Architektur: Form vollendet, Essay

Form vollendet

Eine neue Sehnsucht nach vertrauten Formen

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Am 15. Jänner 2005 wurde die von Wolfgang Amadeus Mozart 1783 komponierte c-Moll-Messe in der Carnegie Hall in New York uraufgeführt. Am 30. Oktober 2005 wurde die ursprünglich 1743 vollendete Dresdner Frauenkirche wiedereröffnet. Zwei Ereignisse, die nur scheinbare zeitliche Paradoxien aufweisen: Denn tatsächlich wurde Mozarts unvollendet gebliebene Messe vom amerikanischen Musikwissenschafter und Mozart-Spezialisten Robert Levin, wie Kritiker meinten, vollendet zu Ende komponiert. Und der Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Dresdner Frauenkirche wird zurzeit ja als weltweiter Erfolg gefeiert und mit viel Applaus bedacht.

Dennoch unterscheiden sich die beiden Beispiele grundsätzlich. So war Robert Levins „Vollendung“ der Mozart-Messe zwar nicht der erste Versuch dieses Unterfangens, aber angeblich der kongenialste und einfühlsamste – als ob Mozart die Messe doch selbst zu Ende komponiert hätte. Im Genre der klassischen Musik käme man allerdings wohl auch gar nicht auf die Idee, Ergänzungen so anzufügen, dass die Bruchlinien erkennbar wären, dass eine neue Idee der alten deutlich getrennt angefügt wäre.

Ganz anders verhält sich dies in der Architektur: Hier war es in den vergangenen Jahrzehnten geradezu verpönt, ja ein wissenschaftlicher wie akademischer Sündenfall, historische Gebäude zu „vollenden“.

Ursache für diese Einstellung war die 1964 von Denkmalpflegern beschlossene „Charta von Venedig“. Sie lehnte, vereinfacht gesagt, die „Stilreinheit“ einer Restaurierung ab und verlangte die Authentizität der historischen Schichten eines Bauwerks: „Der Anteil jeder Zeit am Entstehen eines Baudenkmals muss respektiert werden“, wurde postuliert. Paradebeispiel für diese Vorgangsweise war die Alte Pinakothek in München, die nach Kriegsschäden im Zweiten Weltkrieg vom Architekten Hans Döllgast sehr feinfühlig mit schlichten Ziegelausfachungen sozusagen repariert wurde – und folglich deutlich erkennbare Unterschiede zum Original aufwies. Auch Egon Eiermanns Anfang der sechziger Jahre realisierter Ergänzungsbau zur 1895 fertig gestellten und im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Kurfürstendamm zählt dazu und belegt diese Methode.

Doch in den vergangenen Jahren ist die Charta von Venedig ins Wanken geraten. Immer mehr internationale Beispiele belegen, dass eine Trendwende eingesetzt hat. Möglicherweise unter dem Eindruck eines neuen Traditionalismus, Konservativismus, Historismus, oder wie immer man die neue Bewegung bezeichnen könnte, wird das lange gültige Tabu einer originalgetreuen Rekonstruktion historischer Bauten immer wieder gebrochen.

Die Dresdner Frauenkirche ist das bislang wohl bedeutendste Beispiel dafür. Vor 15 Jahren, als die Initiative zum Wiederaufbau startete, wogte – vornehmlich durch das deutsche Feuilleton – noch eine heftige Debatte. Ein Standpunkt lautete dabei: Die nach dem „Dresdner Feuersturm“ am 15. Februar 1945 ausgebrannte Ruine sollte als Mahnmal des Krieges so bleiben, wie sie war. Jeder Wiederaufbau sei eine Geschichtsfälschung, jede Authentizität ginge dabei verloren.

Aber mit unwahrscheinlichem Engagement und mit hoher Akribie bei der Rekonstruktion und unter Verwendung der alten Techniken gelang in Dresden nun das „Wunder, in Stein gegossen“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ titelte. Die Eröffnung geriet zum deutschen Staatsakt, auch Vertreter der Siegermächte waren vertreten. Unter den tausenden von Stiftern aus aller Welt, die mehr als 100 Millionen Euro für den rund 180 Millionen Euro teuren Neubau aufbrachten, befand sich auch eine britische, „Dresden Trust“ genannte Stiftung. So wurde die neu gebaute Frauenkirche nunmehr umgedeutet zum Symbol der „Versöhnung“.

Bemerkenswerterweise fand sich keine vergleichbare Initiative zur Erhaltung des „Palastes der Republik“ aus der DDR-Zeit in Berlin. Er wird jetzt abgerissen, und man hofft, an seiner Stelle das nicht mehr vorhandene Berliner Schloss wiederaufzubauen. Da drängt sich der Verdacht auf, dass sich historische Formen, ob in Dresden oder Berlin, derzeit wohl besonders auch für politische Sinnstiftung eignen. Denn wenn das Dresdner Symbol nun mit Versöhnungsgesten aufladbar sein soll, würde dem Berliner Schloss mit Sicherheit der Geruch der Rache der Siegermacht Westdeutschland an einem Symbol des „unterlegenen“ Ostdeutschland anhaften. Jede politische Inanspruchnahme von Symbolbauten braucht aber eine kulturelle Grundstimmung, um überhaupt realisierbar zu sein.

Und diese Grundstimmung hat sich konsequent und kontinuierlich von der immerhin schon vierzig Jahre alten Charta von Venedig verabschiedet. Es wird weltweit fröhlich draufloskopiert und rekonstruiert, und Authentizität spielt dabei in Wirklichkeit keine Rolle mehr. Denn natürlich wurde die Frauenkirche nicht „originalgetreu“ rekonstruiert, und selbstverständlich flossen moderne technische Kenntnisse mit ein, vor allem was die Statik der Kuppel und die Technik ihrer Sandsteinkonstruktion betrifft. Geradezu störend sind die eingebauten 8400 alten, authentischen Sandsteinblöcke, die sich dunkel von der hellen neuen Gesamtgestalt der Kirche abheben. Und ebenso selbstverständlich ist La Fenice, die Oper Venedigs, keine originalgetreue Rekonstruktion – weil ihre berühmte Akustik nur durch eine spezielle Holzverarbeitung und -behandlung der Möblierung und Innenausstattung möglich war, die heute nicht mehr herstellbar ist.

Aber spielt die Authentizität überhaupt noch eine Rolle? Nehmen wir einmal an, als kulturelle Grundstimmung, es geht um die Vertrautheit der alten Form, es geht um die Möglichkeit des Innehaltens im allgegenwärtigen Sturm der Modernisierung und Globalisierung. Und da erlebt die historische Form auch in modernisierter Anwendung gerade wieder Konjunktur.

Wir erinnern uns noch daran, dass in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch in der Architektur die so genannte Postmoderne die akademische Debatte beherrschte. Als Gegenreaktion auf den ausgelaugten Funktionalismus der Nachkriegsmoderne wurde die Geschichte wiederentdeckt und der Rekonstruktion der alten europäischen Stadt das Wort geredet. Eine stilistische Freizügigkeit setzte ein, und im Dunstkreis der intelligenten Analytiker und kreativen Umformer des historischen Erbes machte sich eine rege Schar von affirmativen Apologeten breit. In den neunziger Jahren – in Wien zum Beispiel schon mit der Eröffnung des Haas-Hauses von Hans Hollein – wendete sich das Blatt wieder, und jedwede historische Bezüglichkeit oder Referenz wurde von der herrschenden Szene der Architektur nicht mehr goutiert.

Plötzlich war wieder hemmungslose Modernität angesagt: Stahl, Glas, Beton, neue Materialien, neue Techniken des Entwurfs durch den Computer beschleunigten die moderne Architektur in eine Zukunft, die keine Rücksicht mehr auf die Vergangenheit nahm. Was die heutige Szene der modernen, der zeitgenössischen Architektur gerne verschweigt, ist ihre eigene postmoderne Historizität. Sie verfolgt keine anderen Ziele als jene, wie sie vor hundert Jahren schon einmal von der damaligen Moderne versprochen wurden: eine unbedingte Zukunftsgläubigkeit, die sich naiv und euphorisch mit der Dynamik der Bauindustrie und der Investoren verbündet.

Im Schatten dieses heutigen Mainstreams der Weltarchitektur, mit zweifellos fantastischen und bestaunenswerten experimentellen Einzelbauten, hat sich aber die historische, die konservative Richtung der Architektur stets erhalten. Nach wie vor gibt es in Deutschland, aber auch in Italien eine Reihe von seriös modernen Architekten, die sich der nachhaltigen Gediegenheit einer bürgerlich historischen Form der Architektur verschrieben haben. Sie werden von den modernistischen Gegnern freilich anhaltend verfolgt und als politische Reaktionäre gebrandmarkt.

Einer ihrer Vordenker ist Rob Krier, der große sentimentale Träumer von der ewig neuen Idylle der europäischen Kleinstadt. Im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt wurde diesen Sommer eine große Retrospektive seines Werks gezeigt, die von der Kritik sehr milde und nachdenklich besprochen wurde. Die zu erwartende Vernichtung von Kriers Kleinstadtkitsch durch die derzeit herrschende Architekturmeinung blieb seltsamerweise aus. Dass er beim realen Bauen konstant und weiterhin Erfolge feiert, wurde aber weit gehend unter den Tisch gekehrt.

Hier sollen die Niederlande, gemeinhin als Hort alles Neuen und Modernen in der Architektur angeführt, als Beispiel dienen. In den Niederlanden wurde vor einigen Jahren der soziale Wohnbau beendet und das Wohnungswesen dem freien Markt überantwortet. Seitdem ist die stilistische Herrschaft der Moderne zu Ende, und romantische Siedlungen mit romantischen Häuschen beherrschen den Markt. Rob Kriers Visionen feiern Erfolge. Weil er anbietet, wovon die Menschen wirklich träumen?

Doch die junge Szene der niederländischen Architekten wendet sich nicht mit Grausen vor diesem Phänomen ab, sondern beginnt offensiv die populistischen Elemente dieser Entwicklung zu analysieren und zu hinterfragen.

Am Beispiel der Niederlande folgt Europa im Wesentlichen den Vereinigten Staaten. Am Markt der billig gebauten Suburb-Häuser herrschte immer schon die historische Dekoration, und die moderne Fassade war ein Minderheitenprogramm der Intellektuellen. Amerika hatte nie die in Europa herrschenden Berührungsängste mit der neu gebauten historischen Form. Als Symbol dafür mag die Getty-Villa in Malibu gelten. Das Duplikat einer römischen Villa wurde 1974 vollendet, als Museum der Antikensammlung des Getty-Trust. Die Architekten Rodolfo Machado und Jorge Silvetti haben nun diese römische Villa regelrecht nochmals neu gebaut und mit zusätzlichen Räumen versehen. Die antik-römische Getty-Villa wird zu Beginn des kommenden Jahres neu eröffnet.

Machado+Silvetti sind hervorragende moderne Architekten, beide unterrichten am Modernismus-Tempel der Harvard University und hatten trotzdem kein Problem damit, diese obskure, künstlich archäologische Erscheinung in Malibu penibel zu rekonstruieren, wo eine komplexe neue Haus- und Sicherheitstechnik hinter römischen Profilen und Dekorationen versteckt werden musste.

Rein kunsthistorisch gesehen, ist es absurd, dass ein 1974 errichtetes Duplikat einer römischen Villa dreißig Jahre später nochmals historisch originalgetreu, jetzt dem Original von 1974 folgend, gebaut wird. Damit wird die Malibu-Villa von Getty zum Vorbild einer unendlichen Zeitschleife, die das Alte immer neu baut. Womit der asiatische Begriff der Authentizität und Originalität langsam die kulturelle Vorherrschaft ergreift. Dort ist das Bild, die Form, die Erscheinung eines Baus authentisch, seine reale und materielle Präsenz kann in regelmäßigen, bautechnisch bedingten Abständen neu gebaut werden.

Kein Zweifel, die herrschende akademisch-modernistische Meinung der Architekturdiskussion bekämpft und verschweigt heute konsequent den ebenso grassierenden konservativen Historismus der gegenwärtigen Architektur. Sie ignoriert den Paradigmenwechsel der Denkmalpflege, die inzwischen das homogene, auch neu erzeugte, historische Bild favorisiert. Kein Protest ist von dieser Seite der kritischen Kunsthistoriker gegen die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche zu hören. Schweigen herrscht auch über den ewigen Weiterbau an der Sagrada Familia von Antoni Gaudí in Barcelona oder über das konkrete Unterfangen, die Akropolis von Athen unter Tilgung aller Zeitschichten gänzlich neu im antiken Stil zu rekonstruieren.

Am Beginn des neuen Jahrtausends haben Architektur und Denkmalpflege eine neue Dimension eröffnet: Die ewige Wiederkehr des Alten ist evident. Die unbeugsame Fortschrittsgläubigkeit des einmalig Neuen hat als alleinige Ideologie ihr Ende gefunden. Die heutige Gesellschaft hat kein Problem damit, in allen vergangenen Zeiten heute gleichzeitig zu leben. Die historischen Spuren einer Authentizität der historischen Schichten sind obsolet. Modernität und historisches Bauen sind gleichwertig. Denn alles heute Gebaute, ob modern oder konservativ, wurde schon einmal gedacht.

Dietmar Steiner ist Direktor des Architekturzentrums Wien.