Helmut A. Gansterer

Helmut A. Gansterer Schopenhauertag

Schopenhauertag

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"Der Tüchtige hilft sich, wie er helfen kann“, Johann Wolfgang v. Goethe

Dieser Tage saß ich über Stunden mit Leuten zusammen, die ich sonst meide: melancholische Frührentner, die von Weitem oft gut beinand wirken, aus der Nähe aber durch ihre grauen Gesichter als Schicksalsgenossen ausgewiesen sind. Mir fiel auf, wie gut viele Scherzbegriffe der frechen Jugend auf sie zutrafen, beispielsweise "reitende Leichen“ und "Untote“ und "Gruftis“ und "Kompostis“ und dergleichen. Mir war aber nicht zum Scherzen zumute. Ich wurde sogar, was selten der Fall ist, von einer noblen, menschlichen Regung heimgesucht, die man Mitleid nennt.

Statt wie üblich die Straßenseite zu wechseln oder das Lokal zu verlassen, aus Angst, im Wege der Abfärbung selbst grau um die Augen zu werden, setzte ich mich zu ihnen. Leicht fiel dies nicht. Ganz nah bei ihnen war alles noch schlimmer. Den Gesichtern waren Vergeblichkeiten und Enttäuschungen eingeschrieben, all die Dinge, die man sich fürs Leben vorgenommen und nicht erreicht hat, wohl auch das, was Seelenforscher die "eigentliche Geißel des Alters“ nennen, jenes Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.

Als Schicksalsgenossen mochten sie einander recht gern. Man fühlte das medizinisch Wertvolle des symphonischen Jammerns, das in Summe auf einen berühmten Satz des Spötters Bloor Schleppey hinauslief: "Das Leben ist einfach ein verdammtes Ding nach dem andern.“ Die Reinheit des Pessismus faszinierte. Kein Wort über das herrliche Hochsommerwetter draußen, keines über den kühlen Schatten an der Theke oder über die angenehme Atmosphäre des unprätentiösen Vollholzlokals, von denen es erstaunlich viele in Wiens Innenstadt gibt, wie Botschaftsgebäude für Abgesandte aus Schärding am Inn.

Ich fühlte eine Regung aufsteigen, die ich fürchtete wie schlechte Witze und Vorarlberger Weißwein: eine Art Missionsgeist. Mit Entsetzen gewahrte ich, wie mich das so genannte "Helfersyndrom“ anfiel, für das ich viele Jahre lang berüchtigt war und das ich überwunden glaubte.

Ich habe damit schon viele halb Unglückliche ins ganze Elend gestoßen. Mit bitterem Selbstvorwurf erinnerte ich mich nun, da ich mit den Rentnern an der Theke stand, an viele greise Damen, die ich mit zärtlichem Druck über Zebrastreifen geleitet hatte, obwohl sie gar nicht über die Straße wollten, und die dann in fremden Bezirken herumirrten, ehe gute Geister sie wieder dorthin brachten, wo ich sie aufgegriffen hatte. Womöglich noch schlimmer: Ich habe Mitbürgern, die erzählten, was sie sich gerne leisten würden, wenn sie könnten, Geld aufgedrängt, das sie gar nicht wünschten - und das sie fortan mit dem unseligen Gefühl einer Dankes-Verbindlichkeit begleitete.

Ich war nie blöd genug, nicht zu begreifen, dass dies egoistische Taten eines Mannes waren, der sich vom privilegierten Gefühl befreien wollte, ein Sanguiniker zu sein, der noch dazu mehr Geld verdiente, als er verdiente. Man will als Helfersyndrom-Idiot immer auch den Neid der Götter besänftigen und einen demnächst als Ausgleich zu erwartenden galaktischen Schepperer verhindern, oder sich, sofern himmelsgläubig, für später ein warmes Plätzchen auf der Wolke sieben sichern.

All dies war mir gewärtig, als ich mit den älteren Gentlemen beisammenstand, die sich wie die Muppets-Logen-Pensionisten einen abgrantelten, und konnte dennoch nicht anders, als sie hilfreich in eine sonnige Stimmung zu führen. "Der Schankwein ist für einen Schankwein eigentlich toll“, sagte ich und strahlte sie an. Sie musterten mich wie ein außerplanetarisches Kerbtier. "Reine Jauche“, sagte einer, die anderen nickten. Ich gab nicht auf. Philosophie, die Liebe zur Weisheit, hilft immer. Tatsächlich sammelte ich Gutpunkte, als ich einen Schopenhauer-Satz vortrug: "Glück ist die vorübergehende Abwesenheit von Unglück.“ Das gefiel. Einer zahlte gar eine Jauche.

Es war ein Fehler, an Arthur Schopenhauer festzuhalten. Ich referierte, er sei der Erste gewesen, der Mitleid auch mit dem Tier einforderte. Reaktion: "Typisch, jeden Hund behandelt man besser als uns.“ Und: "Scheißen überall hin, die Viecher.“ Man kann nicht immer ins Schwarze treffen. Daher schnell ein Nachschlag: "Er, der Schopenhauer, hat auch gesagt, Kunst sei der einzige, große Trost für uns Menschen. Ich zeige euch, dass er Recht hatte.“

Ich lud sie auf eine Achterltour ins Wiener Museumsquartier. Sie gingen sogar mit. Im Nachhinein glaube ich, sie waren süchtig nach mir. Schon lang hatten sie keinen mehr getroffen, der sie so zuverlässig deprimierte.

Ich wies aufs Leopold Museum: "Dort hat mein Freund und Weltkünstler Robert Hammerstiel ausgestellt. Hat sich die dunklen Erinnerungen an die Kriegserlebnisse im Banat in dunklen Bildern weggemalt, fand schließlich sogar zur Farbe Pink.“ Kurze Stille, dann: "Wenn einer Hammerstiel heißt, hätt’ er eigentlich Bildhauer werden sollen.“ Kurzes, unfrohes Gelächter. Dann eine Stimme wie aus dem Off: "Pink kommt von Pinkeln.“

Ein guter Helfer gibt nicht auf: "Den alten Leopold habe ich nach der Ausstellung heimgeführt nach Grinzing, war irgendwie berührend.“ Einer der gut informierten Greise sagte: "Muss aber gleich drauf gestorben sein.“ Griechischer Chor: "Kein Wunder.“ Erstmals echter Frohsinn. Wiehernd gehen die Grauen ab. Na siehst du, sagte ich, Ziel erreicht. Die gute Tat des Tages war vollbracht. Ich stand hoch im Huf, der Tag war noch jung. Stand da drüben nicht einer am Stehtisch, der trüb in die Tasse blickte?

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