Geheimdienste: Jagd auf „Michael Cole“

Paul Lendvai wurde jahrzehntelang bespitzelt

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Der Papierstapel freut den 76-Jährigen wie einen Volksschüler: „Den habe ich vom Christkind bekommen.“

Um die Weihnachtsfeiertage behob Paul Lendvai, ORF-Osteuropa-Experte und Herausgeber der „Europäischen Rundschau“, ein 395-seitiges Aktenpaket aus den Beständen des „Historischen Archivs“ in Budapest, dessen Inhalt ihn mit Bestürzung und Wehmut erfüllen musste: Jahrzehntelang hatten aus Ungarn angereiste Kollegen und Bekannte den Emigranten bespitzelt, selbst lächerliche Nebensächlichkeiten an die Zentrale des ungarischen Geheimdienstes gemeldet und ihn durch ihre oft haarsträubenden Berichte angeschwärzt. Lendvai: „Es war alles schlimm. Aber am meisten hat mich erschüttert, dass sie den gesamten Briefverkehr mit meiner Mutter geöffnet haben.“

Das Archiv, eine Art ungarischer Gauck-Behörde, ist Interessenten erst seit relativ kurzer Zeit zugänglich. Ehemalige Geheimdienstler, die ihrem Job auch in der neuen Zeit nachgehen, hatten lange verhindert, dass die Namen und Aktionen der angeheuerten Informanten publik werden. Seit die Bestände zugänglich sind, läuft auch in Ungarn die schmerzhafte Debatte über die nicht immer ruhmvolle Vergangenheit der magyarischen Nation auf Hochtouren.

Die Lendvais, eine jüdische Anwaltsfamilie aus der Hauptstadt, hatten viel zu erleiden: Familienmitglieder und Freunde wurden Opfer der Mordbrigaden Adolf Eichmanns; der 16-jährige Paul Lendvai entging noch kurz vor Kriegsende nur knapp dem Tod, als er von Schergen der Nazis und der mit ihnen verbündeten ungarischen „Pfeilkreuzler“ verschleppt wurde.

Nach der Befreiung trat Lendvai der ungarischen SP bei, die 1948 mit der Kommunistischen Partei zwangsvereinigt wurde. Bald erreichte die nun anrollende Verhaftungswelle des Regimes auch den jungen Journalisten. Der Vorwurf: Er habe die Vereinigung von KP und SP sabotieren wollen. Außerdem sei er ein „Trotzkist“. „Damals hatte ich noch keine Zeile von Trotzki gelesen“, erzählt Lendvai. Die dem Tod Stalins im März 1953 folgende Amnestie brachte auch Lendvai die Freiheit. Dennoch wurde er für drei Jahre mit Berufsverbot belegt; erst 1956 wurde er rehabilitiert. Wenige Tage später brach der Aufstand los. Im Jänner 1957 setzte sich der nun 27-jährige Redakteur der Tageszeitung „Esti Hirlap“ über Warschau nach Wien ab.

Tarnungen. Aus Rücksicht auf seine in Budapest verbliebenen Eltern veröffentlichte Lendvai seine Artikel in der „Presse“, im SP-Theorieorgan „Die Zukunft“ und in mehreren britischen Zeitungen unter Pseudonym. Wie löchrig diese Tarnung war, erfuhr er erst aus den Geheimdienstberichten.

Denn schon im April 1958 hatte sich Lendvai ein Agent mit dem Decknamen „Galambos“ genähert. Galambos meldete nach Budapest, Lendvai treffe sich mit seinem Freund Stefan Vajda – später ein profil-Mitarbeiter – und anderen Emigranten regelmäßig im „Ilona-Stüberl“, einem ungarischen Lokal nahe des Grabens in Wiens Innenstadt. Die Informationen, die der Agent nach Ungarn schickte, waren meist höchst fragwürdig. Die „Presse“ bezeichnete er etwa als „offizielles Regierungsorgan“; der Umstand, dass Vajdas Frau Kellnerin im Espresso des Hotels Europa auf der Kärntner Straße war, erschien ihm höchst verdächtig. Atemlos meldete er, Lendvai interessiere sich sehr für die inneren Vorgänge in Ungarn.

Hinter dem Decknamen „Galambos“ verbarg sich einer der prominentesten Journalisten Ungarns, der Sportreporter György Szepesi, ein wegen seiner Auftritte im österreichischen Fernsehen auch hierzulande höchst populärer Mann. Als der Österreichische Fußballbund im Herbst 2004 den 100. Geburtstag feierte, lud er dazu neben den Kickermythen Franz Beckenbauer und Michel Platini auch „die ungarische Reporterlegende György Szepesi“ ein, wie die „Presse“ ehrfurchtsvoll vermerkte. Im Vorjahr wurde der heute 83-Jährige zum Ehrenbürger von Budapest ernannt. Über seine Spitzeltätigkeit, die er 1950 begonnen hatte, will Szepesi nicht mehr sprechen.

Neben Szepesi war Laszlo Lorant, Wiener Korrespondent der ungarischen Nachrichtenagentur MTI, auf Lendvai angesetzt. Genauer: auf „Michael Cole“ – diesen klangvollen Aktennamen hatte die ungarische Geheimdienstbürokratie Lendvai inzwischen verpasst. Lorant liebte offenbar das vergleichsweise luxuriöse Leben in Wien. Wie Paul Lendvai bei der Akteneinsicht herausfand, hatte der Nebenerwerbsagent gemeinsame Abendessen mit dem Ehepaar Lendvai abgerechnet, die nie stattgefunden hatten. Eines dieser Diners schlug sich laut penibel aufbewahrter Rechnung mit 450 Schilling zu Buche – im Jahr 1963 ein horrender Betrag. Der Zentrale lieferte Lorant meist Nonsens. So behauptete er in seinen Berichten, Lendvai habe Zugang zum innersten Kreis der ÖVP und diesbezüglich beste Informationen. Tatsächlich war der Sozialdemokrat Lendvai alles andere als ein ÖVP-Insider. Lorant hatte alles, was er nach Budapest berichtete, aus Zeitungen abgeschrieben. Später setzte er sich selbst nach Australien ab.

Nachfolger des pflichtvergessenen Lorant als MTI-Korrespondent und Lendvai-Beschatter wurde der Journalist Andras Heltai, Deckname „Herzceg“ (Herzog). Er erkannte rasch, dass Lendvai – inzwischen österreichischer Staatsbürger – keine Neigung hatte, sich als Informant zur Verfügung zu stellen. Im Oktober 1965 berichtete er verärgert: „Bis zuletzt zeigen seine Artikel eine feindliche Einstellung gegenüber Ungarn und den anderen sozialistischen Ländern.“ Heltais Empfehlung, wie Lendvai zu „ernüchtern“ sei: koordinierte Visasperre im gesamten Ostblock. Bis auf Rumänien hielten sich alle Staaten an die in der Folge ausgegebene Direktive. Erst als der neue Kanzler Bruno Kreisky Lendvai 1972 demonstrativ auf Ostreisen mitnahm, zerbröselte der Boykott gegen den inzwischen als Osteuropakenner geschätzten Journalisten.

Nach der Wende von 1989 wurde Lendvai-Beschatter Heltai Vize-Chefredakteur der deutschsprachigen Wochenzeitung „Pester Lloyd“. Nachdem seine Rolle als Spitzel in Wien bekannt geworden war, veröffentlichte er vergangene Woche in seinem Blatt einen etwas wehleidigen Kommentar: Er habe als einziger Lendvai um Nachsicht gebeten. Es sei schließlich „die Pflicht eines jeden, der im Ausland arbeitete“, gewesen, über Gespräche mit Bürgern im Westen schriftlich zu berichten. Heltai: „Als ,Agent‘ lasse ich mich nicht abstempeln.“ Führungsoffiziere, die damals diese Berichte erhalten hätten, seien heute als Politiker in allen Parteien Ungarns zu finden.

Lendvais Sperrigkeit im Umgang mit „neugierigen“ Besuchern aus Ungarn, musste vor allem seine betagte Mutter ausbaden: Jahrelang hatten ihr die Behörden untersagt, den Sohn in Wien zu besuchen. Die Ausreisegenehmigung erhielt sie erst, als Lendvai einem in Wien weilenden hohen Regimefunktionär ein Herzensanliegen erfüllte: Der Mann aus dem Apparat hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal eine Striptease-Show zu besuchen.

Die Budapester Archive scheinen jedenfalls noch viele Geheimnisse zu bergen. „Die ungarische Gesellschaft sitzt auf Zeitbomben“, schreibt der Historiker Krisztian Ungvari. Eine davon dürfte demnächst detonieren: Vergangenen Donnerstag meldete das Internet-Portal „Hirszerzö“, Starregisseur Istvan Szabo („Mephisto“) habe Ende der fünfziger Jahre an der Universität Kommilitonen und Professoren bespitzelt.

Von Herbert Lackner