar, Rebellen können keine Angriffe, Banditen keine Raubzüge durchführen. Inzwischen hat sich die Lage wieder beruhigt. In Goz Beida fährt Commandant Brownen im Jeep Patrouillen, palavert mit den Dorfältesten, scherzt mit den Kindern, grüßt die Offiziere der Regierungsarmee, die auch wieder da sind. Den „bigger stick“ hat er nicht gebraucht, aber das sei ihm ohnehin nur recht, sagt er: „Die beste Waffe ist immer noch mein Mundwerk.“ Dann schaut er nach oben, wo von Süden her ein paar Wolken in einen blassblauen Himmel ausflocken. Bald wird es wohl regnen.

Von Martin Staudinger, Goz Beida/Tschad