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Fernsehen: Heiland für einen Tag

Heiland für einen Tag

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Früher war Johnny Rotten einmal Sänger bei den Sex Pistols, der wichtigsten Punkband aller Zeiten, die 1977 mit „Anarchy in the UK“ das britische Empire ein bisschen nervös machte. Ab kommender Woche wird John Lydon, wie er tatsächlich heißt, wieder das Kleinbürgertum Englands schocken, diesmal via TV, in einem von Deutschen abgewohnten Dschungelcamp in Australien. Lydon soll in „I’m a Celebrity – Get Me Out of Here!“ den unberechenbaren Anarchisten markieren. Das ist sehr traurig. Man muss sagen, zum Glück ist Elvis schon tot.

John Lydon lebt noch, und schon die Sex-Pistols-Reunion ließ 1996 ahnen, dass er offenbar nicht mehr alle Sinne beisammenhat. Immerhin meinte er damals, alle Mitglieder hätten einen guten Grund für die Wiedervereinigung, „nämlich euer Geld“. Das klingt zwar desillusionierend, aber wenigstens auch ehrlich. Allerdings dürfte Lydon laut britischen Medien dieser Tage keine Geldsorgen mehr haben, weshalb es nur progressive Demenz oder hirnerweichende Langeweile sein kann, die den Ex-Punk in den Dschungel treibt – mit einem Ex-Boxenluder, einem Ex-Fußballer, einem Ex-Betrüger und einem Ex-Mitglied der Pop-Quietschentchenformation Atomic Kitten.

Man darf jedenfalls froh sein, auf hiesigen TV-Geräten nicht mitansehen zu können, wie sich Johnny Rotten erniedrigt, indem er grausliche Dinge nicht wie früher deshalb tut, weil er Freude daran und am Schock seines Publikums hat, sondern weil es ihm irgendein zweitklassiger Moderator angeschafft hat.

Wie widerstandslos jede verlangte Selbsterniedrigung von den jeweiligen Befehlsempfängern vollzogen wird, konnte man vor kurzem zwei Wochen lang im Spätabendprogramm des Privatsenders RTL studieren. „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“, die deutsche Version der in England mittlerweile schon zum dritten Mal anstehenden Ekel-Show, führte dem zunehmend begeisterten Publikum zehn deutsche Semi-Zelebritäten auf dem Weg zur untersten Stufe öffentlicher Entwürdigung vor. Fast alle erreichten diese Stufe früher oder später irgendwann. Zum Sieger wurde vergangene Woche der abgehalfterte Schlagerstar Costa Cordalis gekürt.

Ich bin ein Star ...“ ist ein soziologisch interessantes Experiment, das zeigt, dass es möglich ist, nicht nur Unterschicht-Zlatkos („Big Brother“), sondern auch bereits bekannte und teilweise verdiente Mitglieder der Society dazu zu bringen, Dinge zu tun oder zu erdulden, die sie sich im richtigen Leben unter Androhung polizeilicher Gewalt verbitten würden. Man muss nur ein wenig Geld springen lassen und das richtige soziale Umfeld etablieren – in diesem Fall ein Dschungel-Getto abseits des westlichen Alltagshorizonts – und dessen Mitglieder davon überzeugen, dass der gewohnte Wertekatalog vorübergehend außer Kraft und Selbstachtung bloß ein relativer Wert ist, den man sich ruhig mal eine Zeit lang abkaufen lassen kann. In einem solcherart hermetisch verschlossenen Moral-Vakuum sind erwachsene, nicht offiziell geisteskranke Menschen offenbar schon unter minimalem Druck dazu bereit, lebende Maden zu essen, sich Kakerlaken in die Hose zu schütten, den Kopf in ein Schlangenterrarium zu stecken, in Fischabfällen zu baden und das alles für sich selbst als positive, horizonterweiternde Lebenserfahrung zu verbuchen.

Dabei spielt der Heiland-Faktor eine interessante Rolle: Als vergangenen Dienstag Costa Cordalis nach der letzten Idiotenprüfung zum Dschungelkönig ausgerufen wurde, war die Tortur für ihn längst noch nicht vorbei: Cordalis musste im Sinne einer endgültigen Demütigung auf einem Holz-thron Platz nehmen und sich eine Farnkrone aufsetzen lassen. Diese Dornenkronen-Allegorie passt gut zu jenem Drucksystem, das erst dazu führen konnte, dass sich die Teilnehmer die psychischen und physischen Quälereien überhaupt gefallen ließen: Denn die Grusel-Prüfungen waren stets gekoppelt mit dem Heilsversprechen, dass das erduldete Leid des Probanden (der sozusagen als Freelance-Dschungel-Jesus das jeweilige Kreuz auf sich nimmt) stellvertretend das Leid seiner Kollegen zu lindern imstande ist. Angesichts einer solchen moralischen Keule kann sich nicht mal ein hysterischer Angsthase wie Daniel Küblböck verweigern.

Allerdings handelt es sich bei den Leidenden nicht um hungernde afrikanische Kinder, nicht um obdachlose iranische Erdbebenopfer, nicht um Kriegsflüchtlinge – sondern um ein paar gelangweilte, publicitygeile Wohlstandsgewinnler, die mal Ferien vom Konsumalltag machen und sich bei ihrem zerstreuungssüchtigen Publikum wieder in Erinnerung rufen wollen. Und um den Leidensgefährten komplette Mahlzeiten zu sichern, überwinden die jeweils gewählten Akut-Heilande ihre Ängste und ihr Grausen und robben durch einen Glastunnel voller Stinkeschleim, um Plastiksterne einzusammeln, die dann sozusagen das Heil, also zum Beispiel eine gerettete Vorspeise, symbolisieren. Da aber nicht immer alle Vorspeisen gerettet werden können, freuen sich am Ende alle fickerig über den Erfolg der Zwangsdiät. Zur Lebenserfahrung gibt’s gratis auch noch die bessere Figur – danke liebes Fernsehen!

Natürlich gibt es immer auch Kritiker, die das Verbot derartiger TV-Formate fordern, doch das verkürzt das Phänomen auf eine Anbieterproblematik. Tatsächlich handelt es sich ebenso sehr um eine Publikumsproblematik, weil „Trottelfernsehen“ halt nur dann funktioniert, wenn es genug Trottel gibt, die es sehen wollen – im Fall von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ bis zu 8,33 Millionen Deutsche und um die 250.000 Österreicher.

An diesem Punkt werden die Privatsender üblicherweise von schlagartigen Anfällen von Demokratiebewusstsein geschüttelt – weil man dort natürlich der Meinung sein muss, dass acht Millionen Zuseher nicht irren können. Da irren die Programmmacher leider. Weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, bei Vertrottelung handle es sich um ein individuelles Phänomen oder schlimms-tenfalls um ein Minoritätenproblem, weil, klar: Sobald die Vertrottelung innerhalb der Bevölkerung die 50-Prozent-Marke überschritten hat, sind immer die anderen die Trottel. So weit ist es noch nicht, aber Marktanteile von fast 45 Prozent lassen die TV-Sender hoffen.

Alle, die noch nicht verblödet genug sind, um das Vertrottelungsparadoxon zu durchschauen, fordern in solchen Fällen bereits traditionell ein Recht auf Verblödung – ausgehend von der fragwürdigen Annahme, dass sie zu jener intellektuellen Elite gehörten, die in ihrem Alltag auf vielfältige und aufreibende Weise dazu beiträgt, dass die Welt besser, klüger, verantwortungsbewusster oder wasauchimmer werde – weshalb sie nach getanem Tagwerk zur Entspannung sozusagen das Recht auf Teilzeit-Deintellektualisierung beziehungsweise auf eine Feierabend-Verblödung einfordert.

Lieb gemeint, aber damit macht man es sich doch etwas leicht. Vielleicht, und jetzt wird es sehr moralisch, muss der Umgang mit dem Fernsehen geändert werden. Manche Dinge tut man in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht (Behinderte verspotten, Frauen diskriminieren, Batterien in den Restmüll werfen) – und dieser konsensuelle Ehrenkodex ließe sich ausweiten: Manche Dinge schaut man nicht. Quasi eine Freiwillige Selbstkontrolle moderner Art und ein neuer Stolz darauf, nicht zu den Trotteln zu gehören.

Falls man sich dazu entschließt, hat man jetzt und in näherer Zukunft jede Menge Gelegenheiten, sich in der TV-Askese zu suhlen: „EL – Der Millionär“ einfach nicht anschauen, eine Serie, in der derzeit auf RTL II zehn Frauen von einem Dachdecker verarscht werden, der sich in „Bachelor“-Manier als Millionär ausgibt; „Betrogen – Ich habs geahnt“, auslassen, wo man sich auf ATV+ am amourösen Unglück anderer Leute delektieren könnte; nicht einmal nachschauen, wann „Travel Sick“, die Abenteuer eines ekelsüchtigen Reisenden, auf VIVA gespielt werden; und sowieso – das ist leicht – ganz auf „Dismissed“ (MTV, ORF) verzichten. Und gar nicht erst nicht wissen wollen, wann die zweite Staffel von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“, die neue Grusel-Reality „Fear Factor“ und die neue Endlosstaffel von „Big Brother“ starten.

Dass Reality-TV nicht grundsätzlich idiotisch sein muss, hat RTL II – vermutlich irrtümlich – Ende vergangenen Jahres bewiesen: Mit einer mehrteiligen Dokumentation, in der es sich ein paar draufgängerische Jugendliche auf vielerlei Niveaus besorgten, und zwar, indem sie einen reichen, berühmten Superstar fertig machten. Allerdings ging es in „Jamie’s Kitchen“ tatsächlich um etwas, nämlich um Ausbildung, Arbeit und die Zukunft von 15 sozial unterprivilegierten britischen Jugendlichen.

In sieben nervenzerfetzenden Folgen konnte man sehen, wie der britische Starkoch Jamie Oliver nicht nur von Architekten und Handwerkern, sondern vor allem von jenen 15 Jugendlichen nach Strich und Faden ausgenutzt und gepiesakt wurde, mit denen er in London das Restaurant „Fifteen“ aufsperren wollte. Der gute Onkel Oliver hatte nicht damit gerechnet, dass seinen Schützlingen das reibungslose Gelingen eines sozialen Projekts ziemlich wurscht war, weil ihnen, eigentlich logisch, ihre eigenes Wohlergehen und Einkommen, ihre Freizeit, Selbstverwirklichung und mediale Präsenz wesentlich wichtiger erschienen. Am Ende reichte es dennoch für ein Restaurant mit 15 Arbeitsplätzen – das ist jedenfalls viel mehr als ein entwürdigendes Foto von Costa Cordalis mit Farnkrone.

Verglichen mit dem würdelosen Dschungel-Schrecken, ist das ORF-Vehikel „Starmania NG“, über das man sonst viel Böses sagen kann, ein kleines Übel. Gewonnen hat vergangenen Freitag Armin mit dem 60-Zähne-Strahlen, aber man darf ruhig prophezeien, dass ihm nach den dramatischen Quoteneinbrüchen der „Starmania“-Fortsetzung ein anhaltender Popularitätserfolg wie jener der zweitplatzierten Christina aus der ersten Staffel versagt bleiben wird.

Der damalige Sieger Michael Tschuggnall scheint sich inzwischen überhaupt frustriert zurückgezogen zu haben. Er trug übrigens bei einem Gastauftritt zum Auftakt der zweiten Staffel ein T-Shirt mit dem Aufdruck „The Great Rock & Roll Swindle“ – so war 1979 eine Filmdoku über Johnny Rottens Sex Pistols betitelt. Am Ende finden sich halt doch alle im großen Unterhaltungsschleim wieder.