Fußball-WM '06: Die größte Show der Welt

Fußball-WM 2006: Die größte Show der Welt Sportwissenschaft: Servus, die Wadeln!

Im WM-Jahr bleibt kaum eine Frage unerforscht

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Im Grunde ist es ein Spiel von bemerkenswerter Schlichtheit: 22 Männer (viel seltener Frauen), zwei Tore, ein Ball. Ein Schiedsrichter mit zwei Assistenten und 17 vom Fußball-Weltverband FIFA normierte Regeln. Dazu das Publikum, das 90 Minuten lang auf etwas wartet, das erfahrungsgemäß vielleicht drei-, viermal, möglicherweise aber überhaupt nicht passiert.

Rätsel gibt der Fußball allemal auf. Wieso etwa harren Millionen Fans in aller Welt Spiel um Spiel im Stadion oder vor dem Fernseher aus, obwohl sie sich – wie manche durchaus zugeben – einen Großteil der Zeit entweder langweilen oder ärgern? Oder aber: Wie kann ein Ball im Tor landen, der gerade erst in scheinbar unbedrohliche Richtung davongeflogen war? Wie trainiert man künftige Weltmeister? Und welche Rolle spielt eigentlich der Zufall für den Ausgang eines Matchs?

Im WM-Jahr 2006 haben Überlegungen dieser Art längst von den Fußballstammtischen auf Forschungszentren und Universitätsinstitute übergegriffen. Ob in Sportwissenschaft oder Psychologie, Medizin, Soziologie oder Physik: Fußball wird vermessen, analysiert, berechnet und interpretiert wie nie zuvor. „Anfangs wurde ich immer wieder gefragt, was denn ausgerechnet mein Fach mit Fußball zu tun habe“, amüsiert sich die Politologin Eva Kreisky, die an der Universität Wien über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht forscht. Die Skeptiker hat sie mittlerweile eines Besseren belehrt. Ihre Ringvorlesung zum Thema findet regen Zuspruch; das im Zuge der Forschungsarbeit entstandene Buch „Arena der Männlichkeit“ ist soeben im Campus Verlag erschienen.

Und so stehen bei der Weltmeisterschaft 2006 ab 9. Juni in Deutschland nicht nur die besten Kicker der Welt, sondern auch die Forschung rund um den Ball auf dem Prüfstand. Dabei geht es zunächst einmal um recht Konkretes: Eine Wissenschaft für sich ist etwa der Rasen, auf dem die 64 Wettkämpfe ausgetragen werden. Ein eigens eingerichtetes „Rasenkompetenzteam“ der FIFA entwickelte in Zusammenarbeit mit der Deutschen Rasengesellschaft die Formel für den idealen WM-Untergrund, die da lautet: 75 Prozent Wiesenrispe (Poa pratensis) und 25 Prozent Weidelgras (Lolium perenne).

Optimiertes Spielgerät. Auch beim Ball überlassen FIFA und Industrie schon lange nichts mehr dem Zufall: Mehr als drei Jahre lang wurde in den Entwicklungszentren des FIFA-Sponsors Adidas daran gearbeitet, das Spielgerät zu optimieren (siehe Kasten S. 124). Unterdessen wird in den Labors der Biomechaniker am Schuh der Fußballprofis getüftelt: Leicht muss er sein und absolut rutschfest, gleichzeitig perfekten Halt geben. Bei unter 200 Gramm liegt das Idealgewicht – jedes Gramm zu viel könnte den Spieler im Laufe eines Spiels zusätzlich ermüden und um die entscheidenden Sekundenbruchteile bremsen.

In den Trainingscamps der Weltklasseteams läuft ohne Unterstützung durch Wissenschaft und Technologie sowieso nichts mehr. Im millionenträchtigen Kampf um Titel und Pokale wird jedes Mittel eingesetzt, das mehr aus den Spielern herauszuholen verspricht. Vorreiter auf diesem Gebiet ist der FC Milan, laut Wissenschaftsmagazin „GEO“ „die erste gläserne Fußballmannschaft der Welt“.

Jeder Spieler des 17-fachen italienischen Meisters hat alle Daten zu Training, Kondition und Leistung auf einem Datenträger gespeichert. Sogar das Menü, das sich die Athleten in der Kantine holen, wird auf dem Chip vermerkt, die Kalorien mit dem Kraftverbrauch gegengerechnet. Die individuelle Tagesverfassung der Spieler, zusammengesetzt aus Trainingsergebnissen und medizinischen Werten, wird auf einer Skala von eins bis zehn markiert. Wer keine Spitzenwerte aufweist, wird gar nicht erst aufs Feld geschickt. Schließlich geht es nicht nur um Sieg oder Niederlage, sondern auch um einen optimalen Schutz der hochpreisigen Kickerwadeln.

Viel Hoffnung setzen die Top-Trainer auch in computergestützte Datenbanken, die genauen Einblick in die Stärken, Schwächen und Spielstrategien des Gegners geben. Aber auch der Analyse der eigenen Bewegungsabläufe kommt wachsende Bedeutung zu. „Das ist besonders wertvolles Informationsmaterial für den Trainer“, sagt der Biomechaniker Arnold Baca vom Institut für Sportwissenschaft der Uni Wien. Im Testraum des Instituts lässt Baca Athleten auf die Kraftmessplatte laufen. An ihren Gliedmaßen und Gelenken werden vorher kugelförmige Reflektoren befestigt, 39 sind es beim Fußballer. Dann heißt es Schuss ab: Sechs hoch empfindliche Spezialkameras filmen den Bewegungsablauf mit bis zu 2000 Bildern pro Sekunde. Ein mathematisches Modell hilft, den komplexen Bewegungsablauf am Computer zu rekonstruieren, der dann genauer analysiert und wahlweise durch ein menschliches Skelett, eine Roboterfigur oder gar einen Teddybär dargestellt werden kann. Es ist dieselbe Technologie wie jene, mit der in den Studios von Hollywood animierte Filme produziert werden.

Parallel zum Bild der Bewegung liefert das Computerprogramm auch Kraftverläufe und Geschwindigkeitskurven. Werden technische Mängel erkannt, kann gezielt eine Verbesserung trainiert werden. „High-Tech gewinnt für das Training zunehmend an Bedeutung“, betont Baca. In Österreich allerdings sei die Forschung auf diesem Gebiet der Anwendung immer noch ein paar Schritte voraus.

Radarsignale. Neue Impulse für Trainer und Spieler könnte das vom oberösterreichischen Technologieunternehmen Abatec entwickelte High-Tech-System bringen. „Local Position Measurement“, kurz LPM, ist eine Art umgekehrtes GPS, bei dem ein sich bewegender Mensch – also beispielsweise der Fußballer – Radarsignale an am Rand des Spielfeldes aufgestellte Basisstationen aussendet. Der Sportler trägt dazu einen 50 Gramm schweren Transponder in der Größe einer Kreditkarte an einem zwischen seinen Schulterblättern befestigten Gurt.

„Mit den daraus gewonnenen Daten kann der Ablauf von Spielzügen aus ganz verschiedenen Perspektiven am Monitor nachvollzogen werden“, erklärt Abatec-Gründer Friedrich Niederndorfer. Andererseits gibt das System auch Auskunft darüber, wie viel ein Spieler tatsächlich gelaufen, gegangen oder einfach nur herumgestanden ist. Im Einsatz ist das LPM-System seit über einem Jahr beim holländischen Klub PSV Eindhoven.

Die Idee eines chipbeseelten Fußballs, der keine Zweifel mehr offen lässt, ob er die Torlinie passiert hat oder nicht, dürfte dagegen vorerst Utopie bleiben. „Noch nicht machbar“, glaubt Niederndorfer. Die Schwierigkeit liege darin, dass der Ball aus sendetechnischer Sicht in zu enger Berührung mit den Spielern steht. Wenn ihn der Tormann hält oder zwei, drei Spieler ihn umkämpfen, können die Radarsignale nicht verlässlich durchdringen.

Gute Nachricht für all jene, welche die zunehmende Technologisierung des Fußballs beklagen. „Für das Spiel wäre so ein Ball tödlich“, meint Roman Horak, Kulturwissenschafter an der Wiener Universität für angewandte Kunst, der schon in den neunziger Jahren im Rahmen einer internationalen und interdisziplinären Forschergruppe Fußball und Fankulturen beforscht hat. „Das Spiel lebt von seinen altmodischen Regeln und von der Kontrollschwäche des Schiedsrichters“, ist Horak überzeugt. „Erst die machen es in so hohem Maße unberechenbar – und damit so spannend.“

Spannend ist es in der Tat. Was diese spezielle Spannung ausmacht, war auch schon Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen. Eine der Antworten: Es liegt am Tor, genauer gesagt an der Seltenheit, mit der ein Schuss ins Goal trifft. Der emeritierte britische Physiker John Wesson geht in seinem Buch „Fußball – Wissenschaft mit Kick“ der Frage auf den Grund, ob das Spiel nicht mehr Dynamik bekäme, wenn die Tore größer und dadurch die Trefferquote höher wäre.

Die schwächere Mannschaft habe umso größere Chancen auf einen Überraschungssieg, je weniger Tore fallen, so errechnete der Brite. Bei zwei Mannschaften, von denen eine im langfristigen Durchschnitt ihrer Spiele doppelt so viele Tore erzielt hat wie die andere, stellt sich die Rechnung so dar: Fällt während der Begegnung nur ein Tor, so wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin 33 Prozent von der schlechteren Mannschaft erzielt. Fallen insgesamt drei Tore, sinken die Siegeschancen der Schwächeren auf 26, bei neun Toren auf 15 Prozent. Je mehr Tore fallen, desto schlechter sind also die Chancen für die Underdogs. Für Wesson liegt damit auf der Hand: „Aus der Möglichkeit, dass auch das schwächere Team gewinnen kann, bezieht das Fußballspiel seine Spannung und seinen Reiz.“

Elfmeter. Die Maße des Tores, das mit einer Trefferfläche von 18 Quadratmetern in etwa der Größe eines Reisebusses entspricht, sind also gerade ideal – auch wenn das der Tormann im Augenblick des Elfmeters anders sehen mag. Dessen Dilemma hat die Mathematikerin Sandra Johanni von der Universität Erlangen-Nürnberg berechnet.

Wird ein Elfmeter mit dem Durchschnittswert von 83 Kilometern pro Stunde geschossen, legt er die Strecke zum Tor in rund 23 Metern pro Sekunde zurück – nach einer halben Sekunde ist er im Netz. Selbst ein Spitzentormann reagiert frühestens nach 0,25 Sekunden. Um den Ball sicher zu fangen, müsste er in der verbleibenden Viertelsekunde mit einer Geschwindigkeit von mehr als 35 Kilometern pro Stunde Richtung Ball hechten – eine solche Beschleunigung aber ist aus dem Stand heraus unmöglich. Was bleibt, ist die intuitive Entscheidung für ein Eck, bevor der Schütze zum Schuss ansetzt.

Also doch alles bloß Zufall? Der Augsburger Sportwissenschafter Martin Lames wollte es genauer wissen und untersuchte das Zustandekommen von 600 Toren aus Erstligaspielen verschiedener Länder.

Vorher definierte er Merkmale, die einen zufallsbedingten Treffer ausmachen: abgefälschte Flugbahn des Balles, Schüsse, die vom Pfosten oder an einem Spieler abprallen, aber auch Bälle, die aus großer Entfernung das Tor treffen. Das Ergebnis: Knapp 40 Prozent der Tore waren nicht wirklich planbar. Gerade der Zufall sei es, der dem Spiel die besondere Dramatik verleihe, resümiert Lames. „Dann sitzen wir da und ärgern uns und denken, dass es doch auch ganz anders hätte kommen können.“

Genau darin liegt für viele der große Kick. „Ich will mich ärgern können über verpatzte Chancen und die Ungerechtigkeit des Schiedsrichters“, bekennt Fußballforscher Horak. „Und ich möchte nachher alles besser gewusst haben. Als Zuschauer bist du doch immer der Schlauere – das ist doch herrlich!“

Das Schimpfen und das Ärgern, das Jubeln und das Toben kommen immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, das Phänomen Fußball zu beschreiben. Das Stadion „als spezieller Ort der Enthemmung“ – so nennt es der deutsche Historiker und Fußballautor Christoph Bausenwein in seinem Buch „Geheimnis Fußball“. An diesem speziell abgeschlossenen Ort könne ansatzweise der „kollektive emotionale Ausstieg“ durchexerziert werden.

Männlichkeitsbilder. Ähnlich sieht es auch Politologin Kreisky. Im Stadion, so ihre Forschungserkenntnis, schlagen archaische Männlichkeitsbilder durch, die eigentlich im Widerspruch zur modernen Gesellschaft stehen. Offenbar gäbe es ein enormes Bedürfnis nach einer solchen Schutzzone, in der „geweint, gelacht, gefühlt werden darf“, beobachtet die Wissenschafterin. Gleichzeitig aber würden im Stadion die Geschlechtergrenzen enger gezogen als in der umgebenden Gesellschaft. So ist Homosexualität im Paralleluniversum des Fußballs heute ein viel größeres Tabu als in der übrigen Gesellschaft. Kreisky attestiert dem Fußball die Funktion eines Seismografen, das Stadion sieht sie als „Arena, in der wichtige politische, ökonomische und soziale Tendenzen sichtbar werden“.

Durch Fußball die Welt verstehen? Nicht alle können diesem Trend etwas abgewinnen. „Rettet den Fußball vor den Intellektuellen“, forderte das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zu Beginn des WM-Jahres. Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ fragte erst kürzlich: „Ist der Fußball nun ein Spiegel der Gesellschaft, oder ist er einfach nur Fußball?“

So bleibt auch die wesentliche Frage – trotz aller Bemühungen der Wissenschaft – vorerst offen: welches Team in den Abendstunden des 9. Juli im Berliner Olympiastadion vor prognostizierten 1,6 Milliarden Fernsehzuschauern zum Fußballweltmeister 2006 gekürt wird.

Von Irene Jancsy