Freizeit: Das Leben ist wanderbar!

Wandern erlebt einen Imagewandel

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Grade ein paar Jahrzehnte ist das her. Zur Zeit seines Großvaters, da war das überhaupt keine große Sache. Wochen- und monatelang streifte man damals durch die Wälder. Ohne Wanderwege. Ohne Hütten. Und, jawohl, ohne Standseilbahnen. Heli Putz zuckt die Schultern. Der Outdoor-Extremist, der schon mit 20 seinen ersten Achttausender erklomm und soeben im Trainingscamp die hoffnungsfrohen Teilnehmer der ORF-Extremwanderei „Expedition Österreich“ (siehe Kasten) aufs große Latschen vorbereitet hat, hält selbst nicht viel von Übertreibungen: „Was der Mensch nicht kennt, nennt er bald einmal extrem. Dabei ist das Ganze gar keine Hexerei. In den letzten 50 Jahren hat einfach eine große Verweichlichung stattgefunden. Man braucht sich bloß all die Nepal-Treks anzuschauen: Da gehst du zwei Stunden und kommst schon zur nächsten Hütte, wo’s von Bier bis Cola praktisch alles gibt.“

Stressbekämpfung. Der Trend zur Verweichlichung scheint sich jedoch seit geraumer Zeit umzukehren. Immer mehr Menschen suchen den Kontakt mit den eigenen Grenzen ausgerechnet auf scheinbar beschaulichem Terrain: beim ausgedehnten Fußmarsch. Mit dem althergebrachten Bild von den fröhlichen Wandersleuten, die im Frühtau, rot kariert und filzbehutet, zu Berge ziehen, hat die neue Fußfreiheit freilich denkbar wenig zu tun. Und wer glaubt, zur alpinen Selbsterfahrung sei bloß ein Paar strammer Wadeln nebst solider Zehenhornhaut notwendig, der irrt. Gewaltig.

Denn: „Wandern ist Kopfarbeit“, erklärt Karl Stoss, Vorstandsdirektor der Raiffeisen Zentralbank. Auch ohne großes Training („Ich betreibe eigentlich gar keinen Sport“) konnte der 47-Jährige bereits anspruchsvolle Touren, unter anderem auf den Kilimandscharo, bewältigen: „Wie auch im Managementberuf ist dabei die Frage der Selbstmotivation die entscheidende.“ In dieselbe Kerbe schlägt Stoss’ mehrfacher Bergpartner, Lotterien-Vorstandsdirektor Friedrich Stickler, 55: „Seit einem Skiunfall vor 13 Jahren darf ich ja nicht einmal mehr joggen. Da war der Trip auf den Kilimandscharo so etwas wie eine Bestätigung der eigenen Vollständigkeit.“

Als wichtigstes Motiv für ihre Wanderleidenschaft geben Stoss und Stickler jedoch die Abwendung vom Alltag und all seinen Verpflichtungen und Problemen an. Stickler: „So kitschig es klingen mag: Die Sorgen bleiben im Tal zurück.“

Zu dieser Einsicht sind mittlerweile auch andere gelangt. Gerade Mittdreißiger zieht es wie nie zuvor bergan, sind sie doch meist erheblichem beruflichem Stress ausgesetzt und verrichten wenig bewegungsintensive (Bildschirm-)Tätigkeiten – umso akuter der Wunsch, sich zwischendurch selbst so richtig zu „spüren“. Während für den durchschnittlichen Teenager Bewegungsarmut und Naturferne weiterhin elementare Lifestyle-Elemente seien, werde heute spätestens mit 25 die Lust an der naturnahen Aktivität entdeckt, erklärt Rainer Brämer, Wanderexperte an der Uni Marburg: „Gerade unter Studierenden wird Wandern immer beliebter.“

Nicht umsonst zählen heute bereits fünfzig Prozent der rund 60 Millionen Wandertouristen, die alljährlich Österreichs Berge durchstreifen, zur Bildungselite, haben zumindest Matura. Nicht nur die Sportartikelindustrie hat längst erkannt, welch zahlungskräftiges Publikum da bedient werden will. Auch die traditionellen Wanderreviere adaptieren ihr Angebot entsprechend, verabschieden sich vom traditionellen Wandernadelfetischismus und konzentrieren sich auf die Bedürfnisse der neuen Lifestyle-Wanderer.

Um eine homogene Zielgruppe handelt es sich dabei allerdings nicht. Denn neben den Extremisten, die ihr Heil im Grenzgängertum suchen, etabliert sich zunehmend die Gruppe der Genusswanderer. Gunnar Homann, Redakteur beim Fachblatt „Outdoor“: „Das Lebensgefühl, das sich hier auswirkt, ist das des lässigen, legeren Natursuchenden.“

Freiheitsdrang. Auch Alfred Kölbel, Wanderbuchautor und „Standard“-Kolumnist, beobachtet, „dass die Zeit des reinen Stempeljägers vorbei ist. Was die Menschen heute interessiert, ist vielmehr das immense Maß an individueller Freiheit, das sich dem Wanderer erschließt. Man kann ja im Wesentlichen machen, was man will, gehen, wohin es einen gerade treibt.“

Eine Vorstellung, die im Konzept der öffentlich-rechtlichen „Expedition Österreich“ buchstäblich auf die Spitze getrieben wird: Auf Wanderwege wird da schon im Ansatz gepfiffen; stattdessen geht es immer schnurstracks der Nase nach – quer durch Österreich. Dem Publizisten Kölbel „erschließt sich die Sinnhaftigkeit dieser Show leider nicht. Aber meinetwegen soll jeder nach seiner Façon glücklich werden.“

Auch beim Österreichischen Alpenverein beurteilt man das ORF-Experiment eher skeptisch. Luis Töchterle, Leiter des Jugendreferats im Alpenverein: „Natürlich sind wir neugierig, welchen Effekt die Sendung haben wird. Leider ist das Konzept nicht unproblematisch: Das Konkurrenzprinzip läuft den sozialen Gegebenheiten des Miteinander-Wanderns total zuwider.“

Ob in der Gruppe oder allein, ob in Nepal oder im Karwendel – ein Ziel hat das Gros der Wanderer deutlich vor Augen: „Im Grunde suchen diese Leute nichts anderes als das Paradies“, meint der deutsche „Wanderpapst“ Rainer Brämer. „Das hat natürlich auch sehr viel mit Sinnsuche zu tun. Man denke nur an den gewaltigen Boom bei den Pilgerwanderungen.“

Sinnsuche. Tatsächlich erleben die traditionellen Pilgerwege derzeit einen regelrechten Massenauflauf. So hat nicht nur die ÖVP den Gemeinschaft stiftenden Marsch nach Mariazell kultiviert: Seit dem Vorjahr entwickelt sich die – ohnehin gut besuchte – Magna Mater zum regelrechten Magneten. Erika Käfer von der Alpenvereinssektion „Weitwanderer“ berichtet von einem reißenden Pilgerführer-Absatz: „In einer Saison haben wir so viele Führer verkauft wie sonst in zwanzig Jahren nicht.“

Doch nicht nur gestresste Sinnsucher erschwitzen sich ihr Seelenheil: Wandern war und ist vor allem auch des Dichters Lust. So landete etwa Karl Philipp Moritz mit seinen 1792 erschienenen „Reisen eines Deutschen in England“ einen veritablen Bestseller. Kaum ein Werk der Romantik kam ohne Motive des Unterwegsseins aus, die Wanderschaft wurde zum Topos für Selbstverwirklichung, Naturerlebnis, Freiheit und Abenteuer. Autoren wie Clemens von Brentano („Des Knaben Wunderhorn“) oder Joseph Eichendorff („Aus dem Leben eines Taugenichts“) schickten ihre Protagonisten auf verschlungene Reisen nach dem Sehnsuchtsobjekt „blaue Blume“.

Der 1803 erschienene, bis heute höchst lesenswerte „Spaziergang nach Syrakus“ – neben Goethes „Italienischer Reise“ das wohl einflussreichste Italien-Reisebuch deutscher Sprache – machte seinen Autor rasch berühmt: Johann Gottfried Seume, ein kleiner Korrektor und Leutnant a. D., brach am 6. Dezember 1801 von Grimma bei Leipzig auf nach Syrakus in Sizilien – und verwirklichte seine „idée fixe“: 6000 Kilometer (vorwiegend zu Fuß) in rund 250 Tagen zurückzulegen. Einige Jahre später brachte Seume (1763–1810) seine Wandererfahrungen in „Mein Sommer 1805“ zu Papier: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. (…) Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste im dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge (…).“

Dichtung. Auch als Gradmesser für das Ausmaß des aktuellen Wanderbooms mag die Literatur herhalten: Seit einigen Monaten drängen poetische Spaziergangsberichte in ungeahntem Ausmaß in die Bestsellerlisten (siehe Kasten Seite 91). Wenige zeitgenössische Autoren beherzigen das alte Wandermotto „Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich!“ jedoch so konsequent wie Peter Handke („Der Bildverlust“) und Christoph Ransmayr („Der Weg nach Surabaya“): Ihre Welterfahrung erfolgt vornehmlich per pedes. Wenn hingegen der brasilianische Erfolgsschriftsteller und Heißluft-Philosoph Paolo Coelho („Auf dem Jakobsweg“) die Wanderschuhe anzieht, kann es gefährlich werden: In Irland wäre Coelho fast ins Meer gestürzt, in den Pyrenäen beinahe verloren gegangen, in der Mojave-Wüste um ein Haar verdurstet.

Dass das gepflegte Wandererdasein jedoch nicht zwangsläufig mit beschwerlichen Fußmärschen verbunden sein muss, beweist Gerald Matt, Direktor der Wiener Kunsthalle und kulinarischer Besucher des berühmten Jakobswegs nach Santiago de Compostela. „Ich vertrete die Ansicht, dass man sich ohne schlechtes Gewissen die Rosinen herauspicken soll. Darum war für mich das Ziel tatsächlich der Weg: der Jakobsweg nämlich, zu dem ich, in der Position des Flaneurs und Feinschmeckers, hinaufgefahren bin. Auf der Terrasse des bezaubernden Hotel Londres, bei einem schönen Martini dry, habe ich dann meine Wanderung im Kopf erlebt.“

Wandern ist tatsächlich Kopfarbeit.