Helmut A. Gansterer

Helmut A. Gansterer Intime Irreführung

Intime Irreführung

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Ich bitte die klugen Leserinnen und schönen Leser, mich nicht zu verraten, aber ich halte alle Ich-Zeugnisse, also die Autobiografien, Tagebücher und Briefwechsel für fantasievoller, weil verlogener als alle Romane. Diese haben zwar ebenfalls und ausnahmslos ihren Autor zum Gegenstand, punkten aber mit dem Vorzug der Aufrichtigkeit. Denn dort, in den Romanen, wissen die Romanciers (weibl.: Romanzen) sich gut versteckt. Sie treten pseudonym mit fremdem Namen auf. Oft wird ihr Aussehen und Charakter sogar auf mehrere Rollen im Buch verteilt. Das macht es enorm schwierig, ihr Ebenbild zu erkennen, was in der Absicht liegt.

Im Schutz der Verstecke können die Romanschriftsteller ehrlich sein. Sie dürfen den Engel, der sie sind, ohne Peinlichkeit fliegen lassen, und die Sau, die sie auch sind, bedenkenlos rauslassen, ohne gleich lebenslänglich ins Gefängnis zu wandern oder gar von den Nachbarn geschnitten zu werden.

Nehmen wir ein Beispiel ohne Ablaufdatum, Johann Wolfgang von Goethe. Der Geheimrat ist 200 Jahre nach dem Gipfel seines Wirkens immer noch die Nummer eins. Sein Eintrag führt die Hitliste der Aufrufe im Internetlexikon Wikipedia an. Er ist ein Musterbeispiel zum Thema. Im dramatischen Hauptwerk "Faust“ steckt mehr von ihm als in der geflunkerten Autobiografie "Dichtung und Wahrheit“.

"Faust 1“ hält bis heute die Germanisten im Brot. So viele offene Fragen: Wie viel vom Faust, wie viel vom Mephisto ist Goethe selbst, und was genau in welcher Dosis? Ist der Faust-Schüler und stubengelehrte Famulus Wagner, dieser trockene Schleicher, wirklich nach dem Ebenbild des "braven Eckermann“ (Goethe) gezeichnet? Oder nicht selbstkritisch nach Goethes eigener Beflissenheit im Umgang mit seinem Brotherrn, dem Großherzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach?

Momentan ist Eckermann ein warmes Thema. Der Wissenschaft gelang ein massiver Durchbruch: Er war nicht Goethes Sekretär! Er war ein "Freund Götes“, wie der Großherzog in einem Brief schrieb, mit diesem auf "gesellschaftlicher Augenhöhe“. Der adlige Biedermeier-Dichter Nikolaus Lenau setzte tiefer an: "Eckermann und Goethe - Blasrohr und Flöte.“ Rotwangige Wissenschaft beugt sich nun über neue Unterlagen. Man analysiert ein spätes Lob Goethes über den "bewährten Seelen- und Hausfreund“. Man wird sehen. Schlaflos in Sachsen.

So viel zur Wirklichkeitsnähe von Romanen und Dramen. Nun zur Verlogenheit der Autobiografien. Auch hier ist Goethe beispielhaft - und vorbildlich. Er hat künstlerische Freiheiten seiner Jugendaufzeichnungen "Dichtung und Wahrheit“ immer eingestanden, auch auf die Genialität des Titels hingewiesen, der alles offenlässt.

Die größte Frage freilich, eine medienübergreifende Modefrage, sieht uns bis heute ratlos. Der Briefroman "Die Leiden des jungen Werther“, der Goethes Weltruhm begründete, bewirkte zwei Schrecken. Erstens eine Freitodseuche unter jungen Leuten. Zweitens eine Modelinie, die wir auch in "Dichtung und Wahrheit“ bestätigt finden: senfgelbe Kniebundhose unter schmeißfliegenflügelblauer Jacke. Diese Kombi war kraft "Werther“ so begehrt, dass selbst die Maßschneider à la Knize mitziehen mussten, bei sonstiger Insolvenzgefahr. Ein vergleichbarer Erfolg war erst Jahrhunderte später Coco Chanel mit dem "Kleinen Schwarzen“ beschieden.

Wie schön eigentlich: Es waren die letzten Jahre, da Literatur wichtiger war als Modegeschmack.

Das Nahe ist näher. Es verlangt, zum Thema dieses Aufsatzes auch Stefan Zweig (1881-1942) anzuführen. Er zählt zum Stolz-Erbe Österreichs. Er war der erfolgreichste Schriftsteller seiner Zeit. Zweig-Kritik kam allenfalls antisemitisch und handelte davon, dass er sich immer rechtzeitig der Lebensgefahr entzog, von Wien nach London, von London nach Rio, schließlich in die splendid isolation von Petropolis, wo er und seine Frau Lotte mit Veronal den Freitod wählten. Obgleich in Sicherheit und mit Geld für zehn Leben versorgt, ertrugen sie als Pazifisten den Krieg nicht. Auch in seinem Fall sah man Ähnliches wie bei Goethe: viel vom Autor in der Literatur, viel Fantasie in den Tagebüchern.

Im literarischen, teils genialen ("Schachnovelle“, "Die Welt von Gestern“), teils holzschnittartigen (Biografie-Bestseller über alle namhaften EuropäerInnen), teils unerträglich schwülstigen Werk (Nachrufe auf Rilke und Toscanini) fanden Zeitgenossen zu viel Stefan Zweig. Im besten Selbstzeugnis hingegen, den fesselnd geschriebenen "Tagebüchern“ (Fischer 9238), oft zu wenig. Dort ist vieles aufgebauscht, zugleich vieles sittsam unterdrückt, was man gern über ihn, den literarischen Weltstar, gelesen hätte.

Good News 1: Es gibt die reinen, fantasievollen Romane, in denen der Autor nichts über sich schreibt. Doch jetzt, da ich "Orlando oder die Liebe zur Fotografie“ von Paul Theroux oder "Tausend Kraniche“ von Yasunari Kawabata nennen will, merke ich erst, wie viel Theroux und Kawabata in diesen wunderbaren Büchern steckt. Wahrscheinlich kann ein literarisches Werk ohne Selbstbezug gar nicht entstehen. Wie Archimedes braucht man einen Fixpunkt, sich selbst, um die Welt aus den Angeln zu heben.

Good News 2: Autobiografien und Tagebücher ohne schlaue Selbstverherrlichung oder kokette Bescheidenheit müssen unheimlich fad sein. Gottlob haben wir noch kein Selbstzeugnis dieser Art gesehen.

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