Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Am Krankenbett des Kapitalismus

Am Krankenbett des Kapitalismus

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Wir leben in revolutionären Zeiten. Fürwahr. Zumindest kann man zu diesem Schluss kommen, wenn man den beginnenden Europa-Wahlkampf der österreichischen Sozialdemokraten verfolgt. „Der Kommunismus ist gescheitert, der Faschismus ist gescheitert, der Kapitalismus ist gescheitert, es bleibt nur die Sozialdemokratie“: Starke Worte des Spitzenkandidaten der SPÖ, Hannes Swoboda, bei einer Diskussion zum Thema „Europa gewinnen“.

Wer aber glaubt, dieser Abgesang auf den Kapitalismus sei bloß ein radikaler Ausrutscher Swobodas gewesen, der täuscht sich. Bei der gleichen Veranstaltung stieß der Wiener Bürgermeister Michael Häupl nach und bekannte: „Die Sozialdemokratie darf nicht Arzt am Krankenbett des Kapitalismus spielen.“ Hatte man seit dem berühmten Faymann-Leserbrief in der „Kronen Zeitung“ den Eindruck, die sozialdemokratische Europapolitik werde im Geiste von Hans Dichand betrieben, so muss man jetzt erkennen: Da hat sich auch ein Stückchen Lenin’scher Bolschewismus eingeschlichen.

Natürlich ist das alles bloße Rhetorik, die mit konkreter Politik nichts zu tun hat. Dennoch sei hier auf diese Aussagen eingegangen. Immerhin stammen sie von Spitzenpolitikern der führenden Regierungspartei. Und sie dürften eine Grundstimmung in breiten Teilen der Bevölkerung – und nicht nur in Österreich – widerspiegeln. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich aber diese Auslassungen, um es einmal vorwegzunehmen, als blühender Unsinn.

Dem alten kommunistischen und linkssozialistischen Vorwurf, die deutsche Sozialdemokratie spiele „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, anstatt ihm ein revolutionäres Ende zu bereiten, entgegnete der Gewerkschafter und SPD-Abgeordnete Fritz Tarnow 1931 mit einem legendären trotzigen Ja: „Wenn der Patient röchelt, hungern die Massen draußen. Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, dann geben wir ihm die Medizin.“ Und dieses Tarnow-Wort ist seither geradezu zur Selbstdefinition der internationalen Sozialdemokratie geworden. Der Keynesianismus ist die von ihr favorisierte Behandlungsmethode, wenn der Kapitalismus röchelt: Man verabreiche der Wirtschaft kräftige staatliche Injektionen, auf dass sie nicht vollends zusammenbreche und sich wieder erhole. Das passiert gerade. Und es wäre kein Sozialdemokrat, der solche Staatsintervention in Krisenzeiten ablehnte.

Was, wenn aber Swoboda Recht hätte und der Kapitalismus so gescheitert wäre wie der Faschismus und der Kommunismus? Dass wir gerade in einer tiefen Weltwirtschaftskrise stecken mit all ihren fatalen Folgeerscheinungen für Millionen und Milliarden von Menschen, ist unbestritten. Aber ist der Kapitalismus deswegen am Ende? Ist er denn nicht seit seiner Entstehung durch unzählige Krisen durchgegangen? Darauf weist der deutsche Essayist Hans Magnus Enzensberger hin: „Diese Dynamik gehört zum Betriebssystem des Kapitalismus: Zyklen von Boom und Crash, von Größenwahn und Panik“ haben sich bisher immer wieder abgewechselt.

Wir blicken gerade mit panischer Angst auf einen – zugegeben gewaltigen – globalen Crash. Aber deshalb zu glauben, der Kapitalismus hätte sich historisch erledigt, ist doch mehr als kurzsichtig. Allein schon die Tatsache, dass in China, seitdem die Pekinger Kommunisten vor 30 Jahren die Marktwirtschaft eingeführt haben, etwa eine halbe Milliarde Menschen aus Armut herausgeholt wurden, zeigt doch, wie vital der Kapitalismus trotz aller Verwerfungen ist. Und hat er nicht, wenigstens in unserem Teil der Welt, einen in der ganzen Menschheitsgeschichte nie da gewesenen Wohlstand gebracht? Zu Grabe getragen wird nun nicht er, sondern jene Ideologie und wirtschaftspolitische Praxis, die allgemein als Neoliberalismus bezeichnet wird, ein Radikalismus, der den Markt vergöttert und den Staat verteufelt hat. Dieser Laisser-faire-Kapitalismus der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte ist tatsächlich grandios gescheitert.

Der ist aber nur eine Variante unter vielen. Der Kapitalismus zeigt sich, so lehrt die Geschichte, überaus anpassungsfähig und robust. Er kann mit allen: mit neoliberalen Eiferern und Keynesianern, mit Demokratie und Diktatur, mit Faschismus und mit kommunistischen Politbüros, wie sich am chinesischen Beispiel zeigt.

Nun soll da keineswegs ein Hohelied auf den Kapitalismus gesungen werden. Aber dass sich derzeit und in ­absehbarer Zukunft keine gangbare Alternative zu ihm abzeichnet, darüber sollte doch trotz Krise Einigkeit bestehen. Das heißt nicht, dass es da nichts zu verändern gäbe. Ganz im Gegenteil. Die einzige bisher realisierte Utopie, die nicht ins Unglück führte, ist der ab 1945 entstandene Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung – der sozialstaatlich gezähmte Kapitalismus. Den Sozialstaat massiv abzubauen war aber das deklarierte Projekt der neoliberalen Ära. Ihn wieder in sein Recht zu setzen, auszubauen und darauf zu drängen, dass er zunehmend europäisch organisiert, also „vergemeinschaftet“ wird und nicht bloß Sache der Nationalstaaten bleibt – das wäre eine adäquate sozialdemokratische EU-Programmatik in dieser Krisenzeit.

Stattdessen aber üben sich die braven Austrosozis in antikapitalistischem Verbalradikalismus. Der soll offenbar der aufkeimenden Wut der Menschen auf die Ungerechtigkeit des Systems eine Stimme geben, gleichzeitig aber den rechtspopulistischen Anti-Brüssel-Schwenk der SP verschleiern.
PS: Es ist nicht auszuschließen, dass dieses unappetitliche ideologische Manöver letztlich Gutes bewirkt und so den Straches und ähnlichen Rattenfängern das Wasser abgegraben wird. Unsinn bleiben die Aussagen über den gescheiterten Kapitalismus und sein Krankenbett dennoch.

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