Film: Höllensturz. Britischer Regietitan

Film: Höllensturz

Alfred Hitchcock und sein Einfluss auf die Popkultur

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Die Angst ist ein verlässlicher Partner auf dem Weg ins Unbewusste. Es handle sich bei der Furcht „um einen außergewöhnlichen Erregungszustand, und die Ärzte sagen, es gebe keinen, der unsere Vernunft stärker aus der Fassung brächte“, notiert im späten 16. Jahrhundert Michel de Montaigne im zweiten Buch seiner „Essais“. Einem Wegbereiter der Aufklärung musste der drohende Rückfall ins Irrationale naturgemäß dubios erscheinen; im Kino, jener finsteren Kunst der Phantome und Voyeure, gilt der künstlich erzeugte panische Schrecken jedoch als Triumph und Alfred Hitchcock als ihr Chefdesigner.

An Hitchcock kommt niemand vorbei, der die Massenmedien nicht lückenlos boykottierte. Von der globalen Popularität dieses Regisseurs können selbst Regiestars wie Martin Scorsese, Quentin Tarantino und Steven Spielberg nur träumen. Hitchcock ist eine Weltmarke, ein Popstar, der von Konjunkturen längst unabhängig ist – das Label Hitchcock steht heute, gut dreißig Jahre nach dem letzten Film des Londoners, mehr denn je für die rare Kernfusion von künstlerischer Kompromisslosigkeit und kommerzieller Wirkung, von technischer Virtuosität und philosophischer Tiefe. Die bösen Visionen Alfred Hitchcocks sind allgegenwärtig und in tausend Variationen erhältlich, in Videoclips, Werbespots und Fernsehkrimis vervielfacht und verewigt: das Messer hinter dem Duschvorhang, der Attentäter im Konzertsaal, der Mord hinter dem Fenster eines Zinshauses.

In Hitchcocks Filmen, das fällt auf, drohen die Menschen unentwegt (und ganz buchstäblich) abzustürzen – die Vertikale ist der eigentliche Horizont dieses Kinos: Erlaubt ist, was fällt. In „Vertigo“ (1957) hängt James Stewart als Cop im Einsatz nach einem Fehltritt gleich zu Beginn von einer Dachrinne. Weit unter ihm: die Stadt, das Jenseits. Sein Kollege, der ihn zu retten versucht, stürzt selbst in die Tiefe. Der Rest des Films berichtet von einem lebenden Toten, einem schwer traumatisierten Polizisten außer Dienst und an der Klippe zum Tod. Die Höhenangst ist in den abgründigen Erzählungen Hitchcocks ein Grundgefühl. Der Sturz ist die letzte Konsequenz jener Existenzen, die Hitchcocks selbstzerstörerische Figuren führen. Moral spielt dabei keine Rolle. In „Blackmail“ (1929) fällt ein Unschuldiger durch das Glasdach des British Museum, in „Saboteur“ (1942) ein Verbrecher von der Freiheitsstatue, in „Der unsichtbare Dritte“ (1958) zappelt die junge Heldin an Cary Grants Hand am Abgrund, der sich unter den steinernen Präsidentenköpfen des Mount Rushmore öffnet.

Subversive Logik. Als Popstar musste der Selbstdarsteller Hitchcock – in nahezu jedem seiner Filme tritt der Regisseur als Randfigur, als Passant selbst kurz ins Bild – als eigentümliche Besetzung gelten. Der König des stilisierten Schreckens kultivierte persönlich einen seltsam gemächlichen Stil; Hitchcocks äußeres Erscheinungsbild (dunkle Anzüge, britische Noblesse, Glatze, Übergewicht) ließ eher an einen britischen Bankfilialleiter denken als an den Thriller-Revolutionär, der er war. Aber auch das gehörte zur subversiven Logik dieses Regisseurs: Sein filmisches Theater der Grausamkeit zeichnete sich vor dem Hintergrund eines ausgeprägt konservativen Auftretens nur umso deutlicher ab. Im Österreichischen Filmmuseum wird Hitchcocks Gesamtwerk ab 1. Dezember nun volle zwei Monate lang auf seine unbedingte Modernität hin überprüft.

Im spätviktorianischen London 1899 als Sohn eines Gemüsehändlers geboren, wächst Alfred Joseph Hitchcock, streng jesuitisch erzogen, fast zeitgleich mit dem Kino heran. 1920 tritt er seinen ersten Filmjob an: In der britischen Zweigstelle des amerikanischen Produktionsunternehmens Famous Players-Lasky wird er als Zwischentitelgestalter angeheuert. 1921 lernt er hier seine spätere Frau und engste Mitarbeiterin Alma Reville kennen. Hitchcock steigt schnell auf: 1923 wird er Regieassistent, 1925 legt er seine erste eigene Inszenierung vor – das in München als deutsch-britische Koproduktion gedrehte Melodram „The Pleasure Garden“. Bereits 1926, als Hitchcock die Regie seines dritten Films übernimmt, ist die Ära der Präludien vorbei: Die expressionistische Frauenmörderfabel „The Lodger“ weist in Stil und Sujet unmissverständlich auf spätere Hitchcock-Arbeiten voraus.

Jene fünf Dutzend Filme, die Hitchcock zwischen 1925 und 1976 dreht, erst noch in seiner Heimat, ab 1939 im Zentrum der US-Filmindustrie, tragen ihm einerseits eine Weltkarriere als „Master of Suspense“ ein, andererseits aber auch den Generalverdacht des künstlerischen Populismus. Als hochbegabter Regiekonfektionär wird Hitchcock, auch seiner Fernseharbeit wegen („Alfred Hitchcock presents“), noch in den sechziger Jahren von der sich als seriös begreifenden europäischen Filmkritik weit unter seinem Wert geschlagen. Nur die avancierte französische Kritik erkennt Hitchcocks Ausnahmestatus: Zwei junge Redakteure der „Cahiers du cinéma“, die späteren Nouvelle-Vague-Stilisten Eric Rohmer und Claude Chabrol, widmen den ersten 44 Filmen des Briten 1957 ein klug verdichtetes Buch, das in einer schlichten, aber zutreffenden Formel endet: „In Hitchcocks Arbeit schmückt die Form den Inhalt nicht aus, sie erschafft ihn.“ Dem Misstrauen der cinephilen deutschsprachigen Kritik tut dies indes keinen Abbruch. Noch 1966 hält Helmut Färber in der elitären „Filmkritik“ fest, die Arbeiten Hitchcocks zeichne aus, „dass man sie mit Kunst nicht verwechseln kann“.

Der auch theoretische Feinschliff, der Hitchcocks Filme prägt, wird angesichts ihrer technischen Meisterschaft und ihres hohen Unterhaltungswerts übersehen. Dabei ist in den Hauptwerken des Briten eine ästhetische Raffinesse am Werk, deren philosophische Implikationen eigentlich unübersehbar sind. Form und Idee sind bei Hitchcock eins. In den Details liegt die Kunst: Während das Blut der in der Duschkabine erstochenen Diebin in „Psycho“ (1960) im Abfluss versickert, vollzieht die Kamera die Spiralbewegung von Blut und Wasser nach, um in einem Super-Close-up des gebrochenen Auges gleichsam in den Kopf des Opfers vorzudringen. Den Sog der Spirale als filmische Form hat Hitchcock bereits in „Vertigo“ erprobt (unter anderem im hochgesteckten Haar der mysteriösen Kim Novak) – fast so, als habe er aus dem Inneren der Hollywoodfabrik noch auf die französische Avantgarde der zwanziger Jahre verweisen wollen, auf Marcel Duchamps Spiralplattenfilm „Anémic Cinéma“. Vieles an Hitchcocks hyperkünstlichem Kino wirkt tatsächlich, allem Entertainment zum Trotz, anämisch, bewusst spröde: ausgedacht am Seziertisch eines von exquisiten Gewaltkunstfantasien verfolgten Kinochirurgen.

Nekrophilie. Mit spürbarer Lust lotet Hitchcock die psychopathologischen Untiefen des scheinbaren Normalbürgerlebens aus, die fallweise bis zur Nekrophilie reichen. Er visualisiert Urängste, in bester surrealistischer Manier: Cary Grant wird in „Der unsichtbare Dritte“ (1959) von einem tief fliegenden Doppeldecker attackiert, allein auf weiter Flur, in der offenen Landschaft des amerikanischen Niemandslands. Die Tongestaltung ist bei Hitchcock nicht weniger kühn als seine Bilder. Die aggressiven Kompositionen Bernard Herrmanns, die viele seiner Hauptwerke begleiten, weichen in entscheidenden Augenblicken einer beklemmenden Stille. Hitchcock legt seine perfiden Fantastereien über die Stereotypen des Genres: Der Traum vom perfekten Verbrechen („Strangers on a Train“, 1951) und der verbotenen Schaulust („Das Fenster zum Hof“, 1954) wird eng an Identitätsprobleme und Persönlichkeitsspaltungen gebunden. Norman Bates (Anthony Perkins) denkt sich in „Psycho“ mit mörderischen Konsequenzen in den mumifizierten Schädel seiner Mutter, Scottie Ferguson (James Stewart) versucht sich in „Vertigo“ an der perversen Wiedererschaffung seines weiblichen Fetischwesens (Kim Novak).

Drastik. Die Aktivierung des Zuschauers ist das Ziel dieser Filme: Hitchcocks Helden handeln ähnlich wie deren Betrachter – sie suchen, erleben und ermitteln, lassen sich überraschen und in Angst versetzen. Die theatralische Anlage mancher Arbeiten („Bei Anruf Mord“; „Rope“) steht dazu keineswegs in Widerspruch: Hitchcocks Filme sind allesamt „artistisch“ konstruiert, setzen sich enge Grenzen, um die entfesselte kinematografische Vorstellungskraft ihres Regisseurs nur umso deutlicher zu beleuchten. Es gehörte zu den Wunschträumen Hitchcocks, einen ganzen Spielfilm nur in einer Telefonzelle zu drehen.

Um Drastik war er nie verlegen: Zu seinem Inszenierungsstil notierte Hitchcock 1949, dass es manchmal eben nötig sei, „die Dinge etwas breiter zu gestalten“; dies sei eine Regel, die „schon sehr früh im Filmgeschäft erkannt“ worden sei. „Die Maxime der Altvorderen war: im Zweifel immer lauter und schneller werden.“ Hitchcock war ein Showman par excellence, der sich für keinen Kalauer zu blöd war: Gern ließ er sich etwa in Make-up, Schmuck und Frauenkleidung fotografieren, weil er die Rückkoppelungen zu schätzen wusste, die sich zwischen seinen Filmen und dem bizarren Gebaren ihres Schöpfers ergaben.

Realismus hielt Hitchcock für verzichtbar. Im Interviewduett mit François Truffaut, das 1966 zu einem berühmten Buch („Le cinéma selon Hitchcock“; deutscher Titel: „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“) gebündelt wurde, proklamierte er sein Desinteresse an der Logik filmischer Plots: „Ich gestatte der Wahrscheinlichkeit nicht, ihr gemeines Haupt zu erheben.“ Das Spiel mit den Metaebenen des Kinos und den Instinkten seines Publikums hat bei Hitchcock stets Vorrang. Die Kritikerin Frieda Grafe nennt seine Werke „potenzierte Hollywoodfilme“ – und hält fest, dass sich Hitchcock „so total auf den Zuschauer einstellt, dass er seine Filme aus dessen Reaktionen machen“ könne.

Das Kino des Alfred Hitchcock folgt der Logik des Fiebertraums – das macht seine Filme zu einem Lieblingsobjekt der psychoanalytischen Theorie. Der Philosoph Slavoj Zizek, der in Hitchcocks Werk gern mit den Theorien Jacques Lacans wildert, schreibt über die Joseph-Conrad-Adaption „Sabotage“ (1936): „Es ist dieser unausgesprochene Hang zur Selbstvernichtung, dieser Genuss am eigenen Ruin, kurz, die Gegenwart des ,Todestriebs‘, die den Hitchcock’schen ,Bösewichten‘ ihren zweideutigen Charme verleiht.“

Visuelle Akribie. Hitchcocks Perfektionismus in technischen Belangen ist Legende. Ein Telegramm, das der Regisseur 1954 aus Hollywood wegen ein paar Sekunden Filmhintergrund an seine Assistenten richtete, die an der Côte d’Azur gerade das Rohmaterial für die Rückprojektionen zu dem Film „Über den Dächern von Nizza“ drehten, veranschaulicht seine visuelle Akribie: „Lieber Herby. Einstellung gesehen, wo Auto herankommendem Bus ausweicht. Befürchte aus folgendem Grund Ausbleiben der gewünschten Effekte. Wenn wir – Kamera – Kurve sehen, taucht Bus so plötzlich auf, dass keine Zeit für Realisierung Gefahr. Zwei Korrekturen. Erstens: Lange gerade Straße mit Kurve am Ende so ausfahren, dass man Kurve vor Erreichen wahrnimmt. Bei Erreichen der Kurve Schock über plötzlich auftauchenden, näherkommenden Bus. Da Kurve sehr schmal, sollte Bus nach links aus der Bahn getragen werden, aber wir – Kamera – keinesfalls bis an den Straßenrand. Zweitens: Bus in genannter Aufnahme nur zur Hälfte sichtbar. Kommt daher, dass ihr zu plötzlich Wendung zur Seite macht. Fehler zu vermeiden, wenn Kamera fest auf linke Seite gerichtet ist und, wenn Auto-Travelling in die Kurve geht, von links nach rechts schwenkt. Alle anderen Muster tadellos. Grüße fürs ganze Team. Hitch.“

Die Künstlichkeit im Werk dieses Filmemachers hat Methode: Hitchcocks prononcierter Antirealismus lässt auf eine Modellwelt blicken, in der Attrappenmenschen in Gewaltversuchsanordnungen gefangen sind. Die Figuren, die der Brite entwirft, sind kunstvoll präpariert. Der verstörte Hobby-Taxidermist an der Rezeption des Bates-Motels, der in „Psycho“ seinem späteren Opfer (Janet Leigh) stolz seine Kollektion ausgestopfter Vögel präsentiert, hat jedenfalls einiges mit seinem Regisseur gemein. Die Lust am Tragen von Frauenkleidern ist da nur ein Aspekt.

Retrospektive: Alfred Hitchcock. Das Gesamtwerk. Teil 1. Österreichisches Filmmuseum, Augustinerstraße 1, 1010 Wien. 1.12.2007 bis 4.1.2008. www.filmmuseum.at

Von Stefan Grissemann