Gleichstellung: „Liebe mag ich sehr“

Gleichstellung: „Liebe mag ich sehr“

Erste Down-Syndrom-Trauung in Österreich

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„Nimm bitte meine Schuhe!“ – „Deine Steppschuhe nimmst du bitte selber, ich bin ja nicht dein Dienstmädchen.“

Der Gemahl blickt jetzt ein bisschen traurig, denn es ist erst der dritte Tag seiner Ehe. Das realisiert seine Frau blitzschnell und nimmt versöhnlich seine Hand. Sie weiß, dass ihm alles, was nach „Schnauzen“ klingt, ein bisschen Angst macht. Sie ist 21, er 30 Jahre alt. Seit fast sechs Jahren nehmen die beiden gemeinsamen Steppunterricht, oft gemeinsam mit Ralf. Mike verabschiedet sich von Ralf, drückt ihn inniglich an sich. Einige Momente lang verharren die beiden schweigend so. Clara nimmt ihren Mann jetzt an der Hand: „Komm, wir müssen heute noch packen! Und ich will essen.“ „Essen muss man“, sagt er. „Aber essen will man auch“, antwortet sie ihm.

Morgen fliegen die beiden auf Hochzeitsreise. Nach Venedig. Und die ganze Familie begleitet sie – Claras Eltern, ihre beiden älteren Schwestern, Mikes Mutter. „An sich eine Horrorvorstellung – ein frisch vermähltes Paar fährt auf Hochzeitsreise, und die Schwiegermütter sind ständig dabei“, sagt Claras Mutter, „aber bei uns ist das natürlich anders.“

Das junge Paar freut sich auf das großfamiliäre Ereignis. Allein könnten Clara und Mike gar nicht reisen. Obwohl sie sich in Wien mit dem öffentlichen Verkehrsnetz problemlos zurechtfinden, wären sie in unvertrauter Umgebung hilflos und verloren.

Clara ist ein großer Kinofan. „Meine Tochter wohnt quasi im Apollo-Kino“, erzählt Eva Horvath. „Alles, was mit Liebe zu tun hat, mag ich sehr“, strahlt Clara. Mike hätte gegen mehr aus dem Action-Genre durchaus nichts einzuwenden.Vor dem österreichischen Gesetz sind Mike und Clara nicht verheiratet. Die standesamtliche Zeremonie ließen die Eltern bewusst entfallen – auch aus Sorge, an der damit verbundenen Bürokratie zu scheitern. Aber die Kirche hat ihrer Verbindung den göttlichen Segen erteilt – in einer wunderschönen Zeremonie im Wiener Stephansdom am Samstag vor zwei Wochen, geführt von Dompfarrer Toni Faber, der sich schon mehrfach durch gesellschaftliche Aufgeschlossenheit hervorgetan hat. Als „unkompliziert und schnell“ empfand Eva Horvath die Vorgangsweise seitens der Kirche, bis die Genehmigung für die Zeremonie erteilt wurde.

„Das ist die Hochzeit des Jahres“, verkündete Toni Faber vor einer vierhundertköpfigen Festgemeinde, „der Dom ist groß, aber nicht groß genug für euch.“ Vor ihm stand eine junge Frau, der ihr Bräutigam immer wieder fürsorglich die Tränen trocknete. „Und er schuf sie als Mann und Frau“, las die Brautmutter, „und er sah, dass es gut war …“

Erste Down-Syndrom-Trauung. Clara und Mike sind Träger des Down-Syndroms. Es ist das erste Mal in Österreich, dass sich ein Paar mit Down-Syndrom das Jawort in der Kirche gab. Dass Down-Syndrom-Träger ebenso wie andere Menschen auch das Bedürfnis nach emotionaler Nähe, Beziehungsleben und Sexualität verspüren, wird in der öffentlich geleisteten Behindertenbetreuung kaum beachtet. Aufmerksamkeit für diese Grauzone an Bedürfnissen zu erregen war der Grund dafür, dass die Eltern des Paares die Geschichte ihrer Kinder hier zugänglich machen. „Die Besonderheit unserer Kinder bedeutet, lebenslänglich da zu sein“, sagt Mikes Mutter Meggi Brozek. Die Hotelangestellte hat ihren Sohn, nach ihrer Scheidung, seit dessen zehnten Lebensjahr allein aufgezogen. Mike wohnt schon seit geraumer Zeit in einer eigenen Wohnung, aber ganz sich selbst überlassen wird man ihn nie können. Auch wenn er mit Clara zusammenwohnt. Mike arbeitet in der Küche der Generali Versicherung, Clara hat gemäß Behinderteneinstellungsgesetz einen Job für kleine Hilfsdienste wie das Austragen der Post in der Nationalbank bekommen. Um beide Stellen zu kriegen, bedurfte es Geduld, Energie und Kontakte der Angehörigen.

Mike hat auch das Glück, einen Freund wie Leo Neudhart zu haben. Der 61-Jährige körperlich schwer Behinderte widmet sein Leben unermüdlich der verbesserten Behandlung und Integration Behinderter. Nach der Gründung des „Club Handicap“ hat er es sich nun „zum Hobby“ gemacht, Einzelförderung von geistig Behinderten zu betreiben. „Ich kämpfe, denn wenn Menschen wie der Mike unterfordert werden, blockiert man ihre Entwicklungsfähigkeit. Wäre er nur den staatlichen Stellen überlassen gewesen, wäre er bis heute nicht in der Lage, einen eigenen Beruf auszuüben“, ist Neudhart überzeugt.

Betreuung. Clara und Mike werden bei der Verwaltung ihrer Finanzen Hilfe brauchen, denn der Kaufwert und die Bedeutung des Geldes sind für sie schwierig zu erfassen. Während das Rechnen eine echte Hürde ist, bereiten Lesen und Schreiben beiden kein Problem.

Clara und Mike werden immer Unterstützung brauchen, was ihre gesundheitliche Versorgung betrifft. Und sie werden ihre Familien brauchen, um begreifen zu lernen, dass sie nicht Eltern werden sollten. Sie werden aber ganz alleine eine glückliche Beziehung leben können.

Eva Horvath hat zum Hochzeitsfest ihrer Tochter einen begleitenden Text verfasst, den sie mit den Sätzen schließt:

„Mike und Clara wünschen sich nichts sehnlicher, als dass ihre Liebe zueinander ernst genommen und respektiert wird – wie bei anderen Paaren auch. Haben wir das Recht, ihnen diesen Wunsch zu verwehren?“

Fast sechs Jahre lang hat Mike beim Brautvater Günther Horvath, einem Rechtsanwalt, mit unermüdlicher Konsequenz um die Hand von Clara angehalten, die er beim Tanzen im Kulturverein „Ich bin o. k.“ kennen gelernt hatte. Irgendwann versuchte er die stagnierende Angelegenheit voranzutreiben, indem er knapp vor Claras 18. Geburtstag mit einem Brautkleid vor der Tür der Familie Horvath stand. Er hatte seiner Mutter Meggi quasi befohlen, mit ihm das Kleid kaufen zu gehen. „Schock und Beklommenheit“ bei der Brautfamilie waren die ersten Reaktionen. Man einigte sich auf einen gemeinsamen Ballbesuch, wo Clara Mikes Prinzessin sein sollte.

Mit solchen lauwarmen Kompromisslösungen wollte er sich jedoch nicht länger zufrieden geben. Als ihn der Vater erneut auf einen unbestimmten Zeitpunkt vertrösten wollte, tat Mike, was er sonst ganz selten tut. Er „schnauzte“: „Soll ich vielleicht so lange warten, bis ich so graue Haare wie du hab?“

Mike und Clara sind privilegierte Menschen. Sie haben beide Mütter, die es nicht als Strafe empfunden haben, „ein solch besonderes Kind großzuziehen“. Und die viel Zeit und Energie in die kreative, geistige und körperliche Förderung ihrer Kinder investierten.

„Wenn man eine Schwangerschaft eingeht“, sagte Eva Horvath, „muss man damit rechnen, dass man ein Kind bekommt, das nicht wie aus dem Magazin ‚Eltern‘ ausschaut.“ Für sie kam vor 21 Jahren ein Baby mit Down-Syndrom unerwartet. Die ersten zwei Jahre wusste Eva Horvath nicht, ob ihre dritte Tochter, die auch einen schweren Herzfehler hatte, überhaupt überleben würde. Sie war so schwach, dass die so notwendige wie riskante Operation eineinhalb Jahre lang nicht durchgeführt werden konnte. Der Überlebenskampf verschlang so viel Energie, dass die Beziehung zum Kind kaum Raum bekam. „Als Clara ein Jahr wurde, habe ich nicht einmal daran gedacht, ihren Geburtstag zu feiern. Sie war so ein blasses Würstchen. Meine beiden älteren Töchter haben sich damals empört, dass ich keine Torte für sie gemacht habe. Das war ein wichtiges Erlebnis für mich … Wir haben dann Claras Geburtstag so gefeiert wie den der anderen Kinder auch.“

Und irgendwann gab sich Eva Horvath danach das Versprechen, dass sie ihrer Tochter einmal so eine richtige Märchenhochzeit ausrichten wird. Die gebürtige Polin Meggi Brozek bekam ihren Sohn vor 30 Jahren in einer kleinen Krankenstation in einem Städtchen nahe des Weichsel-Ursprungs. Das Erste, was sie zu hören bekam, war der entsetzte Schrei der Hebamme, die „irgendetwas von der Mongolei gefaselt hat“. Und wenig später sagte ihre Mutter mit strenger Stimme: „Dir wurde dieses Kind gegeben. Du wirst es so lieben, wie es ist.“ Das hatte Meggi Brozek aber ohnehin vorgehabt.

Wie viele Menschen in Österreich mit dem Down-Syndrom leben, ist nicht annähernd exakt zu erheben. In den Behindertenstatistiken des Sozialministeriums wird das Down-Syndrom nicht einmal ausgewiesen. Selbst Schätzungen hält man dort für „unseriös“, meint aber inoffiziell, dass es sich bundesweit wohl kaum um mehr als tausend Personen handeln dürfte. Auch im offiziellen Behindertenbericht des Ministeriums wird bloß lakonisch vermeldet, dass „über psychisch und geistig behinderte Menschen kaum Zahlenmaterial vorhanden“ sei. Eine Interesselosigkeit, die mit dem Schwinden der „Zielgruppe“ in Zusammenhang stehen mag – durch die Entwicklung der pränatalen Diagnostik und die ethisch diskussionswürdige Möglichkeit einer Schwangerschaftsunterbrechung bis theoretisch knapp vor der Geburt, kommen kaum noch Babys mit Down-Syndrom auf die Welt.

Statistische Grauzone. Laut dem aktuellen statistischen Jahrbuch wurden in Österreich im Jahr 2005 elf Kinder mit Down-Syndrom geboren – ein Wert, der seit der Jahrtausendwende etwa konstant ist, seit den neunziger Jahren allerdings signifikant eingebrochen ist: 1997 wurden noch 17 Kinder mit Down-Syndrom geboren, 1993 waren es sogar 29. Aber selbst diese Zahlen halten Experten für wenig aussagekräftig. Wie der Gynäkologe Martin Häusler von der Grazer Universitätsklinik erklärt, beruft sich die Statistik nämlich allein auf Hebammenmeldungen: „Meistens wird aber erst nach weiteren Untersuchungen wirklich klar, dass es sich um Trisomie 21 handelt.“ Nach einer Studie von Eurocat, dem Europäischen „Dachverband der Fehlbildungsregister“, wurden von 2002 bis 2004 in Deutschland rund 60 Prozent der Schwangerschaften mit Trisomie-21-Kindern abgebrochen, in England knapp 50 Prozent, in Frankreich und der Schweiz sogar 86 Prozent der Gesamtfälle. Unter den pränatal diagnostizierten Down-Schwangerschaften liegt die Zahl noch deutlich höher. So auch in Österreich. Die Gynäkologin Elisabeth Krampl am AKH Wien schätzt, dass über 90 Prozent der Frauen mit einer positiven Diagnose abtreiben: „Die, für die ein Abbruch ohnehin nicht in Frage kommt, lassen in der Regel keine Fruchtwasseruntersuchung machen.“

So auch die heute 45-jährige Bettina Hering, die ihre mittlere, inzwischen elf-jährige Tochter Lotta erwartete und für die eine Abtreibung nie zur Debatte stand. Der pränatale Diagnostiker am AKH (Name der Redaktion bekannt) erklärte ihr nach den Ultraschalluntersuchungen, dass sie sich darauf einstellen müsse, ein nicht lebensfähiges Kind in die Welt zu setzen, weil die Lunge zu klein wäre. In dem Bewusstsein, dass ihre Tochter vielleicht nur ein paar Atemzüge tun könnte, brachte sie das Mädchen zur Welt. Doch Lotta war zwar ein Down-Syndrom-Baby, aber besaß eine völlig normale Organentwicklung. „Abgesehen von dieser Fehldiagnose macht mich das Fehlen von Sensibilität und Aufklärung seitens der Ärzte noch bis heute so zornig wie traurig“, sagt Bettina Hering, inzwischen Mutter von drei Töchtern, „denn inzwischen weiß ich, dass man Lottas organischen Zustand und das Down-Syndrom hätte erkennen müssen.“

Lotta absolviert gerade in einem rosa Ballettkostümchen ihren Tanzauftritt bei der Probe von „Teddy Schwarzohr“, einem musikalischen Märchen, das der Kulturverein „Ich bin o. k.“ einstudiert.

Hilfsarbeiterjobs. Die Psychologin Katalin Zanin stemmte die Initiative vor 28 Jahren im Alleingang und war mit ihrem Anliegen damals ziemlich allein. Zanin wird von ihren Schützlingen immer wieder zärtlich umarmt, erteilt ihnen aber auch schon einmal einen Schubser, wenn sie sich fallen lassen wollen. Der Mangel an weiterführender Ausbildung nach dem Schulabschluss ist für sie heute das gröbste Versäumnis seitens der Öffentlichkeit: „Down-Syndrom-Menschen sollen mit irgendwelchen Hilfsarbeiterjobs ruhig gestellt werden, dabei könnten sie viel mehr, wenn man sie nur ließe und gezielter förderte.“

Mike sitzt geduldig auf der Bühne. Er spielt den Titelhelden Teddy Schwarzohr. Seine junge Frau Clara, die eine Schneiderin darstellt, versucht, ein schwarzes Schlappohr an seinem roten Haarreifen zu befestigen. Es ist schwierig; Mike will ihr zur Hand gehen. Das mag Clara gar nicht, sie weist ihn in die Schranken und beendet das Unterfangen im Alleingang.

Meggi Brozek hat sich immer bemüht, ihren Sohn Mike sein „Besonderssein“ nicht als großen Schicksalsschlag empfinden zu lassen. Wenn sie auf der Straße Menschen mit Behinderungen begegneten, war sie fast erleichtert, weil ihr Sohn sah, dass da noch andere waren, die benachteiligt sind. Irgendwann lief ihnen ein zwergwüchsiger Mann über den Weg und Meggi fragte: „Mike, würdest du mit ihm tauschen wollen?“ Mike sah den Mann lange an und flüsterte ihr dann: „Na ja, Mama, nein. Ich möchte nicht böse sein, aber der ist ein bisschen sehr klein.“

Von Angelika Hager
Mitarbeit: Sebastian Hofer