Gratis kostet extra

Gratis kostet extra: Die neuen Regeln der internationalen Pop-Industrie

Debatte. Die neuen Regeln der internationalen Pop-Industrie

Drucken

Schriftgröße

Das große neue Ding muss immer sein. Das ist das atemlose Wesen des Pop. In seinem Mutterland Großbritannien verkürzen sich die Musikmedien daher auch heuer wieder die Nachweihnachtsflaute mit überschwänglichen Prophezeiungen. "Es scheint noch mehr Neues als gewöhnlich zu geben“, schreibt etwa die Popkritikerin Kitty Empire in ihrer Jahresvorschau für die Tageszeitung "Guardian“. "Ich habe versucht zusammenzuzählen, wie viele Acts für 2011 als umwälzend angepriesen werden. Bei 86 habe ich aufgehört.“

Erstaunlicherweise zieht Empire aus dieser inflationären Beliebigkeit nicht den naheliegenden Schluss: Das einzig wirklich Neue an der Popmusik ist ihre aktuelle Unfähigkeit, zwingend Neues zu produzieren. Nichts illustriert dieses Dilemma besser als die Bilanz des "Übergangsjahres“ 2010. Das meistverkaufte britische Album war die auf den Nostalgiemarkt der über 30-Jährigen zielende Comeback-Platte von Take That, gefolgt von dem Entertainer Michael Bublé. Auf Platz drei landete die seit ihrem Erscheinen vor zwei Jahren endlos gemolkene Cash Cow "The Fame“ von Lady Gaga. Es ist bezeichnend, dass dieses Charts-Relikt neben vergleichsweise neuen Bestsellern wie dem als Soul-Crooner neugeborenen Rapper Plan B oder den liebenswerten Neo-Folk-Poppern Mumford & Sons alles andere als gestrig wirkt.

Im britischen Mainstream herrscht kreativer Stillstand, selbst von den noch vor ein paar Jahren gefeierten Innovationsschüben im R&B-lastigen Pop ist nicht mehr viel zu spüren. In den von der breiteren Öffentlichkeit isolierten Independent-Kanälen wimmelt es zwar von respektablen Produktionen, aber auch dort fehlt jede Spur eines tatsächlich mitreißenden Hypes, geschweige denn einer genuinen, zielgerichteten Bewegung. Die in der Branche gern als Barometer verwendete Newcomer-Liste der BBC enthält keinen einzigen Act, der nicht schon vor fünf Jahren - im Fall der jüngsten Gitarren-Band-Hoffnung The Vaccines sogar vor 35 Jahren - genau so klingen hätte können.

Mit postmoderner Vielfalt und dem naturgemäß immer schwerer zu erfüllenden Innovationsanspruch allein lässt sich dies längst nicht mehr erklären. Schließlich leben wir in einer Zeit radikaler politischer Veränderungen, inmitten von Kriegen und Finanzkrisen, von denen im Output an zeitgenössischer Popmusik aber (insbesondere auch auf textlicher Ebene) praktisch nichts zu merken ist - und das, obwohl die kommerzielle Vermarktung jugendlicher Rebellion und Entfremdung stets ein Kerngeschäft der Pop-Branche war. Gerade in Großbritannien, wo sich eine zornige Studentenbewegung gegen den Sparkurs der Regierung formiert hat, mangelt es an zeitgenössischen Pendants zum "Street Fighting Man“ der Stones, der "Anarchy in the UK“ der Sex Pistols oder der oppositionellen Agit-Pop-Welle der thatcheristischen achtziger Jahre.

Die große britische Pop-Hymne des letzten Jahres war stattdessen der Song "Pass Out“ von Tinie Tempah - ein hedonistisches Hohelied aufs Saufen bis zur Bewusstlosigkeit, gepfeffert mit Markenreferenzen auf Autos und Uhren. Der gewollt "kontroversielle“ Koma-Trink-Refrain ("Wir können das tun, bis wir umfallen“) brauchte im Soundtrack zur Fernsehwerbung für das Computerspiel "Assassin’s Creed - Brotherhood“ gar nicht erst vorzukommen, um als klandestiner Coolness-Faktor in den Ohren des Zielpublikums mitzuschwingen.

Niemand würde Tinie Tempah deshalb des Ausverkaufs bezichtigen. Die Lizenzierung so genannter Synchronisationsrechte - der Sync-Deal - ist eine alltägliche Einnahmequelle des digitalen Zeitalters geworden. Wer etwa auf YouTube den durch eine iPad-Werbung bekannt gewordenen Track "Never Stop“ des Kanadiers Chilly Gonzales hört, wird unter den Kommentaren folgende frei von der Seele getippte Botschaft eines Users namens bigpimpdaddy69 finden: "Apple hat die beste Marketingabteilung in der Geschichte aller Marketings. Das Genie, das diese großartigen Künstler sucht, findet und herauspickt, verdient eine Medaille. Steve Jobs und Apple sind Arschlöcher, aber sie kennen verdammt gute Musik.“

Die Marketingabteilungen der mächtigen Marken fungieren inzwischen gleichzeitig als DJs und als Vorhut der Musikindustrie. Wer hätte ohne die Werbung für den "Flowers“-Duft von Kenzo "The Wanderer“ vom französischen Songwriter Jil Is Lucky gehört? Oder "Chugjug“ von der obskuren amerikanischen Indie-Band Family of the Year, den offiziellen Soundtrack zum amerikanischen Schmerzmittel Advil? Oder Roc C’s "Don’t Stop“, das die rauen urbanen Beats zum tangotanzenden Pärchen aus der Volkswagen-Werbung beisteuert?

Die Verwendung unveröffentlichter oder obskurer Musik als Werbe-Soundtracks rechnet sich nicht bloß, weil sie sich längst weit billiger lizenzieren lässt als die von den Levi’s-Werbungen der Achtziger verwendeten Pop-Klassiker: Wenn ein erst durch die Werbung popularisierter Song einmal seinen Weg ins Radioprogramm gefunden hat, bleibt er untrennbar mit dem beworbenen Produkt verbunden.

Der kanadische Songschreiber und Arrangeur Owen Pallett will darin nichts Falsches sehen. Er verkauft seine Songs an alle möglichen Kampagnen, unter anderem an die eines italienischen Mobiltelefonnetzwerks: "In diesem Fall war ich zwar politisch dagegen, aber ich habe das Geld gebraucht.“ In den frühen Nullerjahren, meint Pallett, habe das Geschmacksdiktat von Musik-Websites wie Pitchfork.com darüber entschieden, "welche Bands Geld machen und welche hungern“. Diese Websites hätten sich an den Geschmack des Stammpublikums angebiedert, um ihren eigenen Werbeeinnahmen zuliebe hohe Click-Raten zu erzielen. "Eine Marketingkampagne sucht dagegen Songs, die innerhalb von 30 Sekunden einen unverwechselbaren Eindruck erzeugen. Für mich ist das die interessantere Art, zu entscheiden, wer überlebt und wer nicht.“

Owen Pallett verkauft Sync-Rechte, um mit den Erlösen eigenwillige Konzeptalben wie das letztjährige "Heartland“ zu produzieren. Im Fall von Glyn M Owens "Zyg-e-dy Zig-y-dac“ aus der Reebok-Turnschuh-Werbung hat man sich dagegen um eine reguläre Veröffentlichung gar nicht erst bemüht. Die Verbreitung der für jeden neuen Clip eigens hergestellten Remixe ergab sich via Filesharing-Sites sowieso von selbst. Auch erfolgreiche Bands wie die Ting Tings oder Basement Jaxx haben ebenfalls für große Sportmode- und Automarken exklusive Remixe produziert. Als logische Konsequenz vollzieht sich damit der Schritt von der Finanzierung einer Produktion, die künstlerisch immer noch für sich selbst steht, zur bewussten Herstellung von Gebrauchsmusik.

Bei den TV-Werbern besonders beliebt und entsprechend gern geliefert wird etwa die Geborgenheit vermittelnde Kombination engelsgleicher Frauenstimmen und naiv geklopfter Klavierakkorde - von Ellie Gouldings Version von Elton Johns "Your Song“ (für das englische Kaufhaus John Lewis) über Fredrika Stahls Kinderlied-Interpretation "Twinkle Twinkle Little Star“ (für Nissan) bis zu Annie Littles enervierendem "Fly Me Away“ (für den Kindle-Reader).

Natürlich ist dieses Phänomen keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, man erinnere sich nur an David Dundas’ Hit "Jeans On“ anno 1974, der als Werbesong für die englische Marke Brutus Jeans geschrieben wurde. Der Unterschied ist, dass Sync-Rechte mittlerweile zu einer zwingenden Voraussetzung für die Finanzierung einer Pop-Karriere geworden sind. Wie sich zeigt, hat das Publikum mit seiner Entscheidung, für Musik nicht mehr zu bezahlen, einen faustischen Pakt geschlossen.

Die böse alte Musikindustrie war vielleicht ein Monster der Profitsucht, aber ihre Kunden waren immer noch die Pop-Liebhaber selbst, nicht Leute, die ihnen etwas andrehen wollten. Der junge Elvis, Bob Dylan, Leonard Cohen oder John Lennon, Ian Curtis und Kurt Cobain - sie alle hätten als hauptberufliche Werbeträger jene inhaltliche Integrität nicht beanspruchen können, die ihren Songs gesellschaftliche Bedeutung verlieh.

Das augenfällige Fehlen einer eigenständigen Vision unter den von einer bestens synchronisierten Musik/Marketing-Maschinerie gepushten Zukunftsträgern ist ein Symptom der neuen Musikökonomie. Ein hoher Preis für die viele Gratismusik.