Gnade vom Schweinesystem

Die RAF ist aber noch lange nicht Geschichte

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Die schwarz-weißen Zeitungsfotos aus den siebziger Jahren verströmen die Düsternis dieser Zeit: schwere Fahrzeuge, jäh zum Stehen gebracht. Auf der Straße die Leichen der Insassen, mit Tüchern bedeckt. Vermummte Sondereinsatzkommandos, die Gewehre im Anschlag. Verzerrte Gesichter gerade erst verhafteter Terroristen.
Es war die Zeit der „Rote Armee Fraktion“, kurz RAF, gegründet von einer Schar ultralinker Aktivisten, die sich selbst als Guerilla sahen und die Bundesrepublik Deutschland als „Schweinesystem“, einem zweiten Faschismus nahe. Sie wollten den „bewaffneten Kampf“ in die Metropolen tragen, im Namen der Weltrevolution und aller Unterdrückten der Erde eine „antiimperialistische Front im imperialistischen Zentrum“ eröffnen. Der Kampf währte drei Jahrzehnte. Er begann mit einer Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt 1968 und endete mit einer „Selbstauflösungserklärung“ 1998. Die RAF ermordete 34 Menschen. Aus der Revolution wurde nichts.

In der kollektiven Erinnerung spukt das RAF-Gespenst noch heute heftig. Schnell schlagen die Wogen der Empörung hoch, wenn es um die Freilassung der letzten Häftlinge aus jener Zeit geht. Anfang vergangener Woche etwa, als das Oberlandesgericht Stuttgart entschied, Brigitte Mohnhaupt, Führungsfigur der zweiten RAF-„Generation“, freizulassen. Es gebe, befanden die Richter, „keine Anhaltspunkte für eine fortdauernde Gefährlichkeit der Verurteilten“.
Eine Entscheidung nach Recht und Gesetz. Mohnhaupt, als „Rädelsführerin der RAF“ von eben jenem Oberlandesgericht 1985 zu „fünfmal lebenslang plus 15 Jahre“ verurteilt, hatte die „Mindestverbüßungsdauer“ ihrer Haft erreicht, die deutsche Gerichte für Lebenslängliche nach der Schwere ihrer Schuld festlegen können. 24 Jahre waren es im Fall Mohnhaupt. Damit war nur noch zu klären, ob noch Gefahr von ihr ausginge. Ende März wird Mohnhaupt aus der bayerischen Justizvollzugsanstalt Aichach entlassen.

Debatte. Schon Wochen zuvor diskutierte die deutsche Öffentlichkeit laut und heftig. Angehörige der Opfer und einige Politiker fanden es „unerträglich“, dass die mehrfache Mörderin bald frei sein könnte. Das sei „einfach nicht nachvollziehbar“, meinte Dirk Schleyer, Sohn des 1977 entführten und später erschossenen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Bayerns Noch-Ministerpräsident Edmund Stoiber protestierte wie sein designierter Nachfolger Günther Beckstein scharf. Hans-Ludwig Zachert, Exchef des Bundeskriminalamtes, warnte, die 57-jährige Mohnhaupt könne noch immer gefährlich sein. Das Boulevardblatt „Bild“ titelte: „Keine Gnade für RAF-Terroristen!“

„Ihre Opfer liegen unter Grabplatten aus grauem Granit. Sie sind für immer tot“, wandte sich „Bild“-Kolumnist Franz Josef Wagner direkt an die Exterroristin. „Sie dürfen in Freiheit Wind, Wolken, Regen und die Sonne sehen, während Ihre Ermordeten tief unter der Erde liegen.“ Nach einer TV-Runde über „Gnade für Gnadenlose“ votierten 91 Prozent der befragten Zuschauer für Härte.

Rache. Die Sache ist sehr sensibel. Und doch schienen die Stimmen zu überwiegen, die den Gerichtsbeschluss begrüßten. Juristen und Psychologen, Sozialdemokraten, Grüne und Freidemokraten argumentierten fast unisono, der Staat dürfe sich nicht mit seinen Gegnern auf eine Stufe stellen, nicht Rache üben. Die Entscheidung sei „nicht populär, aber sachgerecht“, befand auch Bundestagspräsident Norbert Lammert von der CDU. „Sie ist nicht die Hardlinerin, als die sie manchmal hingestellt wird“, meint Gefängnisdirektor Wolfgang Deuschl. „Ich kann aus meiner Sicht davon ausgehen, dass sie nicht mehr straffällig wird.“

Die größte Sorge: dass die befreite Exterroristin durch die Talkshows der Republik ziehen, allabendlich alte Wunden aufreißen und neue Legenden spinnen könnte. Man werde ihr das nicht verbieten können, meinte Klaus Kinkel (FDP), ehemaliger Justizminister, und setzte fast flehentlich hinzu: „Ich habe sie ja selber im Gefängnis damals besucht. Ich habe sie erlebt nach der Verurteilung. Ich hoffe sehr, dass sie das nicht tut und insbesondere auf die Gefühle der Angehörigen Rücksicht nimmt.“
Nichts hat die deutsche Bundesrepublik seit 1945 mehr aufgewühlt als die Kriegserklärung der meist aus besserem Hause stammenden RAF-Terroristen. Im „deutschen Herbst“ 1977, als die Morde und Entführungen Schlag auf Schlag kamen, gipfelnd im Hijacking einer Lufthansa-Maschine durch ein sympathisierendes palästinensisches Terrorkommando, schien der Staat am Rande des Notstands.

Das Trauma RAF ist nicht abgehakt. Außer Mohnhaupt sitzen noch Christian Klar, 54, Eva Haule, 52, und Birgit Hogefeld, 50, in Haft. Über zwei Dutzend „bewaffnete Kämpfer“ kamen ums Leben. Der Rest lebt in Freiheit. Die Ermittlungsakten füllen elf Millionen Seiten. Und doch sind viele Details bis heute mysteriös. Nach einer Täterin, Friederike Krabbe, wird noch immer gefahndet. Die Morde an Karl Heinz Beckurts (Siemens), Alfred Herrhausen (Deutsche Bank), Gerold von Braunmühl (Auswärtiges Amt) und Detlev Karsten Rohwedder (Treuhandanstalt), zwischen 1986 und 1991 begangen, gelten als nicht aufgeklärt. Nur zwei Täter aus der dritten „Generation“ der RAF wurden verurteilt.

Indizien.Im Grunde“, sagt der Politikwissenschafter Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung, „weiß man ja über die individuellen Tathergänge bislang unheimlich wenig.“ Die meisten RAF-Terroristen wurden eher pauschal verurteilt – wegen „Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung“. Bei den Prozessen, erläutert der langjährige RAF-Forscher, gab es „einige Indizien für die Beteiligung an einem Tatkomplex, aber nicht im Sinne eines individuellen Tatnachweises“.

Brigitte Mohnhaupt könnte vieles erhellen. In der bewegtesten RAF-Zeit galt sie als die neue Chefin, als „Generalbevollmächtigte“ von Andreas Baader, der die Kampftruppe einst zusammen mit der Journalistin Ulrike Meinhof gegründet hatte. Weshalb die RAF anfänglich gerne auch „Baader-Meinhof-Bande“ genannt wurde. Mohnhaupt gab sich schon in frühen Berliner Zeiten knallhart. Nachdem eine abtrünnige Helferin, die Informationen preisgegeben hatte, mit Teer übergossen worden war, erklärte Mohnhaupt: „Sie hat einen Eimer Teer über die Fresse gekriegt und ein Schild um den Hals.“

Flucht und Verhaftung. Erstmals verhaftet wurde die Studentin 1972. Wegen Urkundenfälschung, unerlaubten Waffenbesitzes und anderer Delikte bekam sie vier Jahre und acht Monate Haft. Bald gehörte Mohnhaupt zum „Infosystem“ der RAF-Häftlinge, dem engsten Zirkel, der die künftige Kampfstrategie debattierte. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim wurde sie von der ersten Garde instruiert.

Kein Zufall war es, dass unmittelbar nach Mohnhaupts Freilassung die „Offensive 77“ begann. Das Ziel: die Freipressung der RAF-Gefangenen. Generalbundesanwalt Siegfried Buback wurde ermordet, Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto ebenso, dann Hanns-Martin Schleyer. Bei Ponto standen Mohnhaupt und RAF-Genosse Christian Klar mit einem Blumenstrauß an der Tür.

Später floh Mohnhaupt nach Bagdad und Paris, 1978 wurde sie in Jugoslawien geschnappt. Als die Bundesregierung keine Exilkroaten im Tausch ausliefern wollte, ließ Jugoslawien Mohnhaupt und die Mitgefangenen Sieglinde Hofmann, Rolf Clemes Wagner und Peter-Jürgen Boock ins südjemenitische Aden ausfliegen. Später kehrte Mohnhaupt nach Deutschland zurück, 1981 beteiligte sie sich am gescheiterten Attentat auf den amerikanischen General Frederick Kroesen.

Erst im Jahr darauf wird sie festgenommen – im Rahmen der „Aktion Eichhörnchen“. Die Fahnder hatten in ganz Deutschland achtzehn Depots der RAF ausgehoben, gefüllt mit Ausweisdokumenten, Geld und Waffen. 2000 Beamte observierten die Lager rund um die Uhr. Mohnhaupt wurde bei einem Versteck in Heusenstamm bei Frankfurt aufgegriffen. Fünf Tage später wurde Christian Klar im Sachsenwald östlich von Hamburg geschnappt.

Die Unerbittliche. Noch in der Haft gab Mohnhaupt lange die Unerbittliche. Als im Oktober 1993 die RAF-Häftlinge Karl-Heinz Dellwo, Lutz Taufer und Knut Folkerts, seit 15 Jahren in Celle im Gefängnis, offenbar mit Einverständnis der letzten Aktiven einen Deal mit den Behörden machen wollten (die RAF gibt auf – dafür kommen die langjährigen Gefangenen frei), war Mohnhaupt entsetzt ob des Verrats. „Der Inhalt der Beziehung ist zerstört, eine andere Entscheidung als die Trennung nicht mehr möglich“, erklärte sie und empörte sich, „dass unser Leben und unser Kampf hinter unserem Rücken abgewickelt werden sollen“. Mit Spannung wird erwartet, ob und wie sich Brigitte Mohnhaupt nach ihrer Haftentlassung äußert.
Die aktuelle deutsche Debatte gewinnt noch dadurch an Brisanz, dass auch ihr Mittäter Christian Klar seine Freilassung betreibt. Seit bald einem Vierteljahrhundert sitzt er in der Vollzugsanstalt Bruchsal ein. Anders als bei Mohnhaupt endet seine Mindesthaftzeit erst am 3. Jänner 2009. Weshalb er bei Bundespräsident Horst Köhler (CDU) um Gnade gebeten hat. Dem deutschen Bundespräsidenten ist es möglich, über derartige Gesuche völlig frei zu entscheiden.

Schon Köhlers Amtsvorgänger Johannes Rau hatte 2003 Post von Klar bekommen. „Selbstverständlich muss ich eine Schuld anerkennen“, schrieb der Häftling damals. „Ich verstehe die Gefühle der Opfer und bedauere das Leid dieser Menschen.“ Rau befand die Angelegenheit als nicht entscheidungsreif. Womöglich war ihm die Anerkennung „einer Schuld“ auch ein bisschen zu dürftig.
Was Klar an Köhler geschrieben hat, soll vertraulich bleiben. Sein Mandant wolle sich nicht an der öffentlichen Diskussion beteiligen, erklärte Anwalt Heinz-Jürgen Schneider. Immerhin hat Klar im Falle einer Entlassung schon einen Job in Aussicht – als Bühnentechniker an Claus Peymanns Berliner Ensemble.

Tatsächlich haben deutsche Bundespräsidenten – Richard von Weizsäcker, Roman Herzog und auch Johannes Rau – seit 1989 mehrere RAF-Häftlinge begnadigt. Etwa den OPEC-Attentäter Hans-Joachim Klein, den Schleyer-Mittäter Rolf Clemens Wagner, auch Helmut Pohl, Adelheid Schulz und andere. In der Regel geschah dies nach langer Haft, oft aus Krankheitsgründen. Viele Häftlinge distanzierten sich von ihren Taten.
Bislang hat kein Exterrorist der RAF nach langer Haft den bewaffneten Kampf wieder aufgenommen. Sie haben sich, zum Teil unter geändertem Namen, integriert. Eine arbeitet als Lehrerin, ein anderer hat ein Café eröffnet. Peter-Jürgen Boock hat viel über die RAF-Zeit geschrieben. Silke Maier-Witt setzte ihr Psychologiestudium fort und ging als Friedensaktivistin in den Kosovo – wofür sie eine Empfehlung des damaligen Generalbundesanwalts in der Tasche hatte. Karl-Heinz Dellwo gründete eine Dokumentarfilmagentur. Christof Wackernagel arbeitet wieder als Schauspieler.

Muss auch Christian Klar Reue zeigen, bevor er auf freien Fuß kommen kann? Das Thema ist heiß umstritten. Konservative drängen auf eine deutliche Distanzierung. Manche sagen: Lasst ihn schmoren. FDP-Chef Guido Westerwelle fordert: „Keine Gnade ohne Reue.“ Der Freiburger Kriminologe Helmut Kury, der ein 130-Seiten-Gutachten über Klar verfertigt hat, beschreibt ihn als offen und kooperativ: Klar habe der Gewalt abgeschworen. Die Grüne Antje Vollmer verlangt einen Schlussstrich.

Dass die RAF noch Wirkung entfalten kann, scheint höchst unwahrscheinlich. Der Mythos, meint RAF-Forscher Kraushaar, sei „längst abgekühlt“. Es gäbe ihn allenfalls noch als „popkulturelle Adaption“. Manche Jugendliche finden es cool, sich das RAF-Symbol – einen fünfzackigen Stern mit Maschinenpistole – aufs T-Shirt zu drucken.
Spötter nennen das „Prada Meinhof“.

Von Tom Schimmeck