Frankreich: Die Machtmaschine

Nicolas Sarkozy: von unten nach ganz oben

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Zu den Klängen einer Rockhymne betritt der „Gladiator“ die Arena, auch wenn man ihn nicht sofort sieht: Nicolas Sarkozy ist mit angeblich 1,62 Meter Körpergröße zwei Zentimeter kleiner, als es einst Napoleon war, in seinem Ehrgeiz aber steht er Bonaparte kaum nach. Seit Jahren sagt er bei jeder Gelegenheit, dass er Frankreichs nächster Präsident sein werde. Einem Fernsehjournalisten, der ihn daraufhin ironisch fragte, ob er auch morgens beim Rasieren schon daran denke, antwortete Sarkozy völlig ernst: „Nicht nur beim Rasieren!“

Er glaubt so sehr an seine Mission, Frankreich zu führen, dass sein Ehrgeiz auf seine Landsleute schließlich nicht mehr verschroben wirkte, sondern ansteckend und überzeugend. Heute gilt der Kandidat der konservativen Regierungspartei UMP (Union pour un Mouvement Populaire) als klarer Favorit der Präsidentschaftswahlen, die in zwei Durchgängen am 22. April und 6. Mai stattfinden. Den jüngsten Umfragen zufolge hätte die noch im Dezember als Nummer eins gesetzte Sozialistin Ségolène Royal inzwischen das Nachsehen in einem Wahlduell mit Sarkozy. Die Aussicht auf den Sieg stimuliert die zahllosen Fans in der riesigen Konferenzhalle in der südfranzösischen Stadt Toulon wie ein Aufputschmittel. Sie begrüßen ihren Kandidaten mit stehenden Ovationen und dem Ruf „Sarkozy – Président!“.

Wird er ins höchste Staatsamt gewählt, wäre er einer der mächtigsten Politiker Europas, nicht nur, weil die französische Verfassung dem Präsidenten eine bedeutende Machtfülle verleiht, sondern auch, weil die Kollegen schwächeln: Londons Tony Blair ist knapp vor dem Ausscheiden aus dem Amt eine „lahme Ente“, und Roms Romano Prodi schrammt nicht erst seit vergangener Woche am politischen Exit entlang. Er hat genug damit zu tun, seine Regierung zusammenzuhalten. Das einzige politische Schwergewicht in Europa ist zurzeit die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die ihr Solo auch sichtlich genießt.

Mit Sarkozy könnte ihr bald ein kraftstrotzender Machtmensch Konkurrenz machen. Dieser übt sich derweil noch in angewandter Bescheidenheit: „Wenn ich euch hier sehe, so zahlreich, sage ich mir: Eine Hoffnung ist am Keimen. Eine Hoffnung, die ich nicht enttäuschen darf!“ Hinter ihm prangt in großen Lettern auf himmelblauem Grund sein Kampagnenslogan: „Alles wird möglich.“ Kann man mehr versprechen? Den französischen Wählern, die aufgrund schlechter Erfahrungen misstrauisch sind, versichert Sarkozy, ihm könnten sie getrost Vertrauen schenken: „Ich weiß, ihr habt manchmal das Gefühl, dass man euch betrogen und verraten hat.“ Flugs verwandelt er sich in den Wortführer der angestauten Unzufriedenheit, indem er Punkt für Punkt aufzählt, was seine Zuhörer ärgert und ängstigt: „Dass Kriminelle ungestraft davonkommen, dass unfaire Konkurrenz mit Dumpingpraktiken zu Produktionsverlagerungen führt, dass Fürsorgebezieher mehr verdienen als ein Arbeitender, dass Frankreichs Werte mit Füßen getreten und seine Geschichte verleugnet und beschmutzt wird …“ Der Minister, seit 14 Jahren in der Regierung, gibt sich keineswegs als Kandidat der Kontinuität, sondern des „politischen Bruchs“.

Paradoxerweise treten im Präsidentschaftswahlkampf nun zwei Aspiranten gegeneinander an, die aus dem Zentrum der Macht kommen, sich aber als Antipoden der traditionellen französischen Elitenpolitik inszenieren: hier Nicolas Sarkozy, der hemdsärmlige Aufsteiger, dort seine sozialistische Rivalin Ségolène Royal, die sich mit ihrem viel beschworenen „neuen Stil“ und der geschickt politisch kultivierten Weiblichkeit gegen die Altvorderen ihrer Partei durchsetzte. Beide versprechen, Politik werde in Frankreich bald ganz anders gemacht. Beide verbindet ein wacher Instinkt dafür, dass die Franzosen die elitäre Klüngelpolitik des Pariser Establishments, den schnöselig-aristokratischen Gestus der „Grands Hommes“ satthaben.

Spiel mit Ressentiments. Sarkozys populärer Stil ist dabei nicht immer leicht vom rechten Populismus zu unterscheiden. Er vergisst nicht, dass er in Toulon spricht, die als einzige größere Stadt 1995 bis 2001 von einem Politiker des rechtsextremen Front National (FN) regiert wurde und in deren Umgebung besonders viele vertriebene Algerienfranzosen, die so genannten „Pieds-noirs“, wohnen. Sie haben das schmerzhafte Ende des Kolonialismus nie akzeptiert. Für sie ist es Balsam, wenn Sarkozy sagt, er sei „gegen diese widerliche Mode der Reue“. Solche Aussagen würde auch der FN-Führer Jean-Marie Le Pen vorbehaltlos unterschreiben. „Es liegt nicht an Frankreich sich anzupassen, sondern an jenen, die kommen“, poltert Sarkozy. „Niemand ist gezwungen, gegen seinen Willen in Frankreich zu leben.“

Zwei Tage zuvor in einer Fernsehdebatte sagte er: „Man ist nicht polygam, man lässt nicht seine Töchter verstümmeln, und man schlachtet kein Schaf in seiner Wohnung.“ Viele französische Moslems waren schockiert über dieses „Zerrbild“, mit dem der amtierende Innenminister, der als Nummer zwei in der Regierung auch für Religionsbelange zuständig ist, krude Vorurteile gegenüber dem Islam schüre. In Toulon aber erntet Sarkozy dafür besonders frenetischen Applaus.

Wer Sarkozy Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus unterstellt, wird darauf hingewiesen, dass er schließlich selbst Kind eines Ungarnflüchtlings und Enkel eines zum Christentum konvertierten Juden aus Saloniki sei. Aber wer Frankreich als zweite Heimat wähle, solle sich vertraglich zu einer sprachlichen und kulturellen Assimilierung verpflichten.

Wie ein Chamäleon passt sich Sarkozy dem jeweiligen Umfeld an. Zwanglos geht er auf die Menschen zu und redet mit ihnen, als hätte er am Abend zuvor mit ihnen im Hof Fußball gespielt. „Ihr sucht Kunden? Ich suche Wähler!“, rief er mit entwaffnender Offenheit bei einem Besuch der Alstom-Fabrik im burgundischen Le Creusot einer Gruppe von skeptisch dreinblickenden Arbeitern zu. Und dem Installateur, der beklagte, er verdiene nach 17 Dienstjahren bloß 1300 Euro pro Monat, versicherte der Kandidat, das sei „nicht normal“, und klopfte seinem Gesprächspartner leutselig auf die Schulter. Die Arbeitnehmer fühlen sich von Sarkozy verstanden, auch wenn er im nächsten Atemzug erklärt, wer mehr verdienen wolle, müsse die „Freiheit erhalten, mehr arbeiten zu können“. Doch die Unternehmen böten nur dann Mehrarbeit an, wenn die Überstunden von Steuern und Sozialabgaben befreit würden. Der joviale Arbeiterfreund Sarkozy verliert seine liberalen Programmpunkte nie aus den Augen.

Ein zielstrebiger Machtmensch. Einige Wochen Wahlkampf trennen ihn noch von seinem großen Lebensziel. Nicolas Sarkozy wurde 1955 in Paris geboren. Da sein Vater, der ungarische Aristokrat Pál Sárközy de Nagybocsa, seine Frau und die drei kleinen Söhne sitzen ließ, musste sich die Familie mithilfe der Großeltern durchschlagen. Dem unnahbaren Vater wollte der kleine Nicolas beweisen, dass er es auch ohne ihn schaffen konnte. Das Einzige, was er von diesem in die Wiege gelegt bekommen hatte, war ein solider Antikommunismus. Bei seinem Jus-Studium in Nanterre, der Hochburg der Studentenrevolte von 1968, musste er mit seinen politisch stramm rechten Überzeugungen gegen den Strom schwimmen. Da ihm das Anwaltsdiplom nicht reichte, machte er auch noch einen Abschluss in Politischen Wissenschaften in Paris.

In seinem politischen Engagement setzte er sogleich auf die richtige Karte. Er war schon als „Jugenddelegierter“ dabei, als Jacques Chirac 1976 seine Partei, das neogaullistische Rassemblement Pour la République (RPR), gründete. Dank Chiracs Protektion wurde Sarkozy mit 28 Jahren Bürgermeister des Pariser Nobelvororts Neuilly-sur-Seine. Er hatte dabei einen anderen Gaullisten, den späteren Innenminister Charles Pasqua, ausgetrickst, der über den jungen Nebenbuhler meinte: „Mit solchen ‚Freunden‘ braucht man keine Feinde mehr.“ Mit 34 Jahren wurde er Abgeordneter und 1993 schließlich Finanzminister des RPR-Premierministers Edouard Balladur. Seither fehlte er in keiner Rechtsregierung. Vor allem als Innenminister, der Kriminellen und Delinquenten mit verschärften Gesetzen und einer stärkeren Polizei den Kampf ansagte, gelang es ihm, sich als volksnaher Politiker zu profilieren. Seine Gegner zweifeln weniger an seiner politischen Kompetenz als vielmehr an seinem Charakter. Sein Machthunger irritiert, und oft wirkte er in der Vergangenheit nervös und aggressiv. Im Spätherbst 2005 heizte er die Eskalation in den Vorstädten an, indem er versprach, er werde „mit dem Hochdruckreiniger die Banlieue vom Gesindel säubern“.

Zerwürfnis mit Ziehvater Chirac. In Chirac hatte Sarkozy einen – politischen – Vaterersatz gefunden. Und er tat alles, um seinem Vorbild nachzueifern. Umso enttäuschter war er, als dieser mehrmals einen anderen Lieblingssohn als Nachfolger designierte. Er rächte sich, indem er bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 Balladur gegen Chirac unterstützte. Das war ein Fehler, seinen Verrat hat ihm der heutige Staatschef nie verziehen. Da er Chiracs Segen nicht mehr bekommen konnte, intrigierte Sarkozy gegen ihn. 2004 gelang ihm der entscheidende Schachzug, indem er die Führung der als „Präsidentenpartei“ konzipierten UMP eroberte. Er entzog damit Chirac die politische Basis und sicherte sich selbst eine ideale Ausgangslage für seine jetzige Kandidatur. Es war nur noch eine Formsache, als er sich am 14. Jänner bei einer triumphalen Krönungsmesse als UMP-Präsidentschaftskandidat einsetzen ließ.

Jenseits von links und rechts. Seinen Lehrmeister kann Sarkozy allerdings nicht verleugnen. Sein Stil erinnert die politischen Beobachter an Jacques Chiracs Wahlkampf von 1995, als der heutige Präsident mit einer Kampagne gegen die „fracture sociale“, die wachsenden Ungleichheiten in der Republik, die französischen Sozis rhetorisch oft glatt links überholte. Die Parallelen sind kein Zufall. Denn der Gaullist Henri Guaino, der als Ghostwriter heute Sarkozys Reden schreibt, lieferte vor elf Jahren auch Chirac Ideen und Texte.

Auf einen Mini-Chirac kann Sarkozy trotzdem nicht reduziert werden. In der Tageszeitung „Libération“ beschrieben ihn der Soziologe Robert Castel und der Philosoph Etienne Balibar eher als „Mischung aus Thatcher und Berlusconi“. Wie Thatcher sei Sarkozy ein Vertreter eines „höchst aggressiven wirtschaftlichen Liberalismus“: Steuergeschenke für die Reichsten, Durchlöcherung des Arbeitsrechts und Einschränkung des Streikrechts, drastische Verringerung der Zahl der Beamten. Wie Berlusconi benutze Sarkozy „ohne Skrupel alle staatlichen Mittel, die ihm als Innenminister zur Verfügung stehen“. Zudem zählen die Besitzer der größten Medien- und Pressegruppen zu seinen engsten Freunden und Gönnern: Martin Bouygues (Fernsehsender TF1 und LCI) war sein Trauzeuge, und Arnaud Lagardère (Hachette-Verlagsgruppe) entließ als Zeichen seiner unverbrüchlichen Freundschaft den Chefredakteur der Illustrierten „Paris Match“, der sich unterstanden hatte, eine Story über einen Seitensprung von Sarkozys Frau zu drucken. Der Chef von Radio Europe 1, Jean-Pierre Elkabach, ging so weit, den Innenminister ganz direkt zu fragen, wen er ihm als politischen Berichterstatter empfehle.

Anders als in früheren Wahlkämpfen ist es diesmal auch keineswegs so, dass die linken und liberalen Intellektuellen gleichsam automatisch auf der Seite der sozialistischen Kandidatin stehen und gegen den konservativen Aspiranten votieren. Philosophen wie André Glucksmann und Alain Finkielkraut haben sich demonstrativ für Sarkozy ins Zeug geworfen – teils, weil sie offen mit seinen neokonservativen Haltungen sympathisieren, aber auch, weil sie Sarkozy zutrauen, dass er mit dem verknöcherten republikanischen Modell aufräumt. Im konservativen Lager, so Glucksmann, gäbe es wenigstens noch Debatten. Dass die sozialistische Kandidatin Ségolène Royal medienwirksam einen Wahlkampf für „die kleinen Leute“ führt und zu diesem Zweck gelegentlich mit antiintellektuellen Ressentiments gegenüber den Großdenkern kokettiert, macht sie in den Augen elitärer Geistesmenschen auch nicht beliebter.

„Driften die Intellektuellen nach rechts?“, fragte das Magazin „Nouvel Observateur“ vergangene Woche in einer großen Titelgeschichte.

Zwei Monate vor dem ersten Wahlsonntag scheint Nicolas Sarkozy alle Trumpfkarten in der Hand zu halten. Seine unerschütterliche Siegesgewissheit irritiert nicht wenige Wähler. Sarkozy weiß, dass er keinen Fehler machen darf: „Ich bin ein Herausforderer, ich bin kein Favorit. Meine Lebensgeschichte ist es, dass ich ganz unten begonnen habe, um nach ganz oben zu kommen. Jetzt bleibt mir noch eine Stufe.“

Noch ein Schritt, und der kleine Mann ist ein ganz Großer.

Rudolf Balmer, Paris