Sticheleien

Gelsen: Können Stechmücken Hirnentzündung auslösen?

Gelsen. Forscherstreit um die Frage, ob Stechmücken Hirnentzündung auslösen können

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Friedrich P., Gartenbesitzer in Wien-Donaustadt, fühlt sich seit zwei Tagen matt und abgeschlagen, jetzt hat er 38,2 Grad Fieber. Wahrscheinlich irgendein Infekt oder eine leichte Sommergrippe, der man keine besondere Aufmerksamkeit schenken müsse, meint der 62-jährige Pensionist. Oder doch? Norbert Nowotny, Virologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, hält es für möglich, dass derartige grippeähnliche Infekte durch Gelsenstiche ausgelöst werden.

Gelsen sind laut Nowotny nicht nur in Ungarn, sondern auch in Ostösterreich nachgewiesenermaßen Träger des West-Nil-Virus, das durch Stechmücken auf den Menschen übertragen werden kann. Da aber Betroffene mit einschlägigen Symptomen selten zum Arzt gehen und selbst ein zu Rate gezogener Mediziner die genaue Krankheitsursache für gewöhnlich nicht weiter abklären lässt, bleiben die Hintergründe im Dunkeln. Umso mehr, als die Symptome im Regelfall rasch wieder verschwinden.

Als Nowotny seine These am Montag der Vorwoche in der TV-Sendung „Thema“ präsentierte und hinzufügte, in seltenen Einzelfällen könnten Stiche durch virusinfizierte Gelsen zu Hirn- oder Hirnhautentzündung führen, erntete er Kritik seines Forscherkollegen Hannes Paulus, Vorstand des Departments für Evolutionsbiologie an der Universität Wien. „Leute, die so etwas behaupten, haben keine Ahnung“, polterte Paulus in „Thema“. Nowotny kontert erbost: „Paulus sollte sich, bevor er solche unrichtigen Aussagen macht, in den einschlägigen human- beziehungsweise veterinär­virologischen Instituten über den aktuellen Stand erkundigen.“

Eine kurze Internetrecherche zeigt, dass Nowotnys These durchaus einen realen Hintergrund hat. Laut Wikipedia kommt das West-Nil-Virus, ein einsträngiges, umhülltes RNA-Virus aus der Familie der Flaviviridae, sowohl in tropischen als auch in gemäßigten Zonen vor. „Das Virus infiziert hauptsächlich Vögel, kann aber auch auf Menschen, Pferde und andere Säugetiere übergreifen“, heißt es in Wikipedia. Und: „Das Virus wird durch Stechmücken von einem Wirt zum nächsten übertragen.“ Die Mücken stechen infizierte Vögel, werden dadurch zu Virenträgern und können durch ihre Stiche auch Menschen infizieren.

Dazu Paulus:
„In Ungarn ja, aber nicht in Österreich.“ Tatsächlich wurden bisher durch das West-Nil-Virus hervorgerufene Erkrankungsfälle beim Menschen bisher nur in Ungarn registriert, nicht aber in Österreich. Bei den in den Jahren 2008 und 2009 in unserem östlichen Nachbarland registrierten 28 Fällen handelte es sich durchwegs um eher leichtere Verlaufsformen einer Hirnhautentzündung. Nowotny erwartet ähnliche Fälle in diesem Sommer oder in den folgenden Jahren auch in Österreich.

West-Nil-Fieber.
In 75 bis 80 Prozent der Fälle verläuft die Infektion völlig ohne Symptome, beim Rest zeigen sich grippeähnliche Erscheinungen, die als West-Nil-Fieber bezeichnet werden. In 0,7 Prozent der Fälle ist die Erkrankung schwerwiegend und kann unter Umständen tödlich enden. Das Virus ist nämlich in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überspringen und entweder eine Entzündung des Gehirns (Enzephalitis) oder der Hirnhaut (Meningitis) auszulösen. Das zeigen die bisherigen Erfahrungen mit dem Pathogen, das nicht nur in ­Afrika, sondern vorübergehend auch in ­Israel, in den USA und in einigen europäischen Ländern aufgetreten ist.

Das Virus wurde erstmals 1937 bei einer erkrankten älteren Frau im West-Nil-Dis­trikt in Uganda festgestellt – daher die Bezeichnung West-Nil-Virus. 1957 trat es in Israel auf, 1960 in Frankreich, 1996/97 in Rumänien und der Tschechischen Republik, 1999 in Russland und Nordamerika, 2000 wieder in Israel. Mediale Aufmerksamkeit erlangte der Erreger aber erst mit seinem Auftreten in Nordamerika 1999.

Der Ausbruch in den USA begann im Raum von New York City.
Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass das Virus durch eine infizierte Mücke eingeschleppt wurde, die in einem Passagierflugzeug von Tel Aviv nach New York mitgereist war. Zuerst verendeten Vögel im Central Park, dann erkrankten ältere Menschen der Umgebung. Eine lokale Ärztin mit Tropenerfahrung tippte auf das West-Nil-Virus und alarmierte Militärmediziner, die den Verdacht bestätigen konnten.

Von New York aus breitete sich das Virus über den gesamten nordamerikanischen Kontinent aus. Im Durchschnitt kam auf 140 Infektionen ein schwerer Krankheitsverlauf. Mehr als eintausend, vor allem ältere Menschen starben an der Infektion. In vielen Regionen wurde versucht, des Problems durch groß angelegte Giftsprühaktionen über bekannten Gelsenbrutstätten Herr zu werden. „Sie können aber gegen die Gelsen nicht sehr viel tun“, sagt der Tropenmediziner Herwig Kollaritsch von der Wiener Medizinuniversität. „Die Dynamik der Ausbreitung des West-Nil-Virus ist noch nicht restlos geklärt. Da gibt es noch Dinge, die wir nicht kennen.“

Vermutete Genmutation.
Geklärt ist auch noch nicht, warum dieser Krankheitserreger beim überwiegenden Teil der infizierten Personen keinerlei Symptome auslöst, bei anderen aber sehr wohl, und warum er in seltenen Einzelfällen zu schweren Verläufen bis hin zum möglichen Tod führt. In einer im Jänner 2006 im „Journal of Experimental Medicine“ veröffentlichten Studie wird die Vermutung geäußert, die Anfälligkeit
für das West-Nil-Virus werde durch eine Mutation des Gens mit der Bezeichnung CCR5-Delta32 begünstigt.

Im Jahr 2004 tauchte ein neuer Virusstamm – vermutlich eingeschleppt durch Zugvögel aus Afrika – erstmals in Ungarn auf. „Dann dauerte es einige Jahre, bis sich dieser Virusstamm so richtig etabliert hatte“, erläutert Virologe Nowotny. „Im Jahr 2008 waren für diesen West-Nil-Virusstamm offensichtlich perfekte Umweltbedingungen vorhanden, sodass es in diesem Jahr zu einem weitflächigen Ausbruch im gesamten Staatsgebiet von Ungarn und auch im Osten Österreichs, speziell in Wien und dem Umland, gekommen ist. Es gab Krankheitsfälle bei verschiedenen Tierarten, in Ungarn auch beim Menschen.“

Die Mikrobe ist primär ein Vogelvirus, an dem Vögel erkranken und zugrunde ­gehen können. „Der ‚Indikatorvogel‘, der für diesen in Österreich vorkommenden ­Virusstamm besonders empfänglich ist und zu einem hohen Prozentsatz stirbt, ist der Habicht. Daneben sind auch andere Vogelarten sowie Pferde betroffen und unter Umständen auch der Mensch“, erklärt Nowotny. Für den Fall, dass in diesem Sommer und Frühherbst in einem Gebiet tote Habichte ge­funden werden, rät der Forscher, die Kadaver unbedingt untersuchen zu lassen, weil sie einen ­Hinweis auf die Ausbreitung des West-Nil-Virus in Österreich geben ­können.

Der Krankheitserreger zeigt einen gewissen Infektionszyklus zwischen der Gelse und bestimmten Vogelarten. Es gibt Vogelarten, die nach Infektion erkranken und sterben, und es gibt andere Vogelarten, die nicht daran erkranken, aber das Virus vermehren. Nowotny: „Wir wissen, dass Sperlingsvögel gewisse Stämme des West-Nil-Virus zwar vermehren, aber nicht daran erkranken und sterben.“ Und nicht jede Gelsenart ist am Infektionszyklus beteiligt. So spielt etwa die Überschwemmungsgelse dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Stechmücke, die das Virus vermehrt, ist die in Mitteleuropa meistverbreitete, ganz normale Culex-Gelse, die uns derzeit das Leben vor allem im Freien schwer macht.

Etwa ein Prozent dieser Gelsen kann überwintern.
Um das zu schaffen, ziehen sich die Mücken in Keller, in die Kanalisation oder in sonstige, vom Frost nicht erfasste Bereiche zurück. So kann auch das Virus in manchen Gelsen und sogar in deren abgelegten Eiern überleben. Wenn diese Stechmücken im Frühjahr ihre Verstecke verlassen und sich zu vermehren beginnen, vermehrt sich mit ihnen auch das Virus. Wenn dann eine infizierte Gelse einen Vogel sticht, vermehrt sich die Mikrobe auch im Vogel. Die nächste Gelse, die diesen Vogel sticht, infiziert sich mit dem Erreger. „So schaukeln sich Menge und Verbreitung des Virus nach und nach auf. Etwa ab Ende Juli ist dann die Virenpopulation groß genug, dass Erkrankungsfälle bei Tieren und unter Umständen auch beim Menschen auftreten können. Erkrankungsfälle können bis in die erste Oktoberwoche beobachtet werden“, meint Nowotny.

Im Gegensatz zu Vögeln sind Pferde und Menschen so genannte „dead end hosts“, das heißt, sie können an dem Erreger erkranken, ihn aber nicht mehr weiterverbreiten. Bis vor zwei Jahren konnten die meisten Labors in Österreich das exotische Virus nicht einmal nachweisen. Doch mittlerweile sind sämtliche Labors an den Universitätskliniken dazu in der Lage. Neben dem West-Nil-Virus wurden in den vergangenen Jahren noch andere, aus Afrika stammende und durch Gelsen übertragene Viren in Österreich registriert, wie etwa das Usutu-Virus, das in den Jahren 2001 bis 2004 zu einem Amselsterben geführt hat, für den Menschen aber nicht von Bedeutung war. Anders ist das beim ebenfalls durch Gelsen übertragenen, schon lange in Mitteleuropa verbreiteten Tahyna-Virus, das beim Menschen zu fieberhaften Erkrankungen führen kann.

Am ehesten könnte aber in den kommenden Monaten und Jahren das West-Nil-­Virus zu Krankheitsfällen beim Menschen führen. „Wir haben in den Jahren 2008 und 2009 auch Gelsen untersucht und dabei das Virus zu einem Prozentsatz gefunden, bei dem man davon ausgehen kann, dass uns diese Virusinfektionen auch in Zukunft erhalten bleiben werden“, berichtet Nowotny. Der derzeit in Ungarn und in Ostösterreich vorkommende Virusstamm breitet sich zwar rasch aus, er weist aber – im Vergleich zu anderen West-Nil-Virusstämmen – eine eher geringere Pathogenität auf. „Was man aber weiterverfolgen muss: Eine gering­fügige Änderung im Genom kann daraus ein gefährliches Virus machen, wie es in Südafrika bereits geschehen ist“, sagt der ­Virologe.