Blauer Marokkaner

Marokkaner-Szene in Innsbruck

Affäre. Innsbruck reagiert auf die "Marokkaner-Szene" mit offener Apartheid

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Said, 22, stammt aus Casablanca, ist dort mit 17 abgehauen, war in Spanien Früchte ernten, in Italien und lebt seit viereinhalb Jahren in Innsbruck als Hasch-Kleindealer. "Weißt du“, sagt er, "in Casa hatte ich einen Hund. Der hatte ein nettes Plätzchen zum Schlafen und meistens was zu essen. Er hat es besser als wir Marokkaner hier in Innsbruck.“ Said ist wie sechs, sieben weitere Marokkaner in das kleine Lokal der Jugendwohlfahrt in den Innsbrucker Viaduktbögen gekommen, wo sie zweimal wöchentlich duschen dürfen. Der FPÖ-Spruch trifft sie. "Warum sagen sie Diebe zu uns allen?“

Ein Interviewtermin mit der "anderen Seite“ im Innenstadthotel Penz steht an. Zwei junge Marokkaner kommen mit. Doch August Penz, Inhaber des Hotels und FPÖ-Spitzenkandidat für die in zwei Wochen stattfindenden Gemeinderatswahlen, ist kurzfristig verhindert. Er sitzt bei einer Einvernahme der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen gegen ihn wegen Verhetzung aufgenommen hat.

Zum Gespräch mit profil kommt Gerald Hauser, Chef der FPÖ Tirol. Als er die nordafrikanischen profil-Begleiter entdeckt, färbt sich sein Gesicht dunkelrot. Entrüstet stellt er klar, eher auf das Interview zu verzichten, als in Gegenwart dieser Personen auch nur ein Wort zu sagen. Unter vier Augen dann lässt er wissen, dass die "Verbrecher alle sofort interniert gehören“. Die kämen "zu uns, um kriminell zu sein, und wenn sie verhaftet werden, schreien sie Asyl. Allein das ist schon ein Verbrechen, einfach pervers.“ Am Ende des Gesprächs versucht sich Hauser doch noch als gesprächsfähiger Politiker, setzt seine Wahlkampfmiene auf und will Mohammad und Said die Hand reichen. Doch nun wollen die nicht mehr.

Knapp vor der Innsbrucker Gemeinderatswahl hat die Tiroler Landes-FPÖ und deren Innsbrucker Stadtpartei die Kontrolle über ihre eigenen Aussagen verloren. August Penz versuchte zunächst im Stil seines Vorbilds Heinz-Christian Strache neue Saiten aufzuziehen: "Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe“. Doch nach internationaler Entrüstung, nach der Aufnahme von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Verhetzung, nach öffentlichen Aufrufen, das "Penz“ nicht mehr zu buchen, und nach "Verzierung“ seiner Plakate und seiner Firmenautos mit Hakenkreuzen entschloss sich Penz zum Rückwärtssalto. Zerknirscht teilte er mit, es täte ihm alles leid, er habe sich "in Ton, Wortwahl und Inhalt vergriffen“.

Sein "Gesinnungswandel“ hinterlässt bei den Blauen in Tirol tiefe inhaltliche Zerrissenheit. FPÖ-Chef Hauser sagt, er selbst, die Landespartei und auch die Stadtpartei wichen im Gegensatz zum Spitzenkandidaten keinen Millimeter vom Marokkaner-Spruch ab. Dass man die Plakate nun dennoch überklebt hat, versucht Hauser mit einem gewagten Hinweis auf abendländische Religionskultur zu erklären: Die Überklebung sei schon vorher geplant gewesen, weil man in der Karwoche die Besinnung suche.

Immerhin, Penz und Co haben es geschafft, ein seit Jahren verdrängtes Problem zu thematisieren: die so genannte Marokkaner-Szene.

Jeder in Innsbruck sieht sie, fast niemand kennt sie. Es heißt, sie seien Messerstecher, in deren Nähe man ohne Polizeischutz in Lebensgefahr ist. Wer jung und südländisch aussieht, gilt in Innsbruck heute schnell als "Marokkaner“. 1994 kamen die ersten, heute leben zwischen 40 und 80 von ihnen in Innsbruck - meist unter Bedingungen, die selbst in Marokko als unwürdig gelten würden. Viele gelangten aus Italien kommend in die Stadt. Für manche läuft das Asylverfahren noch, doch die Mehrheit befindet sich illegal im Land. Fast alle von ihnen halten sich mit dem Straßenverkauf von Haschisch über Wasser. Einige wurden nach dem Suchgiftgesetz verurteilt und haben daher keine Chance auf staatliche Unterstützung. Gleichzeitig gelten fast alle als nicht abschiebbar, weil sie irgendwo auf ihrer Flucht ihre Originaldokumente vernichtet haben und daher nicht objektiv identifizierbar sind. Und angebliche marokkanische Staatsbürger, deren Identität nicht beweisbar ist, werden vom Königreich Marokko nicht zurückgenommen.

Besuch in einem Marokkaner-Haus im Innsbrucker Stadtteil Höttinger Au. Der leer stehende, mehrstöckige Altbau ist mit Brettern vernagelt. Im Inneren ein Bild der totalen Zerstörung: Berge von Abfall säumen Zimmer und Gänge, durch die kaputten Fenster zieht es kalt, beißender Uringestank überall. In baufälligen Zimmern, hinter Bretterverschlägen dreckige Matratzen. Ob es hier Wasser oder Strom gibt, fragt man gleich gar nicht. Es ist fast Mitternacht, und das einzige Zimmer, in dem es einen Ofen gibt, wird von einem Teelicht und einer Handy-Taschenlampe in dünnes Licht getaucht. Sieben der insgesamt rund 25 hier übernachtenden Marokkaner sind in einer Runde versammelt, die mehr Heimeligkeit verströmt, als man dieser abstoßenden Umgebung zutrauen würde. Das einzige Bier wird in der Runde gereicht, Geschichten von zu Hause und unterwegs erzählt. Meist sind es Geschichten zerplatzter Träume. Abdul hat schon in Casablanca auf der Straße gelebt, ist nie in der Schule gewesen. In Innsbruck lebt er davon, 100 Gramm Haschisch zu acht Euro pro Gramm zu kaufen, in kleine Teile zu zerlegen und grammweise um zehn Euro weiterzuverkaufen: "Davon muss ich ein Monat leben, essen, Strafe zahlen. Immer Strafe zahlen.“ Etwa viermal pro Woche dringt die Polizei in das Haus ein, kassiert mal 20, mal 40 oder mehr Euro für die unbefugte Anwesenheit und treibt die Leute auf die Straße. Danach kommen alle wieder zurück. Abdul hat Angst, Kontakt zu seiner Familie in Marokko aufzunehmen, weil er sich schämt, den Erwartungen nicht entsprechen zu können und Geld aus dem goldenen Westen zu überweisen.

Adnan spricht ein bisschen Deutsch, er ist betrunken, er missbraucht Medikamente. Adnan erzählt, Marokkanern sei in Innsbruck alles verboten: Lokale zu betreten, Einkaufszentren, Internetcafés, alles. Adnan ballt die Fäuste, mit gepresstem Schweigen und feuchten Augen schnappt er sich eine zerbrochene Flasche und schlitzt sich die linke Hand auf. Selbst wenn man Geld habe, vermiete niemand eine Wohnung an Marokkaner. Ein Fall sei bezeichnend gewesen: Ein Innsbrucker Vermieter habe nach der Übergabe der Wohnung die Miete kassiert und zwei Tage später die Polizei gerufen. Alle seien vertrieben worden. Niemand in Innsbruck rede über die Türken, die Heroin verkauften, die Afghanen mit dem Kokain, die Österreicher mit allem zugleich, die Tschetschenen. Doch alle redeten über Marokkaner.

Martin Kirchler, Innsbrucker Stadtpolizeikommandant, nennt die Diebstähle durch Marokkaner "Randerscheinungen“. Man sei mit zwei speziell auf das Marokkaner-Problem abgestellten Einheiten mit knapp 40 Polizisten an seinen Grenzen angelangt: "Mehr können wir nicht tun.“

Doch die Vertreibung will nicht gelingen. Fast alle Marokkaner werden mehrmals pro Tag "gefilzt“. Wer illegal im Land ist, ist bei jeder Kontrolle illegal, und so entstehen Statistiken über Anzeigen gegen Marokkaner, die ein Vielfaches der anwesenden Personen ausmachen. Wenn ein Marokkaner sich im Bahnhofsbereich aufhält, muss er Strafe zahlen, wenn er sich ins Einkaufszentrum Sillpark wagt, ist Strafe zu bezahlen. 60 Marokkaner sitzen in Haft, doppelt so viele, wie derzeit auf freiem Fuß sind. Wegen zwei Gramm Haschisch, wegen nicht bezahlter Strafen, selten, aber doch wegen Raufereien. Und manchmal wird einer mit einem Messer in der Brust ins Krankenhaus eingeliefert. Interne Reibereien, Stress, Alkohol, Tschetschenen, sagt man.

Christof Gstrein von der Jugendwohlfahrt des Landes Tirol will das Problem nicht durch eine rosa Brille betrachten, weiß aber, dass Jobs und Wohnungen die Szene radikal entschärfen würden. Es habe schon vor Jahren Gespräche zwischen den Parteien gegeben, und man sei übereingekommen, "dass Vertreiben alleine zu wenig ist“. Doch das Jobprogramm sei dann doch "nicht gelungen“. Budgetfahrplan 2014 und so. Soll heißen: Die Politik wagt es nicht, für eine verhasste Gruppe auch noch Geld auszugeben.