Gespensterstunde bei Daniel Kehlmann

Gespensterstunde bei Kehlmann: Wagt sich an literarische Täuschungsmanöver

Wagt sich an literarische Täuschungsmanöver

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Als Experten des Erdachten und Erlogenen neigen Schriftsteller in Selbstauskünften mitunter zu kurioser Sicht auf Welt und Wahrheit. „Was ich schreibe, das ist halt Weltliteratur“, erklärte einst Peter Handke nonchalant, und in einem TV-Interview erwies sich Thomas Bernhard als unsicherer Informant: „Ich habe nie behauptet, dass ich irgendeine Wahrheit oder irgendwas Richtiges gesagt habe. So ist das.“ Eine Sonderstellung in der Disziplin der Selbststilisierung darf neuerdings Daniel Kehlmann für sich beanspruchen. „Ich habe keine Ahnung“, leitete der Schriftsteller Anfang November 2006 in der Aula der Göttinger Universität die erste der beiden Vorlesungen zu seiner Poetik ein. Und weiter: „Dies ist keine rhetorische Wendung. Keine originelle Anfangsphrase, der gleich ein unauffällig gesetztes ‚aber‘ folgen wird. Ich weiß wirklich nichts. Jeder Autor ist bei jedem Produkt wieder am Anfang, es existieren keine Meisterprüfungen, die einen davor schützen würden, beim nächsten Mal die dümmsten Anfängerfehler zu machen.“

Dabei weiß Kehlmann sehr genau, wie woran zu arbeiten ist: Seit seinem Romandebüt „Beerholms Vorstellung“ (1997), der Lebensgeschichte eines Zauberkünstlers, kommt Kehlmann seiner Schreibarbeit mit entschiedener, hochambitionierter Professionalität nach. Als Vorbilder nennt der Schriftsteller, der seine Bücher im 2-Jahres-Takt veröffentlicht, Autoren der literarischen Moderne wie Vladimir Nabokov, John Updike und Gabriel García Márquez. Er wolle, erklärte Kehlmann jüngst, nicht die Syntax brechen, sondern „die Tages- und Nachtwirklichkeiten“ auflösen.

Wortkargheit. Schweißtreibende Sitzungen zur Herstellung von TV-Porträts und Hochglanzfotostrecken lässt der deutsch-österreichische Romancier, 1975 in München geboren, seit 1981 in Wien und neuerdings auch in Berlin wohnhaft, für gewöhnlich geduldig über sich ergehen; Fragen nach seinem Werk pflegt er erschöpfend ausführlich, jene nach Person und Privatleben mit freundlicher Wortkargheit zu beantworten. Von der in der Schreibzunft traditionell zelebrierten Schelte unter Kollegen scheint der Dichter weitgehend verschont: Bekannt ist lediglich, dass der Wiener Literat Franzobel mit Kehlmann im Vorjahr via profil eine heftige Auseinandersetzung um angeblich gefälschte Amazon-Kundenrezensionen ausfocht. Zuletzt kanzelte Radikalpoet Rainald Goetz Kehlmann als Verfasser „praktisch textfreier Bücher“ ab, mit denen der Autor die „gehobene Angestelltenkultur“ vertrete.

In Büchern wie „Der fernste Ort“ (2001) und dem mit 30.000 Exemplaren bis dahin bestverkauften Kehlmann-Titel „Ich und Kaminski“ (2003) gelang es dem Schriftsteller, die Balance zwischen formalem Raffinement, publikumswirksamen Themen, schnörkelloser Sprache und elegant-schwereloser Unterhaltung ebenso gekonnt zu wahren wie in den bislang veröffentlichten Bänden mit Erzählungen und Essays. Als virtuoser, mitunter altmeisterlich auftrumpfender storyteller arbeitet Kehlmann zudem an der allmählichen Aufhebung der im deutschen Sprachraum dauerpräsenten Antagonie von so genannter ernster und unterhaltender Literatur. „Das Massen- und Einschaltquotendenken der Fernsehanstalten und der Medienkonzerne stimmt so nicht“, formulierte der Autor vor drei Jahren in einem Gespräch mit profil. „Was ein bisschen intelligenter ist und ein bisschen mehr Niveau aufweist, wird in so vielen Medien von Leuten zensuriert, die meinen, das verstehe das breite Publikum ohnehin nicht. Es sind vielleicht nicht Millionen, aber doch einige hunderttausende, die durchaus dazu fähig sind, intelligente Bücher und Zeitschriften zu lesen und geistreiche Fernsehsendungen zu sehen.“

Der Erfolg gibt dem Autor Recht. Kehlmanns 2005 vorgelegter Roman „Die Vermessung der Welt“ hält gegenwärtig bei einer Weltauflage von rund zwei Millionen Exemplaren. Die historisch-humoristisch verschränkte Doppelbiografie zweier radikal unterschiedlicher Genies der deutschen Geistesgeschichte – des Entdeckers Alexander von Humboldt und des Mathematikers Carl Friedrich Gauß – ist einer der größten Bucherfolge der deutschen Nachkriegsliteratur: Im vergleichbaren Zeitraum wanderten deutlich weniger Exem­plare von Patrick Süßkinds olfaktorischer Horroretüde „Das Parfum“ (1985) und Robert Schneiders Liebeskitsch „Schlafes Bruder“ (1992), den literarischen deutschsprachigen Steadysellern der jüngeren Vergangenheit, über die Ladentische.

„Die Vermessung der Welt“, die listig dem Plan des „prodesse et delectare“, dem Konzept des Vergnügens und Nutzens folgt, wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt, darunter Färöisch und Hindi. Neben Einladungen auf Luxusjachten und zu Südamerikareisen mit deutschen Spitzenpolitikern bescherte das Buch dem Verfasser zahlreiche Literaturpreise und enorme finanzielle Gewinne. „Ich sehe die ‚Vermessung‘ als Buch, das mein ganzes Werk von jetzt an quersubventionieren wird“, merkte der Autor vor drei Jahren an.

Zwiespalt. Mit „Ruhm“ ist nun der neue Roman des Bestsellerautors überschrieben; das 200 Seiten umfassende Buch mutet, zumindest für Kehlmanns Verhältnisse, wie ein literarischer Nebenposten im Werkkatalog dieses Schriftstellers an. Das erzählerische Programm von „Ruhm“ ist eigentümlich zwiespältig: halb fulminant, halb wolkig – halb mutig, halb zaghaft. Kehlmanns jüngste Arbeit ist ein Buch der Täuschungen, ein hochverfeinertes literarisches Trompe-l’Œil, eine über weite Strecken außerordentliche Analyse der Unwägbarkeiten des Daseins. Nichts ist hier, wie es zunächst scheint. Das in zahlreiche Haupt-, Neben- und Randfiguren gespaltene Personal der insgesamt neun Romankapitel wird mit den großen und kleinen Verwerfungen der Wirklichkeit gnadenlos konfrontiert. Da tauchen in so gut wie jeder der nur vordergründig abgeschlossenen Erzählungen des Romans die (fiktiven) halblustigen Buchtitel eines merkbar am Vorbild des brasilianischen Lebenshilfegurus Paulo Coelho modellierten (erfundenen) Starschriftstellers namens Miguel Auristos Blancos auf: „Der Weg des Selbst zu seinem Selbst“ lautet die Überschrift eines Blancos-Buchs, „Ruhige Hand schafft ruhigen Sinn“ eine andere. In dieser Welt der Masken und Maskeraden, der Doppeldeutigkeiten und Gaukelspiele um Sein und Schein geht ein gefeierter Schauspieler seiner Identität verlustig, eine Krimiautorin wird während einer rätselhaften Fernreise plötzlich vermisst; die von Kehlmann exzentrisch skizzierte Figur eines Autors namens Leo Richter führt in dem von Metaebenen-Sprüngen durchzogenen „Ruhm“ ein reges Eigenleben – sie entwirft eine fiktive eigene Romangestalt, die fortan sowohl als Kehlmann-Figur wie auch als bloße literarische Schimäre durch das Buch geistert. In einem mit „Rosalie geht sterben“ überschriebenen Kapitel tritt wiederum eine todkranke Frau in den Dialog mit ihrem eigentlichen Schöpfer, dem „Erzähler“ ihrer Geschichte. „Was für kluge Dinge. Schieb sie dir in den Arsch“, blafft Rosalie diesen an, als er ihr wortreich die Unausweichlichkeit ihres Todes ausein­andersetzt. „Ich weiß nicht, wer ihr beigebracht hat, so zu reden. Es passt nicht zu ihr, es ist ein Stilbruch, es beschädigt meine Prosa. Nimm dich bitte zusammen!“, fleht ihr schriftstellernder Widerpart.

Kehlmann präsentiert sich auch in „Ruhm“ als literarischer Könner und literaturhistorischer Kenner, er beeindruckt mit Kostproben verschiedenster Tonlagen. In dem Abschnitt „Ein Beitrag zur Debatte“ lässt der Schriftsteller etwa einen manischen Internet-Kommunikations-Junkie tippenderweise vor sich hin brabbeln: „Ich weiß, ich bin zu busy, zu viel Work und Alltag, aber große Thoughts erkenn ich, wenn ich sie sehe.“

Leerer Raum. „Ruhm“ gefällt mit literarischen Kabinettstücken und lose verflochtenen, anspielungsreichen Episoden, die sich letztlich jedoch nicht zum Roman verdichten. Sollte es sich dabei um keinen weiteren, von Kehlmann intendierten formalen Desillusionierungsakt handeln, muss das Gattungsexperiment – der Schriftsteller bezeichnet das Buch im Untertitel als „Roman in neun Geschichten“ – als ergebnislos betrachtet werden. In dem planmäßigen Erzählirrgarten, den Kehlmann entwirft, tummeln sich auf Dauer allzu viele Lügner, Täuscher, Lebensgeschichtenerfinder, Geister und Traumgestalten, deren Existenzen nach eintönigem Grundmuster in je zwei Hälften geschnitten wird: in ein flüchtig skizziertes Davor und ein detailliert notiertes Danach. „Ruhm“ wirkt in seiner Absicht zuweilen zu linear, zu schematisch: Die „Realität“ erscheint als wirrer Traum, die Figuren verfangen sich rettungslos in den Fragen und Fallen einer Scheinwirklichkeit: So ist es! Ist es so?

In Daniel Kehlmanns Erfolgsbuch „Die Vermessung der Welt“ findet sich eine Szene, in welcher der Abenteurer Alexander von Humboldt über die spezifischen Eigenarten eines flüchtigen Phänomens grübelt. „Er habe, sagte Humboldt, viel über die Regeln des Ruhmes nachgedacht. Einen Mann, von dem bekannt sei, dass unter seinen Zehennägeln Flöhe gelebt hätten, nehme keiner mehr ernst. Ganz gleich, was er sonst geleistet habe.“ In dem jüngst erschienenen Interviewband „Requiem für einen Hund“ merkte der Autor an: „Der Ruhm hat etwas zutiefst Verunsicherndes, sowohl im Sozialen als auch im Künstlerischen. Im Sozialen, weil man sich plötzlich in einer Position befindet, die völlig anders ist als die, die man sein Leben lang eingeübt hat. Und im Künstlerischen, weil sich der leere Raum, in den hinein man schreibt, mit einem Mal bevölkert. Weil da nun so viele Leute sind, von denen man weiß, sie werden das lesen.“ Den Gefahren des Ruhms ist Daniel Kehlmann im Titel seines neuen Buchs mit einiger Selbstironie begegnet. Den leeren Raum gilt es zu füllen.

Von Wolfgang Paterno