Helmut A. Gansterer

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„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ Marcel Proust
„Auf der Suche nach der verlorenen Suche“ H.A.G.

Alle Pessimisten und Grantscherben, also praktisch alle Wiener, vertreten die melancholische Theorie, eigentlich sei alles, was man erzählen, fotografieren, filmen, malen und komponieren könne, längst erzählt, fotografiert, gefilmt, gemalt, komponiert. Alles zu Erfindende sei erfunden. Jeder Versuch, dieses grausame Grund­gesetz trotzig zu brechen, sei vielleicht ehrenwert, sicher aber bescheuert.

Ich glaube dies eigentlich nicht. Der bewundernde Blick in die Werkstätten österreichischer Künstler reicht aus, um diese Theorie zu falsifizieren. Arno Geiger erzählt anders, als bisher erzählt wurde. Andreas H. Bitesnich findet in jedem Sujet, das er wählt – Prominentenporträt, Erotik, Indien –, einen neuen fotografischen Zugang bei gleichzeitig neuer, technischer Brillanz. Unsere internationalen Filmhelden wie Ruzowitzky und Markovics und Waltz berühren auf pfiffigere Weise als ihre Vorfahren. Die momentane Abwendung von der reinen Malerei (die unglücklich eine „abstrakte“ genannt wurde) zur Wiederentdeckung des Figürlichen wird uns bald schon mit fantastischen Neuschöpfungen entzücken, und das moderne Ohr lernt, mit Tonschöpfungen wie jenen von Martin Essl Freundschaft zu schließen.

Was die Berichterstattung, den ebenfalls unglücklich benannten „Journalismus“ (als ginge es nur um die Veränderungen von Tag zu Tag) betrifft, so ist auch dieser den Künsten zuzurechnen. Was Erfindungen betrifft, hat er den anderen Künsten immer die Ferse gezeigt. Ab dem Moment, da im deutschen Sprachraum mit der „Vossischen“ die Tageszeitungen ihre ruhmreiche Reise antraten, wurde der Erfindungsreichtum des Menschen erst wirklich bewiesen.
Die Tagesblätter, täglich genötigt, ihre großen Flächen zu füllen, zeigten unsere Kraft fürs Fiktive. Sie kämpften gegen den Horror Vacui, das Entsetzen vor der Leere. Sie füllten jede leer gebliebene Seite aus der eigenen Fantasie. Sehr gut darin seit jeher die Wiener Journale. Der Dichter Josef Weinheber schrieb demgemäß: „S’ wär net Wien, wenn net durt, wo kein Gscherr war, eins wurt.“

Diese Pionierleistung der Tagesblätter darf nicht vergessen werden. Moderne Medien zeigten bald höheres Talent, die Wirklichkeit grimmiger oder bekömmlicher darzustellen, als sie war. Weltmeisterlich die Frauenmagazine. Mit Intelligenz und Menschenkenntnis fand man dort ein Thema ohne Ablaufdatum: die monatliche „Endgültige Diät ohne Entsagung“. Lange Zeit nicht ernst genommen, reiften sie zum Gipfel publizistischer Evolution und des Gewinns nach Steuern. Nur dem „Stern“, in einer mit Recht so genannten Sternstunde, gelang eine kurzfristige Überstrahlung. Die deutsche Illustrierte bot einem Hitler-Tagebuch-Fälscher die größte Bühne. Seither hat sie in Fiction stark nachgelassen. Nur noch die genialen „Stern“-Cartoons von Gerhard Haderer führen die LeserInnen zuverlässig in eine Umlaufbahn, in der sich die Schwerkräfte von Wahn und Witz, von Wirklichkeit, Wahrheit und Weh aufheben.

Ich höre, dass einer neuen Generation von Uni-Publizistikstudenten, gestützt von modernen Professoren, ein perfekter Printjournalismus wieder zum Anliegen wird, verbunden mit echter Tiefenrecherche. Ich glaube dies aus drei Gründen. Erstens, weil ich es gerne glaube. Zweitens, weil ich ohnehin in der profil-Community lebe, in der dies nie unmodern wurde. Drittens, weil es in den Wellenbewegungen der Geistesmoden wieder an der Reihe ist. Die vielfältigen Online-Medien sind hier, um zu bleiben. Sie wecken aber auch die Sehnsucht nach sicheren Häfen und stabilen Kaimauern aus Papier. Je fester der Halt, desto größer die Freude am Schaukeln.

Wir sind nahe daran, eine Renaissance des „Qualitätsjournalismus“ zu erleben. Sie ließ lang auf sich warten, und der Zeitpunkt ist immer noch ungewiss, aber fühlbar nahe. Viele sprangen vor der Zeit ab. Sie glaubten, alle journalistischen Inhalte würden auf ewig in kleine bunte Smarties karamellisiert werden. Irgendwann würde alles in einen SMS-Ozean sinken, ein Gelalle aus Kürzeln, illustriert mit elenden Handyfotos. Vorbei die gründlichen Menschenporträts, die Tiefeninterviews, die geistvollen Vogelschauen, die großen Fotoessays. Kommt gottlob alles wieder.
Alleweil, wir wären schon so weit. Und doch mache ich mir jetzt schon Sorgen, man könnte in der kommenden Gegenreformation, wie bei jeder Wende, wieder übertreiben. Neue Recherchequalität, neue Besonnenheit der Interpretation und neue Schreibkunst werden nur dann bekömmlich sein, wenn die beweglichen Scharniere der Printmedien, die Kolumnisten, einen Ausgleich bieten, also gelegentlich unsolide, unreif und unernst bleiben.

Vor allem meine ich damit mich. Als ich einst zum Kolumnisten erhoben wurde, empfand ich es als Ritterschlag und Einladung zum Highlife. Jahrzehnte hatte ich wie ein Wissenschafter recherchiert. Anders hätte ich nicht 50 Titel­geschichten für „trend“ und profil schreiben können. Nun endlich durfte ich frei schreiben, ohne lästige Vorarbeit. Nur geleitet von meinem Gewissen. Dieses befahl mir beispielsweise, die Zuversicht für einen wiederkehrenden Qualitätsjournalismus wachzuhalten. Nun, da dieser vor der Tür steht, werde ich vielleicht der Einzige sein, der sich ihm verweigert. Ich werde nie wieder recherchieren.■

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