Fotografie: Die Wucht des Augenblicks

„World Press Photo“-Wettbewerbs-Gewinner

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Jedes Mal, wenn ihr die Tränen kommen, verkriecht sie sich in der Ecke. Der Bruder beschimpft sie, der 75-jährige Vater ist schon zu müde für alles, der Ehemann hat sie schon vor der Tsunami-Katastrophe mit den gemeinsamen drei Kindern allein gelassen. Es gibt bis jetzt nur einen – wenn auch tragischen – Höhepunkt im armseligen Leben der 33-jährigen Imbissstand-Betreiberin Indira an der Küste von Tamil Nadu: jene Tage im Dezember des Vorjahres, als sie der Welt ihr Gesicht lieh, um die Schmerzen Millionen Hinterbliebener im endlosen Strom der Schreckensbilder zu einer unauslöschlichen Geste zu verdichten.

„Fotos sind wie eine Nabelschnur zur Realität“, hat der französische Kulturphilosoph Roland Barthes die emotionale Macht der Fotografie metaphorisch beschrieben. Doch davon weiß die Analphabetin Indira nichts. Als der indische Reuters-Fotograf Arko Datta sie im April besuchte, um ihr von der Auszeichnung zum besten Foto des Jahres zu berichten, hatte sich Indira mit einem blauen Sari herausgeputzt – und permanent gelächelt. „Deswegen bin ich Fotograf geworden“, sagt Datta, „weil in den Momenten, in denen ich abdrücke, kein Raum für falsches Lächeln und sonstige Verstellungen ist.“

Unter fast 70.000 Bildern von 4000 Fotografen aus 24 Ländern kürte die in Amsterdam ansässige Non-Profit-Organisation „World Press Photo“ Arko Dattas Foto von Indira zum besten Bild des vergangenen Jahres. Die Auszeichnungen des Gremiums, dessen Juryvorsitz dieses Jahr der argentinische Starfotograf Diego Goldberg innehatte, gelten als die prestigeträchtigsten der Branche. Von 8. September bis 2. Oktober macht die begleitende Wanderausstellung der besten Fotos des Jahres 2004, die in unterschiedlichen Kategorien verliehen werden, in der Galerie Westlicht Station. Die stärksten Bilder präsentiert profil in dieser Ausgabe. Auch zwei Österreicher wurden bei der heurigen Verleihung bedacht: Peter Granser erhielt für seine Porträtserie von Alzheimer-Patienten eine lobende Erwähnung; Alfred Seiland wurde für seine Anti-Mode-Geschichte „Hängende Gärten“ ausgezeichnet.

„Das Leiden der anderen“. Am nachhaltigsten bleiben jedoch jene Bilder im Gedächtnis, welche die verstorbene Essayistin Susan Sontag mit dem Prädikat „das Leiden der anderen“ beschrieb – jene Bilder also, die an der Schnittstelle von Empathie, Schock und dem Voyeurismus der Erleichterung, sich in sicherer Distanz vom Geschehenen zu befinden, anzusiedeln sind. „Es war für unsere Entscheidungsfindung ein schwieriges Jahr“, erklärt der Juryvorsitzende Diego Goldberg. Denn die Fotodokumente von Abu Ghraib seien „mit Sicherheit die verstörendsten Bilder des vergangenen Jahres“ gewesen. „Nur wurden sie von Amateuren aufgenommen“, so Goldberg, „und wir setzen uns nur mit Profifotografie auseinander.“

Abgesehen vom Amateuraspekt erfüllen die Folterzeugnisse von Abu Ghraib nicht die wichtigste Voraussetzung für guten Fotojournalismus: Distanz aus der Neutralität des Beobachtens. „Radioaktive Bilderbomben“ nannte Donald Rumsfeld jene beschämende Nebengattung der Kriegsfotografie, welche die Opfer zu Trophäen degradierte.

Kriegsfotografie, einst ein ergiebiges Betätigungsfeld für Draufgänger wie den legendären Robert Capa, hat mittlerweile viel von ihrem morbiden Glamour verloren. „Wenn ich nicht da war, waren sicher schon alle anderen da“, beschreibt David Swanson, „World Press Photo“-Preisträger für sein goyaeskes Bild eines US-Soldaten im Irak-Krieg, den schwindenden Pioniergeist seiner Branche. Digitalisierung, Internet und die zunehmende Amateurdichte in der Fotografie lassen die Grenzen zwischen Funktionalismus und Professionalismus verschwimmen.

Und dennoch folgt Swanson dem Credo des Vorbilds James Nachtwey, der den Irak-Krieg nur knapp überlebte. Nachtwey pflegt auf die Frage, ob Fotos gegen den Krieg etwas ausrichten können, zu antworten: „Es ist eine lächerliche Vorstellung. Aber genau diese Vorstellung treibt mich jeden Tag dazu, da hinauszugehen.“

Von Angelika Hager und Gregor Matheis