Gesundheitspolitik: Hippokratisches Leid

Gesundheit: Hippokratisches Leid

Ein Ärztestreik droht, und niemand weiß, warum

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Dienstag vergangener Woche kam es im Wiener Künstlerhaus-Kino in der Akademiestraße im ersten Bezirk zu einer Ärzteschwemme. Der Präsident der Standesvertretung, Walter Dorner, hatte die Kollegenschaft zu einer Sondervorführung geladen. Der Andrang war enorm. Rund 300 Damen und Herren Doktoren waren erschienen. Auf dem Programm stand das jüngste Werk des US-amerikanischen Rabiat-Dokumentarfilmers Michael Moore: „Sicko“. Darin führt Moore („Bowling for Columbine“, „Fahrenheit 9/11“) die Abgründe des amerikanischen Gesundheitssystems vor. Seit Präsident Richard Nixon, so die Botschaft des Films, sei das soziale Netz lückenhaft, die medizinische Versorgung ein einziger Skandal und das Versagen der Politik allgegenwärtig.

Die Ärzte im Künstlerhaus-Kino und vor allem Ärztekammer-Chef Walter Dorner waren von der Medizinal-Doku schaurig begeistert. Denn zeigt sie nicht klar und deutlich, wie hervorragend im Vergleich das Gesundheitssystem in Österreich funktioniert? Und was passieren kann, wenn sich Politik und Bürokratie in Dinge einmischen, von denen sie nichts verstehen?

Am 8. November drohen auch hierzulande für ein paar Stunden Verhältnisse wie in Moores Elaborat. Und dann „schütze der liebe Gott Österreich vor einer Grippewelle“ (Walter Dorner). Geht es nach dem Willen ihrer Standesvertretung, sollen die rund 15.000 in Österreich niedergelassenen Ärzte in Streik treten. Die Praxen bleiben geschlossen. Auch die Spitalsärzte wollen sich anschließen. Nur ein Notdienst wird aufrechtbleiben.

Streiks sind hierzulande eher unbeliebte Phänomene. Und wenn die Streikopfer möglicherweise Alte, Kranke oder Kinder sind, erhöhen sich Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf überproportional. Das kommunikative Problem für die Ärztekammer: Niemand weiß so richtig, warum eigentlich gestreikt werden soll.

Macht und Milliarden. Es geht um Macht und Einfluss. Vor allem aber geht es um Geld, viel Geld: 25 Milliarden Euro jährlich, 10,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, geben Staat, Krankenkassen, Versicherungen und die Österreicher privat für die Gesundheit aus.

Das Ärztedrama nahm Ende September seinen Lauf. Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky sollte sich später „fassungslos“ geben, „dass man nicht einmal etwas planen kann, ohne dass der Zettel Füße bekommt“. Die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zum Finanzausgleich standen vor dem Abschluss. Ein wichtiger Posten: die Finanzierung des Gesundheitssystems. Ein involvierter Landesbeamter zeigte einem befreundeten Arzt eher zum Spaß die ersten Reformvorschläge. Der Mediziner zeigte sich alert und schickte den Entwurf an die Ärztekammer. Dort läuteten alle Alarmglocken, vertrauliche Quellen im Gesundheitsministerium und in den Ländern wurden aktiviert. Am 2. Oktober ging der Ärztekammer über inoffizielle Kanäle ein Entwurf des Gesundheitsministeriums zu einer Bund-Länder-Vereinbarung zu. Der Inhalt erhöhte bei Präsident Dorner und seinen Kammerkameraden schlagartig den Blutdruck. Ihre Diagnose: Das Papier sei ein Anschlag auf die niedergelassene Ärzteschaft, bedeute das Ende des freiberuflichen Charakters der Ärzte und überhaupt eine „Zentralisierung“, „Verstaatlichung“, ja „Verostblockisierung“ des österreichischen Gesundheitssystems.

Nach dem Selbstverständnis der Ärztekammer ist die medizinische Versorgung der Österreicher außerhalb der Spitäler allein Angelegenheit der niedergelassenen, freiberuflich tätigen Ärzte. Deren Leistungskataloge, Verträge und Honorare sollen auch in Zukunft zwischen Standesvertretung und den Sozialversicherungsträgern ausverhandelt werden. Politik und Verwaltung mögen sich weiterhin nicht einmischen. Schließlich wüssten ja die Praktiker in Weiß am besten, was für die Patienten im Speziellen und das medizinische Versorgungssystem im Allgemeinen sinnvoll ist und was nicht.

Die Politik – Ministerium, Landeshauptleute, Gesundheitslandesräte – hat nach eigenem Geschmack dem Treiben der Kammer und der Krankenkassen lange genug zugesehen. Man beruft sich auf das älteste Argument in politischen Auseinandersetzungen: „Wer zahlt, schafft an.“

Hauptstreitpunkt zwischen Dorner und Kdolsky sind die Pläne zur Einführung so genannter Gesundheitszentren. Diese Minispitäler mit einer Hand voll Fachärzten sollen die Krankenhausambulanzen entlasten, kostengünstiger arbeiten und die ärztliche Versorgung am Land weiter verbessern (siehe Kasten nächste Seite). Die Schmerzgrenze war damit überschritten. Beim Streit ums Geld endet die Parteifreundschaft zwischen der ÖVP-Gesundheitsministerin und dem ÖAAB-Mitglied Dorner. Den Kammerattacken hielt Kdolsky nicht stand. Sie bezeichnete die Pläne ihres Hauses zu den Gesundheitszentren als „Referentenentwurf“, der noch nicht einmal auf ihrem Tisch gelandet wäre. Eine reichlich unglaubwürdige Version: Schließlich handelt es sich bei der Materie um das politisch folgenreichste Vorhaben im gesamten Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend.

ÖVP-intern wird kolportiert, Kdolsky sei von ganz oben signalisiert worden, dass ein weiterer Wirbel in ihrem Bereich wenig wünschenswert wäre. Vizekanzler Wilhelm Molterer persönlich hätte sie zu friedensstiftenden Maßnahmen gegenüber der Ärztekammer gedrängt. Parteipolitisch gesehen ein durchaus nachvollziehbarer Wunsch: Schließlich ist die Mehrheit der niedergelassenen Ärzte ÖVP-affin. Und überdies gibt es kaum einen Berufsstand, der die Meinungsbildung der Bevölkerung derart beeinflussen kann wie gesellschaftlich hoch angesehene Mediziner. Rund 70 Millionen Patientenkontakte jährlich fallen bei den niedergelassenen Ärzten an. Ärztliche Beschwerden über die ÖVP-Gesundheitspolitik oder gar Unterschriftenlisten in den Wartezimmern gegen die schwarze Ministerin können leicht zur unsteuerbaren Kampagne ausarten. Und dass das Thema Gesundheit entscheidend ist, zeigten die Analysen nach der Nationalratswahl 2006. Die SPÖ-Kampagne gegen die angebliche „Zwei-Klassen-Medizin“ der Volkspartei hatte voll gegriffen.

Streikdrohung. Doch obwohl mit den Gesundheitszentren der umstrittenste Punkt vorerst vom Tisch ist, setzen die Ärztevertreter weiter auf den Streik am 8. November. In vertraulichen Gesprächen zwischen Kammer und Ministerium sollen diese Woche Lösungen für die noch offenen Punkte gesucht werden.

• So sorgen Pläne, die Zuständigkeit für Mediziner-Ausbildungsstätten dem Bund zu übertragen, für massive Irritationen auf Ärzte-Seite. Bisher durfte die Ärztekammer entscheiden, an welchen Krankenhäusern und in welchem Umfang Jungärzte ausgebildet werden, was regelmäßig zu Konflikten mit Landes- und Gemeindespitälern führte.

• Geht es nach dem Gesundheitsministerium, sollen in Zukunft die Bundesländer mehr Mitsprache bei der Vergabe von Kassenplanstellen haben – für die Ärztekammer ein Angriff auf die hundert Jahre alte Autonomie von Kammer und Sozialversicherung bei der Bedarfsplanung und Vergabe von Ärztestellen. Die Länder, allen voran Niederösterreich, wurden von der Ärztekammer ohnehin als der eigentliche Gegner im gesamten Konflikt ausgemacht. Landespolitiker würden massiven Druck auf den Bund ausüben, um die Kontrolle im Gesundheitswesen übernehmen zu können.

• Im Streit um die Qualitätssicherung der Krankenversorgung sind direkt die Interessen der Patienten betroffen. Das Ministerium möchte in Zukunft Leitlinien und Standards in der Behandlung vorgeben. Der Konter der Kammer: Dies sei ein Eingriff in die Therapie und in das Vertrauensverhältnis Arzt-Patient. Wissenschaftlich abgesicherte optimale Behandlungsmethoden sollten weiterhin von der Kammer und nicht vom Staat definiert werden.

Alexander Ortel, Patientenanwalt in Niederösterreich, sieht einen Rollenkonflikt zwischen Kammer und Politik: „Die Ärztekammer ist die Standesvertretung, da ist sie Experte. Nicht als Gesundheitsplaner. Das ist Aufgabe der Politik. In der Frage, wie man die Gesundheitsversorgung gestaltet, soll die Ärztekammer allerdings mitreden.“ Die Politik steht freilich vor einem fast unlösbaren Problem. Die Kosten des Gesundheitssystems werden immer höher. Die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen der Krankenversicherungen geht dramatisch auseinander – trotz der guten Konjunktur und der Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge um 0,15 Prozentpunkte per Jahreswechsel. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung werden sich die Gesundheitsausgaben Österreichs bis zum Jahr 2050 verdoppeln.

Von „Einsparungen“ will freilich kein Gesundheitspolitiker sprechen, vielmehr ginge es um „Kostendämpfungen“. Diese sollen auch durch mehr Wettbewerb ermöglicht werden. Aber genau gegen die „Ökonomisierung“ des Gesundheitssektors kämpfen die Ärztevertreter an. Schließlich gibt es in jedem Wettbewerb auch Verlierer. Ärztepräsident Walter Dorner: „Wenn die Gesundheitsversorgung ganz in politischer Hand ist, ist es für die niedergelassenen Ärzte zu spät. Den Greißlern in den kleinen Gemeinden hat man auch erst nachgetrauert, als es sie nicht mehr gab.“

Reichlich Stoff für Michael Moore.

Von Gernot Bauer und Martina Lettner