In den Vorzimmern der Hölle

Folter. Das bestürzende Tagebuch des UN-Anti-Folter-Beauftragten Manfred Nowak

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Als ihm in den siebziger Jahren ein aus dem Chile der Pinochet-Junta geflohener Regimegegner von den Folterungen in den Kellern der Kasernen erzählte, musste sich Manfred Nowak übergeben. Dass diese wohl schlimmste Form der Erniedrigung, dieser flagrante Raub an Menschenwürde, dereinst sein Lebensthema sein könnte – das hatte er damals nicht geahnt.

Fast vierzig Jahre später hat der Wiener Universitätsprofessor für Verfassungsrecht und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte wohl mehr Foltergefängnisse gesehen als jeder andere Erdenbürger. Sechs Jahre lang, von 2004 bis 2010, ist der heute 61-Jährige im Auftrag der Vereinten Nationen um die Welt gereist, hat Anhaltelager und Gefängnisse inspiziert und ist in die Keller von Polizeistationen und Geheimdienstkerkern vorgedrungen. Dass Nowak und seine Helfer diese Missionen weitgehend unbeschadet überlebt haben, grenzt an ein Wunder.
Jetzt hat der Professor seine Wahrnehmungen, die bisher nur in Berichten an die UN-Menschenrechtskommission niedergeschrieben waren, in einem Buch zusammengefasst: „Folter – Die Alltäglichkeit des Unfassbaren“ (siehe Kasten Seite 69). Sein Fazit: „Folter gehört nicht nur zum Instrumentarium der Geheimpolizei finsterer Schurkenstaaten, sondern zum Standardrepertoire der normalen Kriminalpolizei, auch in Demokratien.“ Die Folterung und anschließende Scheinhinrichtung des afrikanischen Asylwerbers Bakary J. durch Wiener Polizisten im Frühjahr 2006 unterschied sich durch nichts von ähnlichen Praktiken in finsteren Diktaturen – bloß dass dort keine aufwändigen Vertuschungsaktionen stattfinden.

Menschen foltern wohl seit Tausenden von Jahren – manchmal wild drauflos, manchmal nach gewissen Regeln. Im altrömischen Recht durften nur Sklaven gefoltert werden, seit dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung auch Bürger. Später folterten Herzöge, Raubritter und Landvögte, ab dem 13. Jahrhundert griff auch die katholische Kirche zu Brandeisen und Daumenschrauben. Grund: In häretischen Gruppen wie den Waldensern und Katharern war unbequeme Konkurrenz erwachsen, die ausgerottet werden musste. Im Spätmittelalter war die Folter auf dem gesamten Kontinent Rechtspraxis. Der Habsburgerkaiser Karl V. versuchte 1532 das wüste Treiben durch eine „Peinliche Gerichtsordnung“ in Bahnen zu lenken. Recht viel weiter war man auch zweieinhalb Jahrhunderte später noch nicht, als Maria Theresia 1768 ihre „Cons­titutio Criminalis“ erließ. Dass die habsburgische Supermom darin die Folter abgeschafft habe, ist verkitschte Geschichtsklitterung: Ihr Strafgesetzbuch enthielt bloß detaillierte Vorschriften, wie Daumenstock, Beinschrauben und Streckleitern anzuwenden seien. Die Folter per Dekret abgeschafft hat erst ihr Sohn Joseph II. Staatsfeinde ließen Österreichs Kaiser fortan in den Kasematten des Brünner Spielbergs verrotten.

Im 20. Jahrhundert waren in großen Teilen Europas Folterregime an der Macht: Hitlers Nazideutschland, Stalins Sowjetrussland, Mussolinis Italien, Francos Spanien und Salazars Portugal – Menschenrechte galten nirgendwo. Die griechische Militärjunta, die ihre Gegner auf Ge­fängnisinseln folterte, regierte bis 1974. Franco ließ noch kurz vor seinem Tod 1975 Delinquenten langsam mit einem Würgeeisen erdrosseln.
Zu diesem Zeitpunkt war fast ganz Lateinamerika von Foltermilitärs beherrscht. Als deren Macht Mitte der achtziger Jahre gebrochen war, kam die Staatengemeinschaft überein, Folterern künftig weltweit das Handwerk zu legen: Jede der Folter verdächtige Person, die außerhalb ihres eigenen Staats festgenommen wurde, war entweder sofort auszuliefern oder nach der eigenen Gesetzgebung zu bestrafen.

Wenn – wie Professor Nowak schätzt – heute in neun von zehn Staaten gefoltert wird oder zumindest in Einzelfällen gewalttätige Zwangsmaßnahmen vorkommen, wird die Doppelbödigkeit solcher diplomatischer Deklarationen offenkundig.

Das wussten natürlich auch die Vereinten Nationen und entsandten daher von Beginn an so genannte Sonderberichterstatter in Staaten, die in dringendem Folterverdacht standen. Sie mussten den Besuch der Untersuchungskommission allerdings explizit zulassen. Motive dafür gab es: Ein menschenrechtlicher Persilschein der UN kann in wirtschaftlichen Belangen äußerst hilfreich sein. Auch der Aufstieg in wichtige UN-Gremien, wie etwa den Sicherheitsrat, geht zügiger voran, wenn UN-Kontrollore in Sachen Menschenrechte grünes Licht geben.

Umso schwieriger ist deren Arbeit. Wohl wird ihnen offiziell freier Zugang zu den Gefängnissen garantiert, sie dürfen auch filmen, fotografieren und unbelauscht mit Häftlingen reden – in der ­Praxis sieht dies aber meist anders aus. In China etwa wurden die Mobiltelefone von Nowaks Team systematisch abgehört. Der alle paar Stunden vorgenommene Wechsel des PIN-Codes nützte nichts. Die Behörden stöberten fast alle kontaktierten Gesprächspartner auf und zogen sie aus dem Verkehr.

In Kasachstan wurden vor Eintreffen des UN-Sonderberichterstatters einfach alle Gefängnisse geputzt und neu gestrichen, weil man nicht wusste, welche Haftanstalt Nowak wann besuchen werde. Die kasachischen Behörden übertrieben etwas: In einem Frauengefängnis arrangierte man eine Party mit Musik und Tanz und wollte den UN-Leuten einreden, das sei hier jeden Abend so. Tatsächlich mussten die Frauen in den vier Nächten vor Nowaks Ankunft auf dem Boden schlafen, damit sie nicht die blütenweiße Bettwäsche verknitterten, die zur Verblüffung der Insassinnen aufgezogen worden war.

Die Haftbedingungen sind meist schlimmer als die eigentlichen Foltern, gaben selbst Gefolterte gegenüber der Kommission an. „Menschen leben für Monate oder gar Jahre in völlig überfüllten und verdreckten Polizeizellen ohne ausreichende Belüftung oder Beleuchtung, ohne Wasser und Toiletten. Sie sitzen und schlafen auf dem Lehm- oder Betonboden, wo alle möglichen Insekten auf der Suche nach Speiseresten sind. Die Hitze und der Gestank sind schon nach wenigen Stunden unerträglich. Die meisten Häftlinge verbringen 24 Stunden pro Tag in diesen Zellen und sehen nie das Tageslicht“, beschreibt Nowak das Inferno. Im Gefängnis des Touristenorts Montego Bay auf Jamaika sprach Nowak mit Männern, die schon fünf Jahre unter solchen Umständen eingesperrt waren.

In der Mongolei waren nach sicheren Informationen zwei Häftlinge kurz vor der Ankunft des UN-Teams zu Tode gefoltert worden. Im Land herrscht ein albtraum­artiges Strafvollzugssystem. Zu mehr als 20 Jahren Haft verurteilte Straftäter werden für die gesamte Haftdauer in Isolierzellen gesperrt, die sie nur zweimal pro Woche für je eine Stunde verlassen dürfen. Beschäftigung, Sport oder Lesestoff gibt es nicht. Nach wenigen Jahren sind fast alle psychische Wracks. Zum Tode Verurteilte verbringen die Zeit bis zur Hinrichtung – oft sind das mehrere Monate – an Händen und Füßen gefesselt in Dunkelhaft.

In Nepal bestritten die Behörden Fol­terungen, bis die Kommission nach Hinweisen von Häftlingen den Folterraum im obersten Stockwerk des Polizeihauptquartiers von Kathmandu fand. Sogar die ­Bambusstöcke, mit denen eben noch geprügelt worden war, lagen da. Die Gemarterten werden dort mit verbundenen Augen mehrere Stunden lang mit dem Kopf nach unten aufgehängt und mit Stockschlägen und Elektroschocks malträtiert, erzählten die Opfer. In Sri Lanka sprach die UN-Delegation mit Häftlingen, die an ihren mit Draht zusammengebundenen Daumen aufgehängt worden waren. Die Daumen waren danach ebenso irreparabel geschädigt wie die Füße der Häftlinge in Jordanien, die man stundenlang mit Schlägen auf die Fußsohlen traktiert ­hatte.

Dass sich Folter nicht zur Wahrheitsfindung eignet, war spätestens im 18. Jahrhundert klar geworden, weshalb sie fast überall aus dem Rechtsbestand genommen wurde. Sie ist heute meist eine Maßnahme der Strafverschärfung in Rechtssystemen, denen es um Vergeltung und nicht um Resozialisierung geht.

Zu ihnen zählt Rechtswissenschafter Manfred Nowak auch die USA. Anders als China, Togo, Nigeria, Uruguay und mehr als ein Dutzend anderer Staaten verweigerten die USA der UN-Kommission den Zutritt zu Gefängnissen. Eine Visite in Guantanamo wurde kurzfristig abgesagt. Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatten nach 9/11 eine Riege von Elitejuristen damit beauftragt, den Einsatz von Foltermethoden juristisch abzumauern. Das Ergebnis war ein abenteuerliches Konstrukt: Bush vertrat die Auffassung, in seinem „Krieg gegen den Terror“ gelte das Kriegsrecht und nicht der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz. Die wichtigsten Regeln dieses „Kriegsvölkerrechts“ (heute nennt man es „humanitäres Völkerrecht“) sind in der Genfer Konvention festgeschrieben, die die Bevölkerung in Kombattanten und Zivilisten teilt. Zivilisten sind zu schonen, Kombattanten dürfen in Kriegshandlungen getötet werden, haben aber im Fall der Gefangennahme bestimmte Rechte. Sie dürfen zum Beispiel nicht gefoltert werden. Also erfanden Bushs Juristen eine dritte Kategorie, die „Illegal Enemy Combatants“, die in der Genfer Konvention natürlich nicht vorkommen und daher auch nicht den Schutz vor Folter genießen. Und da auf US-Territorium die Bundesverfassung mit Grundrechten wie dem Folterverbot gilt, folterte man eben auf Kuba oder in CIA-Geheimgefängnissen in Polen, Rumänien, Litauen, Jordanien oder Ägypten. Da nun Bush senior als Präsident ungünstigerweise die UN-Konvention gegen die Folter ratifiziert hatte, wonach es keine Ausnahmen vom Folterverbot geben kann, schränkte das findige US-Justizministerium den Begriff Folter kurzerhand auf Extrempraktiken ein, die zu Organversagen, Tod oder lebenslangem psychischem Leiden führen.

Und schon konnte es losgehen in Guantanamo: stundenlanges Stehen in Stresspositionen, mehrwöchiger Schlafentzug, tagelanger Einschluss in engen, stark klimatisierten Containern ohne Decke. Ex-Häftlinge gaben später gegenüber Nowak an, diese von Verteidigungsminister Rumsfeld ausdrücklich angeordnete „Maßnahme“ sei eine der unerträglichsten Foltermethoden gewesen, durchaus vergleichbar dem „Waterboarding“. Dabei bindet man den Opfern ein Tuch um Mund
und Nase, das ständig mit Wasser getränkt wird. Der Gefolterte hat das Gefühl zu ­ertrinken.

Noch schlimmer als Guantanamo ist das von der CIA betriebene „Prison of Darkness“ in Kabul. Ein ehemaliger Häftling erzählte der UN-Delegation, er habe dort elf Monate in völliger Dunkelheit in Einzelhaft verbracht, ständig angekettet und mit dröhnend lauter Musik beschallt. Er habe nur durch Meditation und autogenes Training überlebt.

Grässliche Zustände der anderen Art fand die UN-Mission in Afrika vor. In der nigerianischen Hauptstadt Lagos etwa stieß sie in einer Polizeistation auf einen Folterraum, in den 125 Menschen gepfercht waren, darunter mehrere Frauen und Kinder. Gefoltert wird – zwecks Abschreckung – vor aller Augen. Einigen der Gefangenen war dabei aus nächster Nähe in die Beine geschossen worden, die Wunden waren unversorgt geblieben. „Sein Fuß war völlig verfault“, beschreibt Nowak einen der Todgeweihten, „seine Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein. Für uns war schon der bloße Anblick und der Gestank dieser Gliedmaßen eines menschlichen Wesens schwer zu ertragen.“

Katastrophal auch die Lage in Äquatorialguinea, einem der ärmsten Länder und einer der schlimmsten Diktaturen der Welt. In den Gefängnissen wird „systematisch“ gefoltert, also auf direkte Anordnung der Regierung. Diese Form eines Folterregimes gibt es etwa in 15 Prozent der UN-Mitgliedsstaaten, schätzt Nowak.

Neben dem üblichen Repertoire an Qualen gibt es in der ehemaligen spanischen Kolonie mit dem Zwang, Rauch einzuatmen, auch eine lokale „Spezialität“ – die Folge sind schwere Lungenschäden. In den infernalischen Gefängnissen Äquatorialafrikas („Schmutzige und dunkle Zellen, in denen die Häftlinge lange ohne Essen festgehalten werden“) gibt es nicht einmal das sonst übliche Loch im Boden, das als „Toilette“ dient. Die Gefangenen müssen in Plastikflaschen urinieren, die ihre Angehörigen mitbringen. Die Notdurft wird in Plastiksäcke verrichtet.

UN-Sonderberichterstatter Nowak sieht einen Zusammenhang zwischen der Armut eines Landes und dem Zustand seines Strafrechtssystems: Einerseits nimmt dort die Kriminalität entsetzliche Ausmaße an, andererseits sind die Polizisten schlecht bezahlt, schlecht ausgebildet und schlecht ausgerüstet. In vielen Staaten werden sie nach der Anzahl der „gelösten“ Straftaten entlohnt. Da ist oft jedes Mittel der „Aufklärung“ recht.
Das Grauen menschenunwürdiger Unterbringung ist aber kein Monopol ferner Unterentwickelter. In Moldawien fanden die UNO-Kontrollore stallartige, völlig verdreckte Verschläge vor, in denen Gefangene über Jahre in Einzelhaft gehalten werden – 23 Stunden am Tag.

Empörend die Lage in Griechenland:
Dort werden nicht nur Kriminelle, sondern auch Asylwerber und Schubhäftlinge unter mit Folter gleichzusetzenden Bedingungen festgehalten. Im Migrationshaftzentrum von Venna werden Dutzende Häftlinge hinter ein großes Gitter gesperrt, auf das die ganze Nacht grelle Scheinwerfer gerichtet sind. Das Schubhaftzentrum Fylakio besuchten die UN-Kontrollore, als gerade einige hundert an der türkischen Grenze aufgegriffene Flüchtlinge aus Afghanistan und Somalia eintrafen: „Unter der Tür zu den verstopften Toiletten rann ein Rinnsal aus Wasser, Urin und Fäkalien in den Schlafraum, wo die Menschen am Boden schlafen sollten. Der Gestank war beinahe unerträglich. Die Brühe stand etwa fünf Zentimeter hoch. Frauen standen mit ihren kranken Kindern im Arm, erschöpft von monatelanger Flucht, und weinten still vor sich hin. So werden also Flüchtlinge im 21. Jahrhundert im reichen Europa empfangen.“

Am entsetzlichsten fand Nowak aber die Lage in China – trotz der vergleichsweise sauberen und gut ausgestatteten Gefängnisse. In China werden die Häftlinge nicht einfach weggesperrt, sondern permanent „umerzogen“. Nowak: „Im berüchtigten Untersuchungsgefängnis ,Liu Dao Wan‘ trauten sich die Häftlinge, die die meiste Zeit des Tages im Türkensitz in ihrer Zelle damit verbrachten, das chinesische Strafgesetzbuch auswendig zu lernen, nicht einmal, uns anzusehen, als ich sie um Interviews ersuchte.“ Nach einigen Jahren ist bei politischen Häftlingen meist jeder Widerstand gebrochen. Ganz „Uneinsichtige“ verschwinden für viele Jahre in Isolationshaftanstalten.

Wäre das alles auch in Mitteleuropa oder gar in Österreich noch einmal möglich? Der Fall Bakary J. lässt dies durchaus vermuten. Übrigens: Die schlimmsten Folterknechte der Gestapo-Leitstelle Wien kamen nicht aus Berlin, Hamburg oder München. Es waren Wiener Kriminalbeamte aus Ottakring oder Favoriten, die zuvor ganz brav Kaiser, Republik und Ständestaat gedient hatten.

„Es ist die Banalität des Bösen“ - Buchautor Manfred Nowak im Interview mit Herbert Lackner im profil 9/2012