Der Schwindel mit künstlichen Vitaminen

Gesundheit: Neue Studien zeigen den großen Schwindel mit den teuren Vitaminpillen

Vitaminpräparate sind ein Milliardengeschäft

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Zu Beginn der neunziger Jahre war die Vitaminwelt noch in Ordnung. Die so genannten „freien Radikale“ waren als wichtige Auslöser von Arteriosklerose, Krebs und diversen Alterungsprozessen überführt worden. Die nach steinewerfenden Rowdies klingende Bezeichnung steht für extrem instabile Stoffwechselmoleküle, die mit nahezu allen Stoffen reagieren, die ihnen in die Quere kommen. Besonders die Sauerstoffradikale richten auf Zellebene enormen Schaden an.

Doch die Retter waren gleich mit identifiziert: die Vitamine A, C und E, die als „Radikalenfänger“ ausschwärmen und die Blutgefäße und Zellwände vor den schädlichen Oxidationsprozessen schützen sollten, indem sie selber mit den freien Radikalen Verbindungen eingehen und die Übeltäter auf diese Weise neutralisieren.

Ernährungswissenschafter und Ärztegesellschaften rieten deshalb zur vorbeugenden Vitaminkur, am besten über frisches Obst und Gemüse, fünf Portionen pro Tag. „Daran hält sich aber in der Praxis nicht einmal ein Zehntel der Bevölkerung“, klagte Lester Packer, Vitaminexperte der Universität Berkeley, und empfahl Mitte der neunziger Jahre das Gießkannenprinzip: „Vitaminzusätze sollten so wie Impfungen der gesamten Bevölkerung verabreicht werden.“ Wie die meisten seiner Kollegen hielt es Packer nicht für nötig, eine Obergrenze einzuziehen. Problematisch sei nur der Mangel: „Denn Antioxidantien sind selbst hundertfach über der empfohlenen Tagesdosis nicht giftig.“ Die Presse verbreitete die Hoffnung der Experten mit euphorischen Berichten. Vitamine als Antioxidantien waren bald in aller Munde – meist in Form von Pillen und Multivitaminsäften.

Für mehr als ein Viertel der Österreicher gehört es mittlerweile zur Routine, den Organismus mit einer Extraportion Vitaminen aus der Retorte zu versorgen. Allein in den Apotheken gingen im Vorjahr fünf Millionen Packungen Vitamin- und Mineralstoffpräparate über den Ladentisch. Supradyn, Centrum & Co erzielten einen Umsatz von mehr als 75 Millionen Euro. Die höchsten Zuwächse mit einem Plus von 17,7 Prozent erreichte laut dem pharmazeutischen Statistik-Dienst IMS Health die Gruppe der Multivitaminpräparate für Senioren.

Lebenselixier. Die Logik hinter dem Vitaminboom scheint bestechend: Der menschliche Organismus kann Vitamine – mit Ausnahme von Vitamin D – nicht selbst herstellen. Da sie im Körper aber lebenswichtige Aufgaben übernehmen, müssen sie laufend über die Nahrung zugeführt werden. Vitamine sind selbst zwar keine Nährstoffe, regulieren aber häufig deren Verwertung. Ohne Vitamin D kann beispielsweise im Darm nicht genügend Kalzium aufgenommen werden, das für den Aufbau der Knochen ebenso notwendig ist wie für die Funktion der Nerven. Vitamin B1 wird für die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten benötigt. Nachtblindheit kann durch die Gabe von Vitamin A geheilt werden. Der Organismus braucht Vitamine für die Bildung von Zellen, Blut und Knochen sowie für die Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Immunsystems. Vitaminmangel hingegen macht sich bald mit schuppiger Haut, Muskelschwäche, Nervenausfällen, brüchigen Knochen bemerkbar – im Extremfall dann mit schweren Krankheiten wie Rachitis, Beriberi oder Skorbut.

Die Freude war groß, als im Jahr 1993 gleich zwei große Beobachtungsstudien zeigten, dass Personen, die Vitaminpräparate einnehmen, ein deutlich geringeres Risiko haben, an Herz- und Kreislauferkrankungen zu sterben. Kritiker mahnten zwar, die Ergebnisse könnten irreführend sein, da Menschen, die Vitaminpillen schlucken, meist auch sonst einen gesünderen Lebensstil pflegen. Doch gingen ihre Worte in der allgemeinen Vitamineuphorie unter.

Vitaminkur. Bei einer im selben Jahr in der chinesischen Provinz Linxian durchgeführten Interventionsstudie wurden die Teilnehmer nicht bloß beobachtet, sondern aktiv mit Vitaminen versorgt. Die Bewohner dieser Region sind für einseitige Ernährung, mangelhafte Vitaminversorgung und eine der weltweit höchsten Magenkrebsraten bekannt. Knapp 30.000 Teilnehmer bekamen über einen Zeitraum von fünf Jahren verschiedene Vitamin- und Mineralstoffkombinationen verabreicht. Und tatsächlich ging in einer dieser Gruppen – jener, welche die Vitamine A und E erhalten hatte – das Magenkrebsrisiko um 21 Prozent zurück. Das Magazin „Newsweek“ jubelte in einer Titelstory, dass nun eine „Vitamin-Revolution“ im Gang ist, die endlich wirksame Hilfe gegen Krebs, die Geißel der Menschheit, bringt.

„Leider war die chinesische Studie die einzige große Interventionsstudie, die ein positives Ergebnis gezeigt hat“, resümiert der Wiener Ernährungswissenschafter und Vitaminexperte Karl-Heinz Wagner heute ernüchtert. „Vielleicht deshalb, weil es die einzige Studie war, deren Teilnehmer tatsächlich unter Vitaminmangel gelitten haben.“ Fast überall sonst, wo Vitamine – teils in sehr hoher Dosierung – als Radikalenjäger zur Vorsorge gegen Krebs oder Arteriosklerose eingesetzt wurden, erwies sich die Behandlung als Flop. Hier eine Übersicht der wichtigsten Ergebnisse:

* Vitamin A: Gleich zwei große Studien zeigten, dass starke Raucher von der Behandlung mit hohen Dosen Betacarotin in keiner Weise profitierten: Das in Pflanzen vorkommende Provitamin, das erst im Körper zu Vitamin A umgewandelt wird, sollte sie vor Lungenkrebs schützen. Doch eine der Studien mit 18.000 Teilnehmern musste sogar abgebrochen werden, weil in der Vitamingruppe das Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, um dramatische 46 Prozent höher lag.

* Vitamin E: Im Rahmen der HOPE-Studie bekamen 4000 an Diabetes oder einer diagnostizierten Herzkrankheit leidende Patienten Vitamin E oder ein Placebo verabreicht. Nach sieben Jahren zeigten sich keine Unterschiede im Sterberisiko, ja Teilnehmer aus der Vitamingruppe hatten sogar ein signifikant höheres Risiko einer tödlichen Herzschwäche. Drei weitere Studien prüften das Potenzial von Vitamin E zur Krebsvorsorge in verschiedenen Dosierungen und Kombinationen. Bei keiner der Arbeiten zeigte sich ein Rückgang in der Anzahl der Todesfälle oder der Tumore. Ein einziger möglicher Vorteil ergab sich bei der Vorsorge gegen Prostatakrebs. Dieser Schutzeffekt wird nun in zwei Nachfolgestudien geprüft, deren erste Resultate im Jahr 2007 vorliegen sollen.

* Auch bei bereits an Krebs erkrankten Personen zeigte die Behandlung mit Vitaminen keinen messbaren Erfolg. Im Gegenteil: Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren, denen nach der Strahlenbehandlung hohe Dosen Vitamin E verabreicht wurden, zeigten eine beinahe dreifach höhere Rate an Zweittumoren.

* Vitamin D: Die britische RECORD-Studie rekrutierte mehr als 5000 ältere Patienten, die nach einem Knochenbruch wieder mobil waren. Sie erhielten eine Kombination aus Vitamin D3 und Kalzium oder ein Placebo. In der Beobachtungszeit erlitten 700 Patienten weitere Brüche; das Knochenbruch-Risiko war in allen Gruppen gleich.

* B-Vitamine: Die im Sommer 2005 präsentierte norwegische NORVIT-Studie beobachtet seit 1998 knapp 3800 Herzinfarktpatienten, die zur Infarktvorsorge die Vitamine B6, B12 sowie Folsäure oder ein Placebo erhalten. Keine der Vitaminkombinationen brachte den Teilnehmern Vorteile. Wer die Vitamine B6 und Folsäure bekam, hatte sogar ein um 20 Prozent höheres Risiko eines neuerlichen Infarkts oder Schlag-anfalls.

* Vitamin C: Eine finnisch-australische Übersichtsarbeit sammelte die Daten aus 55 Studien, um den Schutzeffekt von Vitamin C vor Erkältungen zu bewerten. 23 Arbeiten fanden keinen Vorteil gegenüber Placebo. Im Schnitt wurde die Krankheitsdauer bei Erwachsenen um acht Prozent, bei Kindern um 14 Prozent gesenkt. Am ehesten profitierten Sportler.

* Multivitamin-Kombis: In einer aktuellen britischen Studie erhielten 910 Männer und Frauen der Altersgruppe über 65 Jahre Multivitamin- oder Placebopillen. Die Vitamine hatten keinen Einfluss auf die Zahl der Arztbesuche, der Infektionen oder auf die Lebensqualität.

Positive Effekte von Vitaminsupplementen sind also mit der Lupe zu suchen – und selbst dann zeigen die Stoffe keinerlei Wirkung oder bringen sogar Nachteile.

Etwas Gutes haben die Studien aber dennoch gebracht: Sie liefern ausreichend Material dafür, weshalb die schön klingenden Hypothesen der vergangenen Jahre nicht gehalten haben.

„In erster Linie liegt es wohl daran, dass nur wenige Menschen überhaupt an Vitaminmangel leiden“, bringt es die Wiener Ernährungswissenschafterin Ingrid Kiefer auf den Punkt. Das beginnt schon bei Vitamin C, der Substanz mit dem wohl besten Image, das ein Lebensmittelbestandteil überhaupt haben kann. „Die Leute glauben, sie müssen im Winter unbedingt Salat essen, damit sie hier keinen Mangel leiden“, sagt Werner Pfannhauser, Vorstand des Instituts für Lebensmittelchemie der TU Graz. „Dabei wird sogar der Wurst so viel Vitamin C zugesetzt, dass viele allein damit ihren Bedarf decken.“ Vitamin C in der Wurst? Tatsächlich: Es fördert nicht nur die Haltbarkeit, sondern soll auch schädliche Auswirkungen von Pökelsalz aufheben.

Kein anderes Vitamin ist derart omnipräsent. Vor allem bei Kinderprodukten scheint kein Hersteller auf das hervorragende Image von Vitamin C verzichten zu wollen. Skorbut hätte schon keine Chance mehr, wenn ein Kind den Aufruf „Nimm 2“ befolgt. Kippt es dann noch ein Glas „Happy Day Aktiv Frühstück“ hinterher, hat es den empfohlenen Tagesbedarf eines Erwachsenen (!) von 100 Milligramm bereits mehr als erfüllt. Da das wasserlösliche Vitamin jedoch leicht über die Verdauung ausgeschieden wird, verursacht es außer Durchfall kaum Probleme.

Ganz anders ist die Situation bei den fettlöslichen Vitaminen A und E: Sie werden im Organismus über Monate oder sogar Jahre eingelagert. In zu hoher Konzentration können sie vor allem in Niere oder Leber problematische Reaktionen auslösen. „Wer ACE-Säfte gegen den Durst trinkt, hat ein echtes Vergiftungsrisiko“, warnt Pfannhauser. Und das deutsche Konsumentenmagazin „ökotest“ kommt in seiner jüngsten Untersuchung von 30 ACE-Getränken zu dem lapidaren Schluss: „Die meisten Drinks schaden mehr, als sie nützen.“

Im Gegensatz zu künstlich zugeführten sind über die Nahrung aufgenommene Vitamine praktisch nicht überdosierbar. Lediglich über Vitamin A gibt es anekdotische Berichte von Polarforschern, die nach dem Konsum von Eisbärleber Vergiftungen erlitten hatten. Bei den Inuit gilt diese Vitaminbombe – Eisbärleber enthält zweitausendmal mehr Vitamin A als Karotten – deswegen auch als tabu.

Überdosis. Da mitunter auch die Leber weniger exotischer Tiere wie Huhn, Schwein oder Kalb extreme Werte enthalten kann, wird Schwangeren sicherheitshalber vom Essen von Leber abgeraten – sie könnte dem Ungeborenen schaden. „Wir haben hier bei unseren Laboranalysen ganz erstaunliche Unterschiede gefunden“, sagt Ernährungsexperte Wagner. „Wir vermuten, dass das mit den Vitaminzusätzen im Tierfutter zusammenhängt.“

Natürliche, über die Nahrung zugeführte Vitamine sind freilich tatsächlich gesund. Legionen von Studien zeigen, dass eine möglichst vielseitige, bunte, vitaminreiche Kost Benefits bringt. Und das gilt nicht nur für rohes Obst und Gemüse: Vitamine sind in fast allem enthalten, was wir zu uns nehmen, in Eiern und Fleisch, Getreide und Hülsenfrüchten, Ölen und Milchprodukten. „15 Jahre lang hat man gedacht, es macht keinen Unterschied, ob wir Vitamine aus künstlichen oder natürlichen Quellen aufnehmen“, erklärt Ingrid Kiefer. Doch Vitamine im natürlichen Verband sind für den Körper wesentlich besser verfügbar als die Laborextrakte. Besonders Obst und Gemüse enthalten neben den bekannten Vitaminen noch eine Unzahl weiterer gesundheitsfördernder Bestandteile, allen voran sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe und Mineralien. Ein Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen synthetischen und natürlichen Vitaminen: In 100 Gramm Apfel sind durchschnittlich 20 Milligramm Vitamin C enthalten. „Das klingt zunächst nicht nach sehr viel“, führt Ingrid Kiefer aus. „Doch im Experiment konnte bewiesen werden, dass diese 20 Milligramm denselben antioxidativen Effekt haben wie die hundertfache Menge an synthetischem Vitamin C.“

Losgelöst aus diesem Konzert verschiedenster Wirkstoffe, bleibt von Vitamin C nur das nackte chemische Gerüst der Ascorbinsäure. Und das ist einfach herstellbar. Vitamine werden heute großindustriell erzeugt. Billigimporte aus China erobern den Weltmarkt. Vom betont natürlichen Image, das den Vitaminen in der Werbung gerne verpasst wird, bleibt wenig übrig. Vitaminherstellung ist pure Chemie. Zum einen werden dafür Mikroorganismen eingesetzt, die sich über Nährlösungen in speziellen Fermentern rasant vermehren. Bakterien, Hefe oder Algen sind vor allem für B-Vitamine das bevorzugte Ausgangsmaterial. Vitamin C wird über spezielle Enzyme aus Zucker gewonnen. Über die Aufspaltung von Erdöl lässt sich in großem Maßstab Vitamin E herstellen. Das Ergebnis ist dann nicht mehr mit natürlichem Vitamin E, wie es beispielsweise in Weizenkeimöl reichlich enthalten ist, vergleichbar. Darin liegt auch eine der Ursachen für deren unterschiedliche Wirksamkeit im Organismus. Bei Vitaminen, die in Form von Obst oder Gemüse konsumiert werden, überlagern sich verschiedene Einflüsse der einzelnen Nahrungsbestandteile. Sie können sich in ihrer Wirkung gegenseitig fördern oder auch hemmen.

Krebsrisiko. Die künstlichen Vitamine hingegen haben keine Regelmechanismen und können selbst zum Problem werden, besonders bei hoher Dosierung. „Vitamin-E-Moleküle reagieren mit den Radikalen und neutralisieren diese“, erklärt Karl-Heinz Wagner. „Nach getaner Arbeit werden sie chemisch gesehen aber selber Radikale“. Die von ihnen ausgelösten Zellschäden könnten in der Folge Herzinfarkte oder Krebs auslösen. Das wäre eine plausible Erklärung für die negativen Ergebnisse mancher Vitaminstudien.

Ein ähnlicher Effekt zeigt sich in der Interaktion zwischen Vitamin D und der Kalziumaufnahme. Bei Überdosierung kehrt sich die förderliche Beziehung der beiden Substanzen um, und Vitamin D kann sogar zu einer vermehrten Ausscheidung von Kalzium beitragen.

Die Gesundheitsbehörden in Europa reagieren bisher nur vereinzelt auf die allgegenwärtige Vitaminschwemme. Zu Jahresbeginn verbot etwa das Deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel Präparate, die eine Obergrenze an Beta-Carotin von 20 Milligramm pro Tag überschreiten. Auch niedriger dosierte Produkte müssen fortan einen Warnhinweis enthalten, dass Beta-Carotin bei Rauchern das Lungenkrebsrisiko erhöhen kann. Für Aufsehen sorgte das von der dänischen Lebensmittelbehörde an den Hersteller Kellog’s ergangene Verbot, zwölf Arten von Frühstücksflocken und sechs Müsliriegel mit zugesetzten Vitaminen auf den Markt zu bringen. Die Behörde berief sich dabei auf eine Untersuchung, die zeigte, dass vier von fünf Kindern bereits regelmäßig Multivitaminpräparate konsumieren. Wenn nun auch noch die Frühstücks-Cornflakes zusätzliche Vitamine enthalten, gefährde dies nach Ansicht der dänischen Behörde die Gesundheit der Kinder.

Die EU-Behörden arbeiten derzeit an einer umfassenden Neuregelung ihrer Nahrungsergänzungsmittel-Verordnung. „Nach dem, was davon bisher durchgedrungen ist, erwarten wir eine recht restriktive Auslegung“, sagt der Grazer Lebensmittelchemiker Michael Murkovic. Als ersten Vorgeschmack wurden zu Jahresbeginn die Höchstgrenzen für die tolerierbare Menge an Vitamin E auf ein Limit von 300 Milligramm pro Tag festgesetzt, das ist ein Drittel der US-Obergrenzen.

Wirklichen Vitaminmangel konstatieren die Experten heute nur noch in speziellen Risikogruppen. Dazu gehören vor allem ältere Menschen, deren Fähigkeit zur Vitaminaufnahme sich generell verschlechtert. Mit dem Rückgang des Appetits kommt es auch häufig zur Mangelernährung. Auch Bettlägrigkeit führt zu einem Mangel an Sonnenlicht, das der wichtigste Anreger für die Bildung von körpereigenem Vitamin D ist. Im Normalfall genügt ein Sonnenbad von zehn Minuten, um unmittelbar in der Haut den Tagesbedarf eines Erwachsenen an Vitamin D zu erzeugen. Personen mit dunkler Haut oder auch alte Menschen benötigen jedoch höhere Lichtmengen. „Es ist deshalb speziell im Winter sehr wichtig, täglich eine halbe Stunde ins Freie zu gehen“, rät Ernährungsforscher Wagner.

Zwangstherapie. Einen erhöhten Vitaminbedarf haben Schwangere. Besonders am Beginn der Schwangerschaft ist die zur Gruppe der B-Vitamine gehörende Folsäure wichtig, da sie die Entwicklung des fetalen Nervensystems fördert. Mangel an Folsäure ist ein Risikofaktor für Neuralrohrdefekte und Gehirnfehlbildungen beim Fetus, die bei ein bis zwei von tausend Schwangerschaften zu Fehlgeburten oder lebenslanger Behinderung führen. In den USA wurde deshalb von den Gesundheitsbehörden bereits 1996 die Anreicherung von Mehl mit Folsäure verordnet. Die Studien belegen seither einen deutlichen Rückgang in der Anzahl der Entwicklungsstörungen. Nun fordern US-Experten sogar eine Verdoppelung der Folsäuredosierung im Mehl. Werner Pfannhauser fordert, dass Österreich diesem Beispiel folgt. „Aber leider“, klagt er, „besteht hier eine starke Phobie gegen alle Formen der Supplementierung.“ Dabei sei es praktisch unmöglich, die empfohlenen Mengen über die Nahrung aufzunehmen. „Denn wer will schon täglich ein halbes Kilo Karfiol oder Kohlsprossen essen?“

Mehrheitsfähig ist Pfannhausers Vorstoß nicht. „Man kann doch nicht die ganze Bevölkerung zwangstherapieren“, warnt Ingrid Kiefer, „zumal ja die Leute ganz unterschiedliche Mengen Mehl essen.“ Viel wichtiger sei es, assistiert auch Karl-Heinz Wagner, Frauen mit Kinderwunsch über den Extrabedarf an Folsäure aufzuklären – am besten schon vor der geplanten Empfängnis.

Wie problematisch es sein kann, eine an sich sinnvolle Maßnahme ohne nähere Bedarfsprüfung generell anzuwenden, zeigte eine Mitte Januar im Journal „The Lancet“ veröffentlichte Studie zur Malaria-Prophylaxe unter 25.000 Kindern in Ostafrika. Weil Anämie als Risikofaktor für Malaria gilt, wurde den Teilnehmern Eisen und Folsäure verabreicht. Kinder mit Mangelerscheinungen profitierten auch tatsächlich und erkrankten seltener an Malaria. Das waren allerdings nur recht wenige. Die Mehrzahl litt gar nicht unter Anämie. Und bei diesen Kindern führte die Supplementierung zu einem um mehr als zehn Prozent höheren Krankheits- und Sterberisiko. Die Studie musste deshalb vorzeitig abgebrochen werden.

Von Verena Ahne und Bert Ehgartner
Mitarbeit: Thomas Hanifle, Florian Lems