USA: Gott und Apfelkuchen

Gott und Apfelkuchen: Der Aufstand der schweigenden Mehrheit hat stattgefunden

Präsident Bush hat nun freie Bahn

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Als er am vergangenen Mittwoch aus seiner schwarzen Limousine stieg, die paar Stufen hinaufging zum Podium für seine erste Ansprache an die Nation, hatte er den Fluch abgeschüttelt. 48 Stunden zuvor war George W. Bush noch ein Präsident mit Vorbehalt gewesen; ein Präsident, der ohne eindeutiges Mandat des Volkes sein Amt übernommen hatte; den keine Mehrheit je gewählt hatte; der einen bizarren demokratischen Betriebsunfall und willfährige Richter brauchte, um an die Macht zu kommen. Einer, der ebensogut als Irrtum in die Geschichte hätte eingehen können.

Nun, oben auf den Stufen, war er immer noch der Präsident, doch alles war anders. 59 Millionen Menschen hatten George W. Bush gewählt. Das war in absoluten Zahlen mehr, als ein amerikanischer Präsident je auf sich hatte vereinen können, und um stolze 3,5 Millionen mehr als sein Gegner. Erstmals seit George Bush sen. 1988 hatte ein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen gewonnen. Doch anders als sein Vater hatte George W. auch die Wiederwahl geschafft.

Nein, das war kein Irrtum mehr, kein Betriebsunfall. Das war Absicht. „Amerika hat gesprochen“, sagte George W. Bush, und er hatte Recht. Mit dieser Gewissheit im Rücken kann man gut großzügig sein: John Kerry sei ein „engagierter Gegner“ gewesen, erklärte der Präsident jovial, aber „ich bin stolz, dieses Land zu führen, und ich werde es noch weiter nach vorne führen“.

Es wird ihm dabei nicht mehr viel im Weg stehen.

24 Stunden zuvor, als die ersten Ergebnisse aus den Wahllokalen die Runde machten, hatte vielleicht nicht einmal er selbst mehr daran geglaubt, seine konservative Umkrempelung des Landes zu Ende führen zu können. Schon in den frühen Morgenstunden, bevor die Leute zur Arbeit gingen, formierten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen. In Ohio harrten die Menschen geduldig im strömenden Regen aus, manchmal sieben, acht Stunden lang. Es sah aus wie ein zivilisierter, aber umso entschlossenerer Aufstand des Volkes gegen ihre irregeleitete Führung. Denn wieso sollten Menschen derartige Mühe auf sich nehmen, bloß um noch vier Jahre lang mehr vom selben zu kriegen?

Je mehr Menschen wählen, desto besser für den Herausforderer, lautet die alte Faustregel. Sie wurde begierig aufgegriffen in den Metropolen der Ost- und Westküste, tausendfach multipliziert im Internet, und der fortschrittliche Teil Amerikas vibrierte in Erwartung des Machtwechsels.

Doch diesmal sollte die Faustregel nicht gelten, und das Erwachen der Demokraten war fürchterlich. Sie hatten um ihre eigene Leidenschaft gewusst. Doch sie hatten die Leidenschaft des Gegners unterschätzt. „Das wichtigste Gefühl an diesem Wahltag war die tief empfundene Verachtung für den Gegner“, schreibt das Magazin „Newsweek“. Für jeden Wähler, den die Demokraten mit diesem Gefühl im Bauch zu den Urnen zerrten, kam auch einer von der Gegenseite – oder sogar zwei.

Diesmal gibt es nichts und niemanden mehr, gegen den man seinen Zorn richten könnte: Die Wahlmaschinen haben funktioniert, die Gerichte haben sich kaum eingemischt, auch Ralph Nader war diesmal nicht schuld. Die Demokraten wissen, dass sie alles gegeben haben: Die Basis war euphorisch, Millionen neue Wähler konnten geworben werben. Das Spendenaufkommen war gewaltig – niemals in der Geschichte wurden so viele Kleinbeträge von Bürgern gesammelt. Hunderttausende freiwillige Helfer waren Tag und Nacht unterwegs. Ihr Kandidat war so gut, wie ein liberaler Kandidat eben sein kann, und er hatte bis zur Heiserkeit geredet.

Verstörung. Bis die Erkenntnis sickerte, so simpel wie niederschmetternd: Die schweigende Mehrheit dort draußen gehört nicht zu uns. Die schweigende Mehrheit dort draußen hat anderes im Sinn – und das liberale Amerika ist kleiner, als die meisten vermutet hatten. „Warum war ich derart verstört, als ich aufwachte?“, fragt sich etwa Thomas Friedman in der „New York Times“. „Weil diese Leute, die für George Bush gestimmt haben, nicht bloß eine andere Art von Politik wollen als ich. Sie wollen eine andere Art Amerika.“

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Verstörung liegt in jenem Land, das die Bewohner der Küstenmetropolen gern verächtlich „Fly-Over-Country“ nennen. Dort, in den Kleinstädten der weiten Ebenen, muss sich in den vergangenen Jahren ein Ressentiment aufgestaut haben, das alle Experten in seiner politischen Brisanz zu wenig wahrgenommen haben: eine tiefe, leidenschaftliche Sehnsucht nach Ordnung, nach „Gott, Mutterfreuden und Apfelkuchen“, wie es der Historiker Timothy Garton Ash nennt.

Die Angst – vor Terror, Krieg, wirtschaftlicher Unsicherheit – paart sich dort mit dem Hass auf die liberalen Eliten, die im Fernsehen, in Hollywood, in den Universitäten, in der Popkultur den Ton angeben und das Land angeblich auf die schiefe Bahn der sittlichen Verlotterung führen. „Es gibt eine Subkultur dort draußen, die wir alle unterschätzt haben“, sagt CNN-Experte Bill Schneider, „eine Subkultur, in der es tiefe Erschütterungen hinterlässt, wenn Janet Jackson ihre Brust entblößt.“

Die Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Wahlmotiv stieß denn auch alle Meinungsforscher vor den Kopf. Der Kampf gegen den Terror war 17 Prozent der Wähler am wichtigsten. Die Wirtschaftslage war für 20 Prozent entscheidend. Doch auf Platz eins, mit 22 Prozent, landete ein so vages wie allumfassendes Motiv: „moralische Werte“. Und zu 80 Prozent fühlten sich diese Menschen bei George W. Bush zu Hause.

Der republikanische Gouverneur von Nebraska, Mike Johanns, kann das erklären. „Dort, wo ich herkomme, wollen die Menschen hören, wie sehr George W. Bush seine Frau Laura liebt“, sagt er. „Jedes Mal, wenn Kerry auftrat, war ein Filmstar oder ein Popsänger dabei. Bush hingegen spricht über Familie und Gott. Er hat mit den Menschen mehr gemeinsam, als ein Gouverneur aus Massachussetts je haben kann.“

Thomas Frank, Autor des viel zitierten Buches „What’s the Matter with Kansas?“, erklärt das Phänomen soziologisch: „Es hat eine ideologische Verschiebung stattgefunden, was die Klassen betrifft. Mit ,Werten‘ und ,Familie‘ haben die Republikaner einen Weg gefunden, zur Arbeiterklasse zu sprechen, die sie früher nie erreicht haben. Heute ist diese Schicht sozial konservativ, und das demokratische Establishment hat die Verbindung zu ihnen verloren.“

Moralisch rechter Weg. Nur so sind die Paradoxa zu erklären, die für eine Nation im Kriegszustand bisweilen frivol anmuten: Eine solide Mehrheit aller Amerikaner meint, der Irak-Krieg laufe falsch. Im bitter umkämpften Ohio, wo in den vergangenen vier Jahren eine Viertelmillion Jobs verloren gingen, halten 61 Prozent die wirtschaftlichen Perspektiven für „nicht gut“. Doch existenziell wichtiger war den Menschen ebendort offenbar die Angst, das gleichgeschlechtliche Paar im Nachbarhaus könnte womöglich seine Partnerschaft legalisieren. In elf Staaten, darunter den wichtigen Swing States Ohio und Colorado, wurde über Verfassungszusätze zum „Schutz der Heirat als Verbindung zwischen Mann und Frau“ abgestimmt – mit dem erwartbaren, überwältigend zustimmenden Ergebnis. Es sah aus, als wolle man alle Zukunftsängste bannen und sich sogar gegen Osama bin Laden immunisieren, indem man wieder Pflöcke einschlägt, um den moralisch rechten Weg zu markieren.

31 Prozent der amerikanischen Wähler bezeichnen sich heute als evangelikale Christen. Sie waren die Kerngruppe, auf die Bushs genialer Wahlstratege Karl Rove alle seine Hoffnungen und Bemühungen konzentrierte – mit dem Risiko, die liberale Bevölkerungshälfte auf Dauer zu erzürnen und zu entfremden. Die Rechnung ging auf – und mit dem Zorn der anderen lässt es sich leben, solange man selbst die Mehrheit hat.

Die religiöse Rechte verlor denn auch keine Sekunde, um den Präsidenten auf seine Verpflichtung einzuschwören. „Wir haben den Unterschied ausgemacht“, sagt Roberta Combs, Chefin der „Christian Coalition“, selbstbewusst. „Der schlafende Riese ist geweckt, und er wird sich weigern, sich von säkularen Fundamentalisten wieder einschüchtern zu lassen.“

Es gibt wenig Gründe, anzunehmen, dass George Bush diese Hoffnungen enttäuscht. Er hat in der ersten Amtszeit, ohne klaren Wählerauftrag, eine rechts-religiöse Agenda durchgezogen. Was sollte ihn daran hindern, dasselbe – mit der deutlichen Legitimation durch die „moralische Mehrheit“ – fortzuführen?

In seiner ersten Rede sagte der Präsident, was alle Präsidenten sagen müssen: dass er die Hand ausstreckt auf die andere Seite; dass „ich hart arbeiten werde, um mir das Vertrauen aller Amerikaner zu verdienen, auch jener, die mich nicht gewählt haben“. Doch es dauerte nur 24 Stunden, bis er klarer wurde: „Ich habe mit dieser Wahl politisches Kapital verdient, und ich habe vor, es auch auszugeben – für alles, was ich versprochen habe. Das ist mein Stil. Ich will Resultate sehen.“ Das wird bedeuten: Die Steuersenkungen für die Reichen werden festgeschrieben. Die Pensionsversicherung soll privatisiert und in Aktienfonds umgeschichtet werden, auf dem Weg zu einer „Gesellschaft der Eigentümer“, wie sie Bush vorschwebt. Im Sozial- und Bildungsbereich werden die Schleusen für religiöse Initiativen geöffnet. Und im Obersten Gerichtshof wird Bush mehrere neue Richter nach seinem Geschmack ernennen können – mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen.

Den devastierten Demokraten wird nicht mehr übrig bleiben, als vom Spielfeldrand aus zuzuschauen. Sie haben am 2. November nicht nur eine Präsidentenwahl verloren, sondern auch andere wichtige Bastionen: Im Repräsentantenhaus haben sie acht Sitze eingebüßt, im Senat fünf; die Republikaner haben damit wieder komfortable Mehrheiten in allen Häusern. Tom Daschle, der demokratische Fraktionsführer und ein politischer Fixstern seit zehn Jahren, verlor seinen Senatorensitz für South Dakota. In den Südstaaten haben die einst staatstragenden Demokraten sämtliche ihrer Senatoren-Rennen verloren.

Kulturkampf. Das alles ist nicht bloß eine Frage der Wahlarithmetik, sondern der kulturellen Hegemonie. Die neu eingefärbte Landkarte verrät das auf den ersten Blick: Im Süden, im Westen, im Zentrum des Landes leuchtet alles rot, in der Farbe der Republikaner. Die ideologischen Reihen hier haben sich geschlossen, und die Sieger halten mit ihren Überzeugungen nicht hinterm Berg. Tom Coburn, der neue Senator für Oklahoma, wittert „grassierenden Lesbianismus“ in den Schulen und fordert die Todesstrafe für Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Jim DeMint, neuer Senator für North Carolina, hält es für falsch, dass schwule Lehrer an öffentlichen Schulen unterrichten dürfen – und relativierte diese Ansage mit der Erklärung, er meine „dasselbe ja auch für Lehrerinnen, die unverheiratet schwanger werden“. John Thune, Nachfolger von Tom Daschle in South Dakota, kämpft für einen Verfassungszusatz, der das Verbrennen der amerikanischen Fahne unter Strafe stellt.

Das Dilemma für die Demokraten ist existenziell – und es ist nach dieser Wahl so deutlich geworden wie noch nie: Sie leben in gut befestigten Reservaten in den Metropolen, aber sie reichen in das traditionsbewusste Zentrum Amerikas, das „Heartland“, nicht mehr hinein. Im besseren Fall werden sie mit ihrem intellektuellen, argumentativen Habitus dort nicht verstanden und als Aliens wahrgenommen; im schlechteren werden sie gehasst.

„Sie haben das weite Feld der Werte völlig den Republikanern überlassen“, sagt David Gergen, der sowohl Ronald Reagan als auch Bill Clinton beraten hat. „Sie müssen sich dringend etwas einfallen lassen, wenn sie langfristig wieder mehrheitsfähig werden wollen.“ Bob Graham, Senator für Florida, stimmt ihm zu: „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Werte-Debatte über ,god, guns and gays‘ (Gott, Waffen und Schwule) hinausführen – in Richtung Toleranz, Mitgefühl, Liebe.“

Es ist kein Zufall, dass es seit John F. Kennedy im Jahr 1960 nur Demokraten aus den Südstaaten geschafft haben, mehrheitsfähig zu werden. Jimmy Carter stammte aus Georgia, Bill Clinton aus Arkansas, Al Gore aus Alabama. „Diese Leute kommen aus einer konservativen Umgebung und haben gelernt, wie man mit Konservativen spricht, ohne dass diese sich bedroht fühlen“, sagt der Historiker Michael Beschloss. „Solche Dinge sind schwer zu lernen, wenn man an der Ostküste aufgewachsen ist.“ Alle drei trugen ihren Glauben an Gott auf der Zunge, ohne sich, wie John Kerry, dabei sichtlich anstrengen zu müssen. Und die bittere Lehre aus dieser Wahl ist: Ohne Gott und Gefühl ist das Mainstream-Amerika in absehbarer Zukunft nicht zurückzugewinnen.

Diese Neuorientierung wird der demokratischen Partei umso schwerer fallen, als ihre institutionelle Basis allmählich zerbröselt. Dass der Einfluss der Gewerkschaften seit Jahrzehnten schwindet, ist ein unaufhaltsamer Prozess. George W. Bush wird das seine dazu beitragen, ihn zu beschleunigen: Die öffentliche Verwaltung, im Vergleich zu europäischen Ländern ohnehin verschwindend klein, wird weiter schrumpfen, die öffentlichen Schulen zugunsten der Privaten weiter zurückgedrängt. Die wichtigsten Geldgeber der Demokraten, die Anwälte, hat sich Bush ganz gezielt vorgenommen: Eines seiner Wahlversprechen ist eine Strafrechtsreform, welche die grassierenden Schadenersatzprozesse und Sammelklagen einschränken soll – womit den Anwälten viel Geld verloren gehen wird. Und die zahllosen Privatvereine, die in den vergangenen Monaten die demokratische Basisarbeit besorgt haben – Organisationen wie MoveOn oder ACT, gesponsert von Privatleuten wie dem Milliardär George Soros –, sind am Ende dieser Wahlschlacht erschöpft und frustriert.

Abgang. John Kerry, der Gescheiterte, ist mit Würde von der Bühne abgetreten – er wird weiterhin Senator von Massachussetts sein, wo seit sechs Monaten die Schwulenehe erlaubt ist, ohne dass dort die Welt untergegangen wäre. Er hat George W. Bush gratuliert, vor der Gefahr einer „tiefen Spaltung des Landes“ gewarnt und angeboten, dabei zu helfen, das Land zu einen.

George Bush hat das freundlich zur Kenntnis genommen, doch er wird auf dieses Angebot nicht angewiesen sein. Die beiden mochten einander nie, und sie werden einander nun, da sie nicht mehr miteinander debattieren müssen, nicht mehr viel zu sagen haben.

Fly-Over-Country feiert und betet – wie bisher schon unter weit gehendem Ausschluss der medialen Öffentlichkeit. An der Ostküste hingegen ist in den Tagen nach dem bösen Erwachen der Himmel verhangen und dunkel. Es regnet in Strömen. Bei Elisabeth Edwards, der Ehefrau des demokratischen Vizepräsidentschaftskandidaten, wurde am Wahltag Krebs diagnostiziert. Und die Hälfte der Wähler fürchtet sich vor den nächsten vier Jahren.