„Gescheitert am moralischen Wiederaufbau“

Zeitgeschichte. Christian Rainers Gedenkrede im KZ Ebensee

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Hochverehrte Überlebende des Konzentrationslagers Ebensee, hochverehrte Angehörige und Freunde von Opfern und Überlebenden, sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bin Ebenseer. Ich habe zwischen meiner Geburt und meinem 18. Lebensjahr in diesem Ort gelebt. Ich wurde durch einen Zufall der Geschichte Journalist: Als Kurt Waldheim, ehemaliger UNO-Generalsekretär und ehemaliges SA-Mitglied, für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, ­erfasste mich ob seiner Lügen und ob seines Bildes von der österreichischen Geschichte eine unsägliche Wut.

Ich habe achtjährige Zwillingstöchter. Lola und Noomi sind die Töchter einer Wiener Jüdin und die Enkelinnen einer Jüdin aus Budapest und eines Juden aus Czernowitz. Diese Großeltern meiner Kinder hatten den Holocaust mit letzter Not überlebt, bevor es sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Wien verschlug.

Ich selbst bin der Sohn eines Leutnants der deutschen Wehrmacht, der zwischen 1941 und 1945 in Russland gegen Russen kämpfte und in Italien gegen Partisanen. So jedenfalls wurde mir das als Kind erzählt. Und so wurde es auch vor wenigen Wochen wiederholt, als man – mit einigem Stolz – erfahren hatte, dass ich am heutigen Tag diese Rede halten würde: Man war im Krieg gewesen und hatte die Jugendjahre verloren – verloren für die anonyme deutsche Wehrmacht, nicht aber für die Nationalsozialisten und für Adolf Hitler, wie ich meinen Vater bei diesem Gespräch vergeblich zu korrigieren suchte.

Ebensee. Kinder. Eltern. Sehr geehrte Damen und Herren: Sie werden verstehen, dass der heutige Tag und diese Ansprache für mich noch etwas persönlicher sind, als sie für manche der Gedenkredner in den vergangenen Jahren gewesen sein konnten. Ich danke Ihnen zutiefst, dass Sie mich eingeladen haben, zu Ihnen zu sprechen.

„Niemals vergessen.“ Niemals vergessen, das ist der Grund, warum wir an diesem Ort zusammengefunden haben, der Grund, warum die Gedenkstätte für das Konzentrationslager Ebensee existiert. Niemals vergessen, das sind große Worte. Sie tragen alles in sich, was das Menschsein ausmacht: die Fähigkeit, sich zu erinnern und diese Erinnerungen über viele Generationen und damit über Jahrhunderte weiterzugeben. Zugleich verzichtet das „Niemals vergessen“ auf jeden Gedanken an Rache für erlittenes Unrecht und auf jede explizite Forderung nach einer bestimmten Handlung, die aus dem Erinnern folgen solle.

„Niemals vergessen“, das ist der stille Appell an das im Menschen vermutete Gute. Es ist die Hoffnung, die Erinnerung an Geschehenes möge ausreichen, um die Wiederholung der Geschichte zu verhindern: zum Beispiel die Wiederholung der bestialischen Ermordung von über 8000 Häftlingen hier in Ebensee, von Millionen Menschen mehr in der Todesmaschinerie der Nationalsozialisten, in der Todesmaschinerie unserer Nationalsozialisten.

Reicht dieses „Niemals vergessen“ aus? Wir wissen es nicht. Aber es gibt gewichtige Gründe, daran zu zweifeln – heute mehr als je zuvor. Warum sage ich das? Zum einen steht eine Art Handlungsanordnung der österreichischen Politik dagegen: Die Politik hat nicht weniger getan, als das Vergessen zu verordnen, und diese Verordnung ist im Begriff, gedankliches Gemeingut dieses Landes zu werden. Zum anderen aber müssen wir uns der Frage stellen, ob abseits dieser und vieler weiterer Gedenkstätten, abseits eines kleinen Kerns von nachdenklichen Menschen überhaupt jemals etwas erinnert wurde, etwas, das nun vom Vergessen bedroht sein könnte.

Das verordnete Vergessen. Als Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 um des bloßen Machtanspruchs willen eine Regierung mit der Freiheitlichen Partei bildete, geschahen Dinge, die weit über den Anlass hinausragen. Schüssel verordnete damals nämlich, dass die Geschichte Österreichs zwischen den Jahren 1938 und 1945 aus den Büchern zu streichen sei. Man nannte das – unter fadenscheinigen Vorwänden – ein Ende der Ausgrenzung.

In Wahrheit war es ein heimliches Ende der Verurteilung des Holocaust, es war das Verbot, den Völkermord beim Namen zu nennen, ein Erinnerungsverbot. Das Feigenblatt der Restitutionsverhandlungen soll uns darüber nicht hinwegtäuschen.

Schüssel und mit ihm die Volkspartei und mit ihnen die Eliten des Landes pardonierten Politiker und deren Gefolgschaft, indem sie diese zu gleichberechtigten Regierenden machten. Damit entschuldigte und verzieh man nicht etwa Vergangenes, nicht Jugendsünden oder ein längst verräumtes Bekenntnis zu Adolf Hitler. Die nun mit politischer Macht Geadelten waren nämlich keine Jugendsünder. Sie waren und sie sind aktive Ewiggestrige, Leugner, Verharmloser, Antisemiten, Rassisten. Und ihr Weltbild wurde so zu einer gleichberechtigten Möglichkeit im Meinungsspektrum erhoben.

Das Eingrenzen an der Stelle des Ausgrenzens verlangte also nach einem aktiven Vergessen der Gräuel des Nationalsozialismus, die das Ergebnis des Weltbilds dieser – nun für die Regierung aktiven – Menschen gewesen waren.

Meine Damen und Herren: Im Jahr 2000 wurde also indirekt verordnet, dass die Erinnerung an das KZ Ebensee zu unterbleiben habe, weil sich ein Teil der neuen innenpolitischen Akteure mit der Verurteilung des damals Geschehenen nicht abfinden wollte. Verordnetes Vergessen statt niemals vergessen.

Das Jahr 2000 hatte verheerende Folgen: Der so genannte Tabubruch führte im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zu einer Gleichgültigkeit gegenüber der Einzigartigkeit des Holocaust. Neonazi-Homepages sind nun chroni­kale Fakten. Ein Deutschnationaler mit rechtsradikalen Ansichten als Parlamentspräsident in Wien rührt niemanden mehr. Der neue FPÖ-Chef, eben noch inmitten eines rechtsradikalen Nazi-Umfelds verortet, schickt sich an, Platz eins bei den österreichischen Wählern zu erobern. Das Ewiggestrige ist nun auch offiziell salonfähig geworden.

Bis dahin als Mahnung Erinnertes wurde von Amts wegen vergessen. Ich habe vor zwei Jahren in meiner Zeitschrift geschrieben, dass die Angriffe von fünf Ebenseer Jugendlichen bei der Gedenkfeier im Lagerstollen ein „Lausbubenstreich“ waren. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Diese Angriffe auf Überlebende des KZ waren ungeheuerlich, sie waren unentschuldbar. Aber: Wie sollen Kinder zwischen 14 und 17 Jahren denn das Ausmaß ihrer Taten erkennen, wie sollen sie vor allem die ideologische Ungeheuerlichkeit verstehen, wo doch Lausbuben mit einer zumindest verwandten Ideologie in diesem Land höchste Ämter in Parteien, Parlament und Regierung bekleiden dürfen?

Vor einigen Jahren meinte ein prominenter Politiker als Redner an diesem Ort beschwichtigend – ich zitiere: „Man darf feststellen, dass es in Österreich einen breiten, parteienübergreifenden Konsens dahingehend gibt, die Verbrechen des Nationalsozialismus bedingungslos zu verurteilen und auch danach zu forschen.“

Diesen behaupteten Konsens kann ich heute weniger als je zuvor erkennen. Wir müssen uns freilich auch der Frage stellen, wie es überhaupt möglich ist, das Undenkbare nicht mehr zu denken. Wie kann ein Land den von ihm mitverursachten Holocaust und die Teilnahme am militärischen Morden des Zweiten Weltkriegs vergessen? Warum reicht es, dass ein ­geschickter Politiker eingrenzt, statt auszugrenzen, und das Land in der Folge vergisst, statt sich zu erinnern?

Liegt es vielleicht daran, dass in diesem Land niemals erinnert wurde und daher nicht vergessen werden muss? Was bedeutet „niemals vergessen“, wenn nichts zu erinnern ist?

Sehr geehrte Damen und Herren: Ich erzähle Ihnen jetzt aus meinem Leben. Ich war als Kind mit neun oder zehn Jahren, also vor fast vierzig Jahren, in den Stollenanlagen des Konzentrationslagers Ebensee. Diese Stollen waren damals kaum gesichert und somit eine Art Abenteuerspielplatz für mich und für meine Freunde. Wir krochen mit schlechten Taschenlampen über nassen Boden durch niedrige Gänge, hinein in die gewaltigen Aushöhlungen des Berges mit ihren Betonruinen.
Was wir von diesen gefährlichen Erkundungstouren in unseren Rucksäcken mitnahmen, waren glänzende Steine, Feldspat und Katzengold. Was wir nicht mitnahmen, war ein Wissen darüber, wo wir gewesen waren. Sosehr man den KZ-Friedhof mit dem für uns unheimlichen Wegweiser nicht vor den Kindern verstecken konnte, so sehr blieb das Geheimnis des Berges vor uns verborgen.

Blieb es verborgen, weil es sich vor uns verbergen wollte? Durchaus nicht: Es wurde verborgen. Es fehlte an Menschen, die uns erklärt hätten, was es mit den Stollenanlagen auf sich hatte. Wo waren denn die Eltern, die erzählt hätten, wie Tausende KZ-Häftlinge genau dort zu Tode geschunden worden waren, wo wir nun unsere Erkundungen durchführten? Wo waren die Eltern, die uns darauf hingewiesen hätten, dass wir bei unseren Ausflügen über die Gebeine jämmerlich verendeter Menschen stolperten?

Und mehr noch: Wo waren die Eltern, die uns vom Alltag in Österreich und speziell in Ebensee zwischen 1938 und 1945 erzählt hätten? Wo waren die Eltern, die erklärt hätten, dass sich auch damals noch, also 1970, die Täter in unserer unmittelbaren Nachbarschaft herumtrieben, dass man sich wöchentlich in einem Wirtshaus im Ebenseer Ortszentrum zusammenrottete, von wo aus man nur 30 Jahre zuvor wieder und wieder zum Judenerschießen ausgerückt war? Wo waren die Eltern, die mir gesagt hätten, dass es genau jenes Wirtshaus war, in das ich von ihnen nun regelmäßig zum Mittagessen geschickt wurde? Wo waren die Eltern, die uns gewarnt hätten, dass eine beliebte Turnlehrerin im Ort eine ganz und gar nicht verkappte Deutschnationale war?

Meine Damen und Herren: Erinnern ist gar nicht möglich, wo nichts in Erinnerung ist. „Niemals vergessen“ wird so zu einer vergeblichen Hoffnung. Ich nehme eine ganze Generation dafür in die Verantwortung, dass heute nicht verstanden wird, nicht mit Abscheu, mit Ausgrenzung verurteilt, was damals geschehen war.

Nur zur Verdeutlichung: Da geht es nicht um Täter, um Denunzianten, um die flinken Mitläufer. Ich spreche von einfachen Wehrmachtssoldaten. Ich spreche von Familien, die um ihre Söhne bangten und sie oft genug im Krieg verloren. Ich denke an die stummen Zeugen der schlimmsten Verbrechen der uns zugänglichen Menschheitsgeschichte.

Es war natürlich nicht die Pflicht – wie es Kurt Waldheim behauptet hatte –, den Nazis zu dienen. Es war auch nicht die Pflicht, Widerstand zu leisten. Aber es wäre die Pflicht gewesen, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs ohne Unterlass und wider alle individuellen Traumatisierungen über jene Zeit zu sprechen.

Es war nicht wichtig, den eigenen Kindern zu erklären, man sei selbst ohne Zutun in die Wehrmacht oder in die Propagandaapparate hineingezogen worden. Vielmehr wäre es wichtig gewesen zu erklären, dass diese Wehrmacht und diese Apparate nicht neutrale Massen waren: Sie waren nicht weniger als die mit unendlicher Schuld beladene Nazi-Maschinerie selbst.

Mit einem Satz: Es wäre nach 1945 für jeden Einzelnen notwendig gewesen, in die kollektive Verantwortung Österreichs einzutreten. Eine Generation ist über alle Maßen stolz auf den ökonomischen Wiederaufbau, doch am moralischen Wiederaufbau ist diese Generation maßlos gescheitert.

Die Wahrheit, meine Damen und Herren, ist nicht nur zumutbar. Die Wahrheit muss dem Menschen abgezwungen werden, damit sie sich nicht wiederholen kann. Niemals vergessen!

Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass ich zu Ihnen sprechen durfte.