Gesundheit: Wenn Ärzte pfuschen

Gesundheit: Wenn Ärzte pfuschen. Die Klagen über gravierende Kunstfehler häufen sich

Imme mehr Klagen über ärztliche Kunstfehler

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Die vierjährige Vanessa litt häufig an Mittelohrentzündung. Deshalb sollte sie an den Mandeln operiert werden. Alle Blutbefunde lagen im Normbereich, eine Allergie war nicht bekannt. Die vor der Operation vorgenommene ärztliche Untersuchung hatte ergeben, dass Vanessa ein im Grunde rundum gesundes Kind war.

Da für die Mandelentfernung eine Vollnarkose vorgesehen war, prüfte der Anästhesist das 20 Jahre alte Narkosegerät mit der Produktbezeichnung Sulla 808 V. Die Geräteprobe verlief unauffällig, also wurde die Narkose eingeleitet. Vanessa schlief rasch ein. Da bemerkte die Kinderärztin, dass die an einer Zehe des Kindes gemessene Sauerstoffversorgung binnen Kurzem von 100 auf 85 Prozent abgefallen war. Die Ärztin und der Anästhesist standen vor einem Rätsel und riefen einen weiteren Arzt zu Hilfe. Der entfernte den Tubus und ersetzte ihn durch einen größeren – aber die künstliche Beatmung funktionierte trotzdem nicht. Zwei weitere Ärzte kamen hinzu. Nun begann auch die Herzfrequenz der kleinen Patientin bedrohlich abzusinken. Ein Mediziner vermutete eine Verlegung der Atemwege durch einen Fremdkörper, fand aber nichts. Adrenalin und andere Medikamente wurden intravenös verabreicht.

Die Sauerstoffsättigung im kindlichen Blut war auf lebensgefährliche 20 Prozent gefallen, der Puls lag nur noch bei 40 Schlägen. Der Stress war enorm. Die Ärzte gestikulierten und riefen durcheinander, einer begann mit Herzdruckmassage zur Wiederbelebung des Kindes. Noch zwei Kollegen kamen hinzu. Laut Narkoseprotokoll waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits 40 Minuten vergangen. Nun erst kam einer der Ärzte auf die Idee, für die Beatmung nicht das Narkosegerät, sondern einen simplen manuellen Ambu-Beutel zu verwenden. Damit gelang im Nu eine ausreichende Sauerstoffversorgung, die Herzfrequenz kletterte wieder auf normale Werte. Während der manuellen Beatmung wurde ein anderes Beatmungsgerät geholt und angeschlossen: Tatsächlich, nun ließ sich problemlos beatmen. Das Narkosegerät war defekt gewesen. „Es hat also 40 Minuten und ein halbes Dutzend Ärzte gebraucht, um die simpelste aller Lösungen gegen Sauerstoffmangel zu finden: manuelle Beatmung“, sagt der niederösterreichische Patientenanwalt Gerald Bachinger.

Die Ärzte warteten verzweifelt, dass Vanessa aus der Narkose erwachen und der Albtraum glimpflich vorübergehen würde. Doch es war zu spät. Das Kind hatte durch den Sauerstoffmangel schwere Hirnschäden erlitten. Auf der Intensivstation traten Krämpfe auf, der Zustand verschlechterte sich. Monatelang lag das bis vor Kurzem noch völlig gesunde Mädchen im Koma, bis es schließlich an einer Lungenentzündung starb. Beim Narkoseapparat Sulla war in der Zwischenzeit ein Ventildefekt festgestellt worden.

Gutachten. Das von Bachinger in Auftrag gegebene Expertengutachten listet in aller Ausführlichkeit auf, was in den endlosen Schrecksekunden des Unglückstages alles schief gelaufen war: vom falsch durchgeführten Gerätetest bis hin zur Unfähigkeit der versammelten Ärzte, den einfachsten Gedanken zu denken: dass auch die Technik in einem High-Tech-OP einmal versagen kann. Das Gutachten ist die Basis für eine außergerichtliche Einigung von Haftpflichtversicherung und Hinterbliebenen. Das Schicksal Vanessas ist nur einer von insgesamt 1100 Fällen des Jahres 2005, mit denen sich die Patientenanwaltschaft allein in Niederösterreich befassen musste.

Meist ist die Faktenlage aber bei Weitem nicht so eindeutig. Beispielsweise im Fall des Vorarlbergers Elmar Battlogg. Der Enddreißiger arbeitete als Klimatechniker – im steten Wechsel zwischen Gefrierkammer und heißem Geräteraum. Wegen seiner in immer kürzeren Abständen auftretenden Rückenprobleme riet ihm ein Orthopäde zu einer Bandscheibenoperation. „Er bezeichnete sich selbst als sehr erfahren, riet mir euphorisch zum Eingriff und schilderte die Risiken der Operation als minimal.“ Also entschied sich Battlogg für die Operation. Das Ergebnis war katastrophal. Zwei Jahre lang war der Techniker vollständig ans Bett gefesselt. Er musste seinen Beruf aufgeben, ist erst über mühselige Rehabilitation heute zumindest wieder in der Lage, sich halbwegs zu bewegen oder mit dem Rad zu fahren. „Ich habe erst nach der Operation erfahren, dass der Orthopäde die Risiken schamlos heruntergespielt hat – und dass er selbst keinesfalls so erfahren war, wie er sagte, sondern ein Arzt in Ausbildung.“ Über die Domain „Aerztepfusch.at“ stellte Battlogg den Vorfall, „der mein Leben zerstört hat“, ins Internet. Eine Klage „wegen betrügerischer Aufklärung“ will er sich vorbehalten.

Die Statistikkurve der Klagen wegen ärztlicher Kunstfehler zeigt steil nach oben. Was einst nur aus den USA bekannt war, wird auch hierzulande zunehmend häufiger. Immer mehr Patienten gehen juristisch gegen ihre Ärzte vor. Die Prämien für die Haftpflichtversicherung steigen enorm. Ärzten, denen öfter Fehler unterlaufen, droht die Kündigung der Versicherung. Bei den Patientenanwälten steigt die Anzahl der zu bearbeitenden Beschwerden jährlich um etwa 20 Prozent. Und immer mehr Rechtsanwälte spezialisieren sich auf Kunstfehler. Die Palette der Verfehlungen, die in diese Definition fallen, ist breit. Von der klassischen, auf der falschen Seite entfernten Niere bis zum handwerklichen Fehler beim Eingriff selbst.

Es ist jetzt zwölf Jahre her, seit eine Studie der Universität Harvard weltweit Schlagzeilen machte. Dabei wurden Stichproben von Fallberichten gezogen und akribisch genau auf alle Aspekte der Behandlungsqualität untersucht. Die Forschergruppe um Lucian Leape wies nach, dass Medizinfehler keineswegs die Ausnahme, sondern alltäglich sind. Umgerechnet auf Österreich, würden die US-Zahlen bedeuten, dass in unseren Krankenhäusern jährlich rund 30.000 Schadensfälle und etwa 3000 durch ärztliche Fehlbehandlung hervorgerufene Todesfälle auftreten – dreimal mehr, als in durchschnittlichen Jahren an Verkehrsopfern zu beklagen sind.

Konkrete heimische Zahlen über derartige Behandlungsfehler gibt es hingegen noch immer nicht. „Weil gar niemand ein Interesse hat, genauer hinzusehen“, kritisiert Patientenanwalt Bachinger (siehe Interview auf Seite 112). „Dafür werden Pseudoaktionen unternommen wie das ‚Jahr der Patientensicherheit‘, das die Ärztekammer für 2007 ausgerufen hat.“

Schuldkultur. Die allerwenigsten Behandlungsfehler und Komplikationen werden derzeit überhaupt als solche erfasst. „Sehr oft herrscht in der Medizin eine Art Null-Fehler-Mentalität und die Vorstellung, dass Fehler hier nicht vorkommen dürfen“, kritisiert der Schweizer Qualitätsmanager Marc-Anton Hochreutener. Das Ganze verbunden mit einer Schuldkultur, die bei jedem Vorkommnis einen „Bösen“ sucht, als wäre damit jeder Vorfall ungeschehen zu machen. In Wahrheit, so Hochreutener, sei der Medizinbetrieb ein Hochrisikounternehmen – und die Vorstellungen, dass Fehler gänzlich zu vermeiden wären, völlig weltfremd.

Einige Medizinsysteme reagieren bereits darauf. Etwa mit der Schaffung von spezialisierten Task Forces, Experten, die von Abteilung zu Abteilung gehen und die Erfahrungen der Ärzte und des Pflegepersonals protokollieren und daraus Verbesserungsvorschläge konzipieren. In der Schweiz, in Großbritannien oder auch in Deutschland wird mit Fehlermeldesystemen experimentiert. Beispielsweise mit einem auf Intranet-Basis funktionierenden Meldesystem für gefährliche Vorfälle (Critical Incident Reporting System), wo Erfahrungen geteilt werden und es – so wie im Flug- oder Nuklearbereich – verpönt ist, einen Fehler oder eine kritische Situation nicht zu melden, weil alle davon lernen können und damit die kritische Erfahrung des einen vielen anderen hilft. Stattdessen muss sich in der Hochrisikobranche Medizin ein bestimmter Fehler viele Male wiederholen, ehe das System überhaupt davon Notiz nimmt.

Fehlermeldesysteme leben vom Prinzip des „just tell it“ (sprich darüber). Wenn ein Arzt, der einen Fehler eingesteht, dafür allerdings Strafen zu erwarten hat, so ist das schon a priori der Killer für jedes Meldesystem. „Das wird nicht benützt werden, denn niemand stellt sich freiwillig an den Pranger“, sagt der Linzer Experte für Handchirurgie und erfahrene Medizingutachter Günther Straub. „Also muss es zunächst mal Straffreiheit für jene geben, die etwas melden.“

Wie die Situation derzeit ist, erlebte Patientenanwalt Bachinger am Fall eines erfahrenen Oberarztes. „Er hat einer 80-jährigen Patientin eine falsche Blutkonserve gegeben und meldete sich, gemeinsam mit dem Primar, bei uns, um sich über die richtige Vorgangsweise zu informieren.“ Bachinger empfahl die offensive Einbindung der Angehörigen. Der schwere Fehler verlief glimpflich, die alte Dame überlebte. Sie und ihre Kinder akzeptierten die Entschuldigung des Arztes. „Alles schien vorbildlich gelaufen“, erzählt Bachinger, „doch nach einem Monat erfuhr der Träger des Krankenhauses von dem Vorfall und sprach umgehend die fristlose Entlassung des Oberarztes aus.“ Erst mit mühsamen Interventionen konnte diese Entscheidung rückgängig gemacht werden.

Ähnlich erging es einem Brustkrebsspezialisten, nachdem im Körper einer von ihm operierten Patientin anlässlich einer späteren Röntgenuntersuchung zwei vergessene Tupfer entdeckt wurden. „Von einem Tag auf den anderen wurde ich behandelt wie ein Verbrecher“, erklärte der beschuldigte Chirurg. Die ärztliche Direktion verhängte ein Operationsverbot. Zeitungen und Fernsehen berichteten über den Fall. „Mein Ruf wurde schwerstens beschädigt – und bis heute, acht Wochen nach dem Vorfall, hat niemand von der Untersuchungskommission mit mir Kontakt aufgenommen.“ In Wahrheit, so der Arzt, der anonym bleiben möchte, zu profil, könnten die Tupfer aber gar nicht von ihm stammen, da sie nicht von dem Typ seien, wie sie in der betreffenden Klinik, wo er operiert hat, verwendet werden.

Wie das System mit Fehlern umgehe, sei ebenso bezeichnend wie der höchst unfaire Umgang sowohl mit der Patientin wie mit ihm selbst, sagt der beschuldigte Arzt. „Wenn mir so etwas tatsächlich passiert wäre, hätte ich offen mit der Patientin gesprochen, mich herzlich bei ihr entschuldigt und Schmerzensgeld angeboten.“ So wie das aber nun gelaufen sei, würden Kollegen, die von dem Fall hören, sich hüten, zu ihren Fehlern zu stehen. „Damit wird das Vertuschungssystem erst richtig angeheizt.“

Dass gelegentlich Operationsutensilien im Körper eines Patienten vergessen werden, scheint nicht absolut vermeidbar zu sein. Eine im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Arbeit schätzt, dass in jeder größeren Klinik einmal pro Jahr so ein Fall vorkommt. Schuld daran tragen Chirurgen, die den Arbeitsplatz nicht ordentlich aufräumen, wie auch Schwestern, die sich nach Abschluss des Eingriffs bei der Kontrolle des OP-Materials verzählen. Die genaue Analyse der Ereignisse ergab, dass das höchste Risiko bei Notfalloperationen besteht. Dabei wird neunmal häufiger etwas vergessen als bei geplanten Eingriffen. Bei dicken Patienten ist das Risiko um zehn Prozent erhöht. Als Vorsichtsmaßnahme empfehlen die Autoren, nur radiologisch markiertes Material zu verwenden und alle Patienten nach Notoperationen noch einmal abschließend zu röntgen.

„Wir gehen ja davon aus, dass niemand absichtlich einen Fehler macht“, erklärt Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat, „deshalb diskutieren wir derzeit intensiv über die Straffreistellung bei Kunstfehlern.“ Ob diese Vorabamnestie auch bei grober Fahrlässigkeit gelten soll, ist derzeit noch umstritten. Ebenso wie der Vorschlag, die Straffreiheit nur dann zu garantieren, wenn der Arzt aus eigener Initiative seinen Fehler meldet. Derzeit ist auch ein Gesetz in Begutachtung, welches erstmals die Schaffung eines eigenen Bundesinstituts für Qualitätssicherung in der Medizin vorsieht. Rauch-Kallat: „Dort werden diese Reformarbeiten alle beheimatet sein.“

Zusatzversicherung. Der Bedarf für Qualitätssicherung sei jedenfalls riesengroß, bestätigt der Wiener Medizinrechtsexperte Manfred Roland. „Ich übernehme bald keine Kunstfehlerklagen mehr“, stöhnt er. „Denn das verdirbt einem die Lebensfreude, wenn man ständig mit der unglaublichen Menschenverachtung dieses Berufsstandes zu tun hat.“ In erster Linie, so seine Einschätzung, hat das Fehlverhalten der Ärzte finanzielle Gründe. „Ich rate allen meinen Freunden, dass sie unbedingt verschweigen, wenn sie eine private Zusatzversicherung haben, denn das ist lebensgefährlich.“ Nach Rolands Erfahrung würden Ärzte alle möglichen sinnlosen Eingriffe planen, sobald sie das Geld riechen. „Also zücken Sie die Versicherungskarte erst dann, wenn die Diagnose steht“, rät Roland.

Aber auch bei Ärzten auftretende, teils gravierende psychische Störungen können das Leben der Patienten gefährden, fand nun Harvard-Forscher Lucian Leape in einer zu Jahresbeginn im „Journal of the American Medical Association“ („JAMA“) publizierten Studie heraus. „Mindestens jeder dritte Arzt“, so Leape, „durchlebt im Lauf seiner Karriere eine Phase, wo er für andere gefährlich wird.“ Depressionen, Angststörungen, beginnende Demenz, aber auch Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit wirken sich negativ auf die berufliche Tätigkeit aus. Dazu kommen noch arbeitsbedingte Ursachen wie Müdigkeit, Stress und der leichte Zugriff auf Medikamente. Das Lebenszeitrisiko von Depressionen liegt in der Allgemeinbevölkerung bei 16 Prozent, in der Ärzteschaft wesentlich höher, wie die Selbstmordraten zeigen, die bei Ärzten um 40 Prozent über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegen. Ärztinnen begehen sogar doppelt so oft Suizid wie Nichtmedizinerinnen. In einer größeren Klinik gebe es im Schnitt immer ein bis zwei „dyskompetente“ Kollegen. Diese zu erkennen sei allerdings alles andere als leicht, da Geisteskrankheiten in der Regel im Beruf zuletzt manifest werden, nachdem sie zuvor bereits das Ehe- und Privatleben zerstört haben. Die Autoren der „JAMA“-Studie geben Hinweise, wie Klinikleitung, Kollegen und Patienten psychisch kranke Ärzte erkennen können: Sie gebrauchen häufig eine respektlose Sprache, erniedrigen anderes Personal, neigen zu Wutausbrüchen, werfen mit Instrumenten herum oder kritisieren andere Kollegen vor den Patienten. Mindestens einmal jährlich, so der Vorschlag der Harvard-Gruppe, sollte die psychische Gesundheit der Ärzte vertraulich evaluiert und die Beschwerden von Personal sowie Patienten ausgewertet werden.

Virtueller Tod. Konsequent durchgesetzt, könnte Qualitätskontrolle damit auch kriminelle oder unfähige Ärzte identifizieren. Eine Gruppe britischer Anästhesisten publizierte Mitte Mai eine Studie, mit der sie ihr betriebsinternes Konrollsystem getestet hatten. Zu diesem Zweck trugen die Mediziner pro Monat einen erfundenen Patienten in die Operationsbücher ein und ließen ihn sterben. Nach acht Monaten schlug das klinikinterne Kontrollsystem Alarm. Offenbar viel zu spät. Die Autoren der Studie waren dennoch zufrieden, weil diese „virtuellen Patienten“ ja nirgendwo – außer in der EDV – Spuren hinterlassen hatten. Und wenn man bedenkt, dass der Arzt Harold Shipman 250 seiner Patienten umbringen konnte, ehe seine Taten nach mehr als zwei Jahrzehnten durch Zufall entdeckt wurden, so ist das Testergebnis gar nicht schlecht.

Praxisnäher wäre allerdings die Verpflichtung der Abteilungen, ihre konkreten Ergebnisse zu veröffentlichen, wie das etwa in den USA gang und gäbe ist. Da könnte sich ein Patient, der sich einer bestimmten Operation unterziehen will, vorab informieren, wo es die nötige Erfahrung mit komplizierteren Eingriffen und die höchsten Erfolgsraten gibt. „Das gehört allerdings ordentlich vorbereitet“, sagt Patientenanwalt Bachinger. „Denn in den USA hat das in der Testphase dazu geführt, dass nur noch topfitte Patienten aufgenommen wurden, um den guten Schnitt der Klinik nicht zu gefährden.“ Der allgemeine Gesundheitszustand der Patienten müsste beim Ergebnis des Eingriffs also klarerweise berücksichtigt werden.

Kontrollsystem. Der Fokus müsste auch nicht unbedingt immer auf das Negative gerichtet sein. Das Kontrollsystem deutscher Qualitätssicherer schlug beispielsweise auch bei einer Abteilung für Herzchirurgie an, wo bereits das zweite Jahr in Folge eine Sterblichkeitsrate von unter einem Prozent gemeldet wurde. Der allgemeine Schnitt lag fast viermal so hoch. Die skeptischen Prüfer dachten zuerst an einen Meldefehler. Doch dann fanden sie eine Abteilung vor, in der alle Abläufe wie am Schnürchen funktionierten und die Abstimmung unter den einzelnen Disziplinen perfekt war. Auch daraus kann man lernen.

Das Gegenteil von guter Organisation bietet hingegen häufig Arbeit für die Juristen. „Schlampereien in der ärztlichen Praxis können durchaus auch als Kunstfehler gewertet werden“, sagt Karin Prutsch, Medizinrechtsexpertin der Kanzlei Fritsch, Kollmann und Partner in Graz. Beispielsweise dann, wenn ein Biopsie-Befund sechs Monate lang weder beim Hausarzt noch im Krankenhaus auffindbar ist. Prutschs Klientin fuhr schließlich selbst ins Spital und machte sich auf die Suche, bis eine hilfsbereite Ärztin den verstaubten Akt in der Ambulanz fand. Nun wurden weitere Untersuchungen vorgenommen und bei der Patientin ein Tumor diagnostiziert, der bereits so weit gewachsen war, dass die Brust entfernt werden musste.
Ähnliches passierte einer anderen Klientin Prutschs. Auslöser war allerdings nicht Krebs, sondern ein harmloser Abszess. Der Chirurg empfahl die Entfernung, ohne über Operationsrisiko oder Behandlungsalternativen aufzuklären. Als sich die Wunde entzündete, wurde die Infektion verschleppt. Gewebe starb ab. Am Ende stand die Amputation. Im Schlichtungsprozess legte der Chirurg ein Privatgutachten vor, das alle Schuld aggressiven Krankenhauskeimen zuschob. In einem Brief warnte der Anwalt des Chirurgen die Patientin schließlich noch vor dem hohen Prozessrisiko und „damit verbundenen dramatischen finanziellen Folgen“ und bot als Alternative ein kleines freiwilliges Schmerzensgeld an. Der Einschüchterungsversuch hatte keinen Erfolg.

Angelpunkt. Prutsch sieht in der Aufklärungspflicht den Angelpunkt bei vielen Schadenersatzprozessen. „Eine Verletzung liegt vor, wenn der Patient über die möglichen Folgen eines Eingriffs nicht hinreichend in Kenntnis gesetzt wurde.“ Dabei müsse der Patient individuell über die bei ihm bestehenden Risiken aufgeklärt werden. Prutsch: „Er kann erst dann eine rechtswirksame Einwilligung abgeben, wenn er die vorangegangene Aufklärung auch verstanden hat.“ Als Bestätigung gilt die Unterschrift nur bedingt. Denn auch hier blüht der Missbrauch. „Es ist beispielsweise durchaus üblich, dass die Patienten die Operationsaufklärung erst am Weg in den OP bekommen“, sagt Rechtsanwalt Roland. „Und am schlimmsten sind jene Ärzte, die zuvor noch die berühmte Wurschtigkeitsspritze verabreichen.“

Dass allerdings auch Patientenwort nicht immer verlässlich ist, zeigte eine vor einigen Jahren in Wien durchgeführte Studie, bei der Patienten vor einer Augenoperation mustergültig aufgeklärt und das Ganze über versteckte Kameras dokumentiert wurde. Am nächsten Tag konnte kaum noch ein Patient eines der drei Hauptrisiken der Operation nennen. Jeder vierte Patient behauptete gar felsenfest, überhaupt nie eine Aufklärung erhalten zu haben.