Graz 2003

Graz 2003 - Kulturpolitik: Darf alles?

Kulturpolitik: Darf alles?

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Lokaltermin in der Kulturhauptstadt Graz am Mittwoch vergangener Woche um 10.45 Uhr. Mithilfe eines Krans wurde die letzte der insgesamt 1280 gekrümmten Acrylplatten montiert, die die Außenhaut des neuen Kunsthauses an der Mur bilden. Der Bürgermeister hatte ein paar stolze Worte über die Einzigartigkeit des Baus parat. Der eilig herbeizitierte künstlerische Leiter, Peter Pakesch, erwähnte die Herausforderung, in diesem Haus Ausstellungen zu gestalten, anschließend wurden den heimischen Medienvertretern routinemäßig Sekt und Häppchen gereicht.

Am Wochenende war es dann so weit: 12.000 Menschen wurden in kleinen Gruppen durch das dunkle Gebäude geschleust, Klang- und Lichtspiele sollten das Haus „eintönen“. Die Zählkarten waren im Nu weg gewesen. In Betrieb ist das Kunsthaus aber deshalb noch lange nicht. Die erste Ausstellung eröffnet am 25. Oktober, gut einen Monat, bevor am 30. November das Dauerhappening „Graz 2003“ zu Ende geht.

Erregungsspezialisten. Für die eigenwillige bauliche Konstruktion des Kunsthauses wurde in Graz immer wieder der Vergleich mit dem Münchner Olympiastadion gesucht; so ist es kein Wunder, dass Kritiker angesichts der späten Fertigstellung die Frage stellen, was gewesen wäre, wenn das Stadion in München erst mit der Schlussveranstaltung der Olympischen Spiele 1972 eröffnet worden wäre.

Solche Vergleiche schmettert Peter Pakesch ab. Die durch politische Querelen, Finanzierungsprobleme und technische Pannen immer wieder verschobene Eröffnung sei ein dramaturgischer Glücksfall, ein ungeplanter PR-Effekt, da dem Haus jetzt erst jene Aufmerksamkeit geschenkt werde, die es im Trubel der Anfangsveranstaltungen nie bekommen hätte.

Tatsächlich sind die Graz-2003-Macher rund um den Medienprofi Wolfgang Lorenz Meister der Aufmerksamkeitserregung, die am Wochenende auch selbstgefällig mit einer Zwischenerfolgsbilanz von zehntausend Medienberichten aufwarteten. Die Erregung setzte lange vor der Eröffnung mit Diskussionen um die Murinsel des US-Künstlers Vito Acconci ein, die Lorenz mit viel Gespür für spektakuläre Publikumserfolge gegen heftige politische Widerstände durchsetzte. Als das Unternehmen Graz 2003 schließlich startete, war die Bevölkerung schon so hypnotisiert, dass sie sich in einer klirrend kalten Jännernacht zu zehntausenden durch die Stadt drängte, um das Eröffnungsfeuerwerk zu sehen.

Als gelernter Grazer in Wien kennt Lorenz auch die psychische Befindlichkeit der Einwohner der steirischen Kapitale, der zweitgrößten Stadt Österreichs: Man sei hier begierig, sich mit sich selbst zu beschäftigen, dankbar für Aufmerksamkeit und – wie eine Vertreterin der Grazer Off-Szene meint – zu klein, um kritisches Potenzial gegen Megaveranstaltungen zu entwickeln. Die Werbesprüche „Graz darf alles. Nur nicht übersehen werden“ und „Willkommen in Wien, dem schönsten Vorort von Graz“ spielten gekonnt mit dieser Befindlichkeit. Die Verankerung der „Kulturhauptstadt“ in der Grazer Bevölkerung war das eine, die Wirkung nach außen das andere. Mit Berichten von hundert TV-Stationen sei Graz, so die Bilanz der Graz 2003 GmbH, „europaauffällig“ geworden.

Wolfgang Lorenz steht voll zum Prinzip Hype als Voraussetzung für den Erfolg. Er dekretierte im Voraus, dass ein Drittel seines Budgets – 57 Millionen Euro, bereitgestellt von privaten Sponsoren (sieben Millionen), Stadt Graz (18,3 Millionen) sowie Land und Bund (gemeinsam rund 32 Millionen) – in Werbemaßnahmen zu fließen habe.

Von den Big Players der Grazer Kulturszene wird das Konzept der Kulturhauptstadt naturgemäß gelobt. Pakesch: „Neben viel neuer Infrastruktur hat 2003 die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung für alle kulturellen Bereiche gewaltig gesteigert.“ Und Wolfgang Reiter, beim steirischen herbst für das Theaterprogramm zuständig, betont, dass Lorenz die Ressourcen der Mitspieler wie Styriarte, steirischer herbst oder Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum (Ausstellung „Phantom der Lust“) bewusst für die 2003-Planung genutzt habe, statt Parallelstrukturen aufzubauen. In der unter Federführung des steirischen herbstes adaptierten Helmut-List-Halle als Theater, Tanz-, Konzert- und Kinozentrum fand neben der Kulturhauptstadt-Eröffnungsveranstaltung Beat Furrers hoch gerühmtes Musiktheater „Begehren“ auch der Start des erfolgreichen Filmfestivals Diagonale statt.

In der umfassenden Etikettierung mit Grün-Blau – den die Optik von Graz beherrschenden 2003-Logofarben – sehen kleinere, unabhängige Kulturinitiativen eine „Vereinnahmung“ ohne Rücksicht auf Streuverluste. „Was kann 2003 dafür“, stellt ein ungenannt bleiben wollender Aktivist der freien Szene fest, „dass Christine Frisinghelli so gut ist und den Bourdieu-Nachlass bekommen hat?“ (Mit den Algerienfotos von Pierre Bourdieu bestreitet die Camera-Austria-Leiterin eine Ausstellung in Kooperation mit der Kulturhauptstadt.) „Und was kann Graz 2003 dafür, dass die Diagonale so erfolgreich war?“

Im Mai warnte die Plattform „Kultur in Graz“ (KiG) vor dem Konkurs der freien Szene. Vor einigen Wochen haben die Politiker die Unzufriedenen zu Arbeitskreisen geladen. Sie sollen – eine beliebte Strategie der Politik zur Tröstung Unzufriedener – Verbesserungsvorschläge machen.

Schwarze Null? Unzufrieden mit den Politikern ist auch Wolfgang Lorenz. Seit im März das Bürgermeisteramt vom Sozialdemokraten Alfred Stingl an den Schwarzen Siegfried Nagl ging, argwöhnt der Kulturhauptstadt-Intendant, dass die Stadt ihm und seinem Team die Verantwortung für die schwelende Finanzkrise zuschieben wolle. Dagegen wendet sich Lorenz lautstark: „Wenn ich einen Scheck bekomme, so ist es nicht meine Aufgabe, zu überprüfen, ob er gedeckt ist“, findet Lorenz starke Worte. Die Graz 2003 GmbH werde Ende November mit einer schwarzen Null bilanzieren, dabei allerdings Acconcis Murinsel, für deren Erhalt die Bevölkerung eintrete, mit fünf Millionen Euro als Vermögen verbuchen.

In einer Aussendung wehrt sich das Team Lorenz „gegen Äußerungen von verschiedenen Seiten über den angeblichen Beitrag des Kulturhauptstadtjahres 2003 zur Finanzmisere der Stadt Graz und zur möglichen geringeren Dotierung der Kultur in den kommenden Jahren“.

Am Wochenende schließlich ging die Graz 2003 GmbH in die Totaloffensive. In einer mit Marketingjargon gespickten Broschüre werden den 18,3 Millionen, die Graz für die Finanzierung von 2003 aufwendete, 77,7 Millionen gegenübergestellt, die als unmittelbare Folge des Kulturhauptstadtjahres bewegt worden sein sollen. Allein die Steigerung der Nächtigungen habe in Zeiten von deutlich rückläufigem Städtetourismus im August 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr betragen. 93 Delegationen seien heuer nach Graz gereist, um das erfolgreiche Modell der weltweiten Positionierung der Stadtmarke Graz zu studieren.

Resümee von außen: Graz 2003 wurde sowohl von der internationalen Kritik als auch von einem breiten Publikum akzeptiert. Die Veranstaltungen sind zukunftsorientiert und befriedigten als solche offensichtlich ein kulturelles Bedürfnis in der Bevölkerung und bei auswärtigen Besuchern. Der Kulturbegriff wurde mit Aktivitäten wie der Kajak-Rodeo-WM oder dem internationalen Streetsoccer-Turnier auch weit außerhalb des Kunstbegriffs positioniert. Jetzt herrscht allgemeine Angst um die kulturelle Zukunft von Graz, die Kulturstadtrat Christian Buchmann in einer Stärkung der heimischen Szene sieht. Dagegen treten unabhängige Kulturmacher um die Leiterin des Kunstvereins rotor, Margarethe Makovec, auf, die Leitlinien für den Kulturstandort Graz erarbeitete. Danach soll die Stadt vermehrt mit spartenübergreifend vernetzten Initiativen jenen zeitgenössischen Kulturbegriff aktivieren, der mit Graz assoziiert wird (steirischer herbst, Forum Stadtpark, Architektur). Dazu gehöre auch eine stärkere Positionierung als Partner eines neuen Südosteuropa, wie dies mit den legendären Trigon-Ausstellungen der sechziger Jahre gelungen war.

Noch-Kulturhauptstadt-Intendant Lorenz schlägt eine andere Lösung vor. Die Graz 2003 GmbH solle nach Beendigung des Hauptstadtjahres Ende November als Firma die Kulturarbeit der Grazer Landeshauptstadt übernehmen.
Bürgermeister Siegfried Nagl schließlich verkündete vergangene Woche eine noch originellere Variante: Das Wissenschaftsministerium samt allen Bundeskulturagenden solle von Wien nach Graz wandern. Was soll Graz noch alles dürfen?