Voraus-Medizin: Diagnostik-Forschung

Forschung: Voraus-Medizin

Genanalysen als Basis für Präventivmedizin

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Der amerikanische Nachrichten-TV-Sender CNN schickte extra einen Reporter aus den USA nach Wien, um über den Beginn einer neuen Art von Medizin zu berichten. Nur wenige Jahre nach der Entschlüsselung des Humangenoms arbeiten Forscher am Biotech-Campus in Wien-Erdberg an individuellen Genanalysen, die es ermöglichen, beispielsweise einem Raucher die Wahrscheinlichkeit einer Lungenkrebserkrankung vorherzusagen. Anhand des persönlichen Genprofils können sie einem bestimmten Patienten auch sagen, ob sein Organismus Umweltschadstoffe besser oder schlechter abbaut, wie er auf bestimmte Nahrungsinhaltsstoffe oder Medikamente reagiert, ob er diese normal, langsamer oder schneller metabolisiert und welche individuellen Nebenwirkungen zu erwarten sind.

Die Analysen der Forscher sind aber nicht dazu gedacht, Patienten mit einem Krebs-, Herzinfarkt- oder Alzheimerrisiko zu schrecken, sondern ihnen Wege und Mittel aufzuzeigen, wie sie der drohenden Krankheit vorbeugen können. Deshalb erhält die Ergebnisse der Genanalyse auch nicht der Patient, sondern nur sein für diesen Zweck geschulter Vertrauensarzt, der allein dazu befugt ist, diese zu interpretieren. Laut Gentechnikgesetz dürfen die Daten auch nicht an Versicherungen weitergegeben werden.

Die Forscher können aber nicht nur Risiken abschätzen, sondern auch feststellen, ob eine bestimmte Person über besondere, genetisch bedingte Schutzfaktoren verfügt, die beispielsweise Entzündungsprozessen im Körper entgegenwirken. Da Entzündungen wahrscheinlich an der Entstehung vieler Krankheiten beteiligt sind, ist das ein gesundheitlich bedeutender Faktor.

Diese neue Art von vorausschauender Medizin basiert auf so genannten Polymorphismen, das sind geringfügige Abweichungen im Genom des Menschen, die sich positiv oder negativ auf den Gesundheitszustand auswirken können. Einige dieser Polymorphismen und ihre Rolle bei der Entstehung bestimmter Krankheiten waren schon vor der Entschlüsselung des Humangenoms bekannt. Aber erst die durch das Humangenom-Projekt generierten umfangreichen Datensätze bildeten ein wissenschaftliches Fundament für die eingehende Erforschung dieser genetischen Abweichungen.

Im Jahr 2001 gründete der Wiener Hormonforscher Johannes Huber, Leiter der Klinischen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie und Sterilitätsbehandlung an der Frauenklinik der Wiener Medizinuniversität, zusammen mit seinem Oberarzt Clemens Tempfer und dem Biochemiker Christian Schneeberger am Biotech-Campus in Wien-Erdberg die Forschungsfirma Genosense Diagnostics.

Know-how. Um sich das nötige technische Know-how zu verschaffen, gingen die Forscher eine Kooperation mit einem Spin-off der Universität Wien ein, der bereits 1999 gegründeten und ebenfalls am Wiener Biotech-Campus ansässigen Forschungsfirma VBC Genomics, die seither Mehrheitseigentümer der Genosense Diagnostics ist. Die VBC Genomics befasste sich unter ihrem Forschungsleiter Manfred W. Müller ursprünglich mit Gensequenzierung und war auch am Pflanzen-Genom-Projekt beteiligt. Inzwischen hat die von Müller geleitete Forschergruppe einen Bio-Chip entwickelt, der laut Müller aus einem einzigen Blutstropfen die Sensibilität des Patienten auf 100 verschiedene Allergene analysieren kann.

Die Genosense Diagnostics begnügte sich zunächst mit der Erforschung von ganzen zehn Polymorphismen, die im Zusammenhang mit der Wirkung von gynäkologischen Hormonersatzpräparaten eine Rolle spielen. Erst nach und nach gingen ihre Forschungen über den gynäkologischen Bereich hinaus in Richtung interne Medizin, Onkologie, Pharmakologie und Ernährungsmedizin. Heute untersucht das Unternehmen, das mit Partnern in aller Welt zusammenarbeitet, 80 Polymorphismen, allein 47 davon umfasst der so genannte Premium-Test, der vor allem Krebsrisiken und Eigenheiten des Stoffwechsels untersucht. Die Kosten eines solchen Tests liegen je nach Umfang zwischen 380 und 1200 Euro.

Patienten, die einen solchen Test absolvieren wollen, erhalten von ihrem Arzt einen Karton mit Utensilien und Erklärungen für einen Mundhöhlenabstrich. Ein eigens dafür mitgeliefertes, gepolstertes Kuvert geht dann mit den Proben per Post an die Genosense Diagnostics.

Im Regelfall nach etwa zwei bis drei Wochen erhält dann der Vertrauensarzt des Patienten das Ergebnis zugesandt, das bis zu 100 Seiten umfassen kann. Zu jedem untersuchten Polymorphismus sind Erklärungen angefügt, wie häufig eine solche genetische Abweichung in der weißen männlichen oder weiblichen Bevölkerung vorkommt, welche Krankheiten oder Schutzfaktoren in welcher Intensität damit assoziiert sind und welche Studien diese Korrelationen belegen.

Abweichungen. Jeder Mensch verfügt über etwa 30.000 Gene, die in Summe den aus der Evolution ererbten Bauplan für ein menschliches Wesen enthalten. 99,9 Prozent dieses Bauplans teilen wir mit anderen Menschen. Nur etwa 0,1 Prozent unseres Erbguts sind für die individuellen Merkmale und Eigenschaften verantwortlich. Dazu gehören auch die erst mit der Entschlüsselung des Humangenoms bekannt gewordenen 1,5 Millionen Polymorphismen, von denen nur geschätzte 30.000 eine funktionelle Relevanz haben.

Doch wo sitzen diese Polymorphismen und wie kommt es dazu, dass sie sich auf einzelne Körperfunktionen auswirken können? Die Erbinformation DNA besteht aus Nukleotidsequenzen, ein Begriff, mit dem in der Genetik die Abfolge der Nukleotide eines DNA-Moleküls bezeichnet wird. Für die vier Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin werden die Symbole A, G, T und C verwendet. Eine DNA-Sequenz besteht aus einer ständig wechselnden Abfolge dieser vier Buchstaben, also, wenn man so will, aus verschiedenen „Wörtern“.

Vertauschte Buchstaben. Wenn nun an einer bestimmten Position eines solchen Wortes statt einem A ein G steht, wie das beim Gen mit der Bezeichnung PAI-1 der Fall sein kann, dann bedeutet diese Mutation ein erhöhtes Herzinfarktrisiko. Woher wissen das die Forscher? Sie machen beispielsweise eine Studie mit 1000 Herzinfarktpatienten und 1000 Gesunden. Findet sich eine Genvariante X in der Herzinfarktgruppe doppelt so oft wie in der Gesundengruppe, dann nehmen die Wissenschafter an, dass es einen Zusammenhang zwischen der Genvariante X und Herzinfarkt gibt. „Wenn es 20 solcher Studien gibt und die Ergebnisse zusätzlich durch eine Metastudie bestätigt werden, dann haben wir eine hohe Sicherheit“, erklärt Oberarzt Tempfer.

Damit ist allerdings der Zusammenhang noch nicht klar, wie es von der Genmutation zum erhöhten Herzinfarktrisiko kommt. Gene sind nichts anderes als Kochrezepte für Proteine, die dann beispielsweise als Botenstoffe oder als Baumaterial für bestimmte Gewebearten dienen. Da es im menschlichen Organismus etwa 100.000 Proteine, aber nur etwa 30.000 Gene gibt, steht ein Gen für mehrere Proteine. Die Gene liegen gut verpackt im Zellkern. Um ihre Rezepte zu den so genannten Ribosomen, das sind die zwischen dem Zellkern und der Zellmembran liegenden Proteinfabriken, zu bringen, bedarf es eines Botenstoffs, der so genannten Messenger-RNA (mRNA). Diese hat die Aufgabe, von dem jeweiligen in einem Gen festgelegten Kochrezept eine Kopie anzufertigen und diese in der Proteinfabrik abzuliefern.

Zeigt das Rezept eine Abweichung – in der Küchensprache eine andere Zubereitungsart oder eine andere Gewürzmischung –, dann ist gut vorstellbar, dass das Proteingericht ebenfalls von der Regel abweicht, also für die ihm auferlegte Funktion eventuell besser oder aber auch sehr viel schlechter sein kann. Wenn ein Patient Polymorphismen zeigt, die mit einem ungünstigen Fettstoffwechsel und obendrein mit Entzündungsneigung assoziiert sind, dann hat der Betreffende ein stark erhöhtes Atheroskleroserisiko, weil beide Eigenschaften die Gefäßverkalkung fördern, sagen die Forscher. Was kann der Betreffende vorbeugend dagegen tun? Aspirin gegen die Entzündungsneigung schlucken und Statine, um den Cholesterinspiegel zu senken, dazu eine fisch- und gemüsereiche Kost einhalten und sich viel bewegen.

Die zusätzliche Einnahme von Fischölkapseln (Omega-3-Fettsäuren), zu der oft geraten wird, ist hingegen ein zweischneidiges Schwert. Laut einschlägigen Studien verfügt jede dritte Frau über einen Polymorphismus am Gen APO A1, der die gewünschte Wirkung der Kapseln ins Gegenteil verkehren kann. „Wenn eine Patientin mit diesem Polymorphismus zu viel ungesättigte Fettsäuren konsumiert, sinkt der Wert für das gute, gefäßschützende HDL-Cholesterin“, erklärt Biochemiker Schneeberger. „Bei Männern ist der Effekt schwächer.“ Es gibt auch Polymorphismen, welche die positive Wirkung von Vitamin-C-Tabletten ins Gegenteil verkehren können.

Und es gibt ganze Reihen von gut untersuchten Polymorphismen, die ein erhöhtes Risiko für Brust-, Prostata-, Lungen- oder Darmkrebs anzeigen. Zur Brustkrebsvorbeugung rät Tempfer zur Einnahme von Antiöstrogenen, zur Prostatakrebsvorbeugung zur Einnahme von Selen-Tabletten. Eine Reihe seriöser Studien würde eine vorbeugende Wirkung belegen.

„Wir haben jedes Jahr ein Dutzend Publikationen in Topjournalen allein zu Polymorphismen“, sagt Hormonforscher Huber, der wissenschaftliche Kopf der Gruppe, „wir waren die Pioniere in Wien und haben unser Unternehmen mit eigenem Geld aufgebaut. Es gibt nicht viele Professoren in Wien, zu denen ein CNN-Reporter aus den USA anreist.“

Von Robert Buchacher