Gepäckaufbahrung

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Man muss sich Günther Nenning als einen glücklichen Menschen vorstellen. Was immer er anpackt, sorgt zuverlässig für Erregung, und das seit Jahrzehnten. Attackiert zu werden ist für den mittlerweile doch leidlich in die Jahre gekommenen Berufsprovokateur ein unerschöpfliches Lebenselixier. Erst angesichts massivster Anfeindungen läuft er zur Hochform auf: entblößt die Zähne zum jovialen Grinsen, fährt die Arme zu einer warmseligen Umarmung aus, die dem Gegenüber keine andere Wahl lässt, als umstandslos zu ersticken. Nenning ist das Inbild altösterreichischen Charmes im Geiste Horváths: Meiner Liebe entgehst du nicht!

Trotzdem muss selbst er, der notorische Frohköstler, wie vom Donner gerührt gewesen sein, als er sich in den vergangenen Wochen mit einer geschlossenen Front von Widerstand und Ablehnung konfrontiert sah. Fast unisono erklärten die Größen (und auch ein paar weniger Große) der österreichischen Gegenwartsliteratur, sich von Nenning keinesfalls in einen „Austrokoffer“ packen lassen zu wollen. Dabei hatte er es doch nur gut gemeint: Zum großen österreichischen Jubiläumsjahr 2005 – 60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, zehn Jahre EU-Beitritt – wollte er in 18 Bänden, auf rund 5000 Seiten, die großen Momente der österreichischen Nachkriegsliteratur kompilieren. „Bissel mehr als fünf Kilo“ schwer sollte der „Austrokoffer“ sein – die Assoziation zu Hilde Hawliceks legendärem „Sexkoffer“ für den täglichen Volksschulbedarf war durchaus beabsichtigt: Aufklärung für Alphabeten sozusagen.

Leider war das Projekt von Anfang an mit gewissen Schönheitsfehlern imprägniert: Als „treibender Motor“ wurde auf der Homepage kein Geringerer als Bundeskanzler Wolfgang Schüssel gepriesen. Das roch nach amtlich verordnetem Kulturpatriotismus – ein Verdacht, der durch einen vom Bund zugesicherten „Druckkostenzuschuss“ von 265.000 Euro untermauert wurde. Außerdem hatte Herausgeber Nenning, Hausautor der in patriotischen Belangen bekanntermaßen besonders unerbittlichen „Kronen Zeitung“, sein Leibblatt gleich mit ins Boot geholt, als exklusive Werbeträgerin (deren Logo folgerichtig auch den „Austrokoffer“ zieren sollte).

Im August sickerten diese und eine Reihe weiterer substanzieller Details nach und nach an die Öffentlichkeit – unter anderem die Liste der für den „Austrokoffer“ vorgesehenen Autoren. Pikant daran war vor allem, dass diese von ihrer geschätzten Mitwirkung bislang noch gar nicht benachrichtigt worden waren. Der sonst so leutselige Nenning nahm erst, nachdem die Ersten, etwa Marlene Streeruwitz, sich jede „Vereinnahmung“ verbeten hatten, Kontakt mit den Betroffenen auf.

Dann brachen alle Dämme; im „Standard“ wurden praktisch im Tagestakt neue Absagen angeschwemmt. Die Öffentlichkeit verfolgte mit wachsendem Erstaunen, wie ein Projekt, von dem eigentlich noch niemand etwas wusste (einige der Beteiligten offenbar eingeschlossen), so spektakulär Schiffbruch erleiden konnte; sie staunte sicher auch darüber, wie viele zeitgenössische österreichische Auto-
rInnen es allem Anschein nach gibt – darunter wohl auch welche, die vielleicht nicht einmal in Nennings krausen Träumen den „Austrokoffer“ bereichert hätten, aber unerschrocken die Gelegenheit nutzten, sich beim Publikum mit ein paar zornigen Zeilen in Erinnerung zu rufen.

Eine seltsame, für österreichische Sozial- und Kulturprozesse nicht untypische Eigendynamik hatte eingesetzt: in deren Zentrum Günther Nenning, der, tapfer grinsend, mit weit ausgebreiteten Armen, gegen einen Strom strudelte, der neben ehrlicher Empörung zusehends auch von landläufigem Opportunismus gespeist zu sein schien. Der Koffer, der noch gar nicht gepackt war, leerte sich unaufhaltsam, und am Ende drohte von dem so stolzen Projekt nicht viel mehr übrig zu bleiben als zwei, drei Kilo Sondermüll.

Was ist schief gelaufen? In Wahrheit von Anfang an so ziemlich alles. Mit der ihm eigenen Dreifaltigkeit aus Jovialität, Chuzpe und fröhlichem Dilettantismus hat Nenning den Blick auf eine zentrale Frage verstellt: jene nach der prinzipiellen Sinnhaftigkeit einer halbwegs repräsentativen Literatur-Anthologie zum Volkspreis. Dahinter steht allerdings eine noch viel prinzipiellere Frage: Wem gehört eigentlich die österreichische Kultur? Denen, die sie produzieren? Denen, die sie rezipieren? Oder denen, die sie für Repräsentationszwecke instrumentalisieren?

Dass diese Fragen angesichts des „Austrokoffer“-Debakels gestellt werden, ist gut und richtig. Wie immer die Antworten ausfallen – der „Austrokoffer“ wird sie jedenfalls nicht überleben, auch wenn er jetzt, reichlich verblasen, „Landvermessung“ heißt und Nenning inzwischen vier weniger dubiose Koherausgeber um sich geschart hat. An den Rahmenbedingungen des Kofferprojekts hat sich sonst nämlich nichts geändert. Die abtrünnigen Literaturschaffenden müssten sich sehr schlagende Argumente einfallen lassen, um zu begründen, warum dieser „patriotischen Parallelaktion“ (Nenning) unter Umständen möglicherweise vielleicht doch auch positive Aspekte abzugewinnen wären.