Griechenland: Mangel, Elend, Wut und Zukunft

Reportage. Das griechische Volk gewöhnt sich an sein Elend

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Von Bertrand Rosenthal, Thessaloniki

"Enoikiazetai“ - zu vermieten. Das ist das erste Anzeichen der Not, das einem Passanten in den Straßen von Thessaloniki ins Auge sticht. "Zu vermieten“, "zu vermieten“, "zu vermieten“, "zu verkaufen“. Die Mauern senden ein SOS, das sich auf den Fensterscheiben von Restaurants, Cafés, Boutiquen, Bäckereien und Fleischereien fortsetzt. Jede freie Fläche, jeder Bauzaun und jeder Leitungsmast, jedes Auto und jeder Scooter verkünden den Slogan des bankrotten Griechenlands.

Seit fünf Jahren breitet er sich aus, von den Bezirken am Stadtrand kommend bis ins Zentrum der zweitgrößten Stadt Griechenlands. Als deren Bewohner ihn vor einigen Monaten erstmals auf den Luxusboutiquen der noblen Tsimiski-Straße entdeckten, verstanden sie, dass niemand dem bitteren Schicksal Griechenlands entgehen könne. Nicht einmal die Geschichte Mazedoniens: Das inmitten römischer Ruinen gelegene Agora-Museum bleibt wegen Mangels an Wärtern geschlossen. Alexander der Große sitzt auf seinem Pferd, streckt sein Schwert in Richtung Kleinasien und bleibt zwischen Sand-und Kieshaufen, einer Baustelle, allein. Besucher können sich ihm nicht nähern.

Die Stigmata der Krise drücken sich, mehr als die der Armut, durch Leere aus. Das ist das zweite Merkmal, das sich aufdrängt. So verlassen sind die von den Griechen geliebten Restaurants, dass man weinen möchte. Das "Mirovolos“ etwa, unweit des Modiano-Markts gelegen, existiert seit 53 Jahren, die Fotos an den Wänden geben Zeugnis von Abenden aus besseren Zeiten. Jetzt aber sind wir die einzigen Gäste. Kostas, der Kellner, lehnt mit verschränkten Armen mitten in festlicher Dekoration. Anna, die Köchin, nimmt im Saal Platz und gibt sich Tagträumen hin.

Der Hafen von Thessaloniki war einst einer der meistfrequentierten im ganzen Mittelmeer. Jetzt döst er vor sich hin. Die Kräne stehen still. Die Frachtschiffe und Öltanker, die in der Bucht ankern, kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Noch schlimmer ist es in Sindos, der Industriezone im Westen der Stadt, wo das Ankommen und Abfahren der Lastwagen nur noch als ferne Erinnerung in den verlassenen Straßen nachhallt.

Das kleine Unternehmen mit dem klingenden Namen "Die Europäerin“ produzierte Träger für Brücken. Längst gibt es keine Aufträge mehr, denn die öffentlichen Bauvorhaben wurden eingestellt. Salakis, der Chef, und sein Sohn Vaios sind noch da, Dutzende Arbeiter wurden entlassen. Zwei Mitarbeiter konnten bleiben, sie fertigen in einer Ecke einer der riesigen Hallen Bewässerungsmaschinen für die Landwirtschaft, während die Maschinen neben verpackten Baustoffen still auf bessere Tage warten.

Am anderen Ende der Stadt, in der Fabrik von Philkeram Johnson, dem ältesten und größten griechischen Hersteller von Keramikfliesen, steht seit einem Jahr die Produktion still. Panayotis, 51, Giorgos, 48, Homer, 52, und Giorgos, 53, halten seit der Schließung in dem Gebäude die Stellung. Mehr als 200 Arbeiter wurden gekündigt und warten immer noch auf ihre Abfertigung. Man kann mit dem Fahrrad durch die Halle fahren, eine Hälfte des Raums steht leer, weil eines der beiden ultramodernen Fließbänder italienischer Herkunft abgebaut worden ist. Es steht jetzt im Iran. Mit dem anderen könnte man die Produktion innerhalb von eineinhalb Monaten neu starten, sagt Panayotis.

Ob bei der Großbaustelle der U-Bahn in Thessaloniki, die von der Europäischen Union subventioniert wird, etwas weitergeht oder nicht, ist seit Jahren unklar. Bislang bleibt sie ein großer Graben, der die Stadt durchschneidet wie eine Wunde, die sich nicht schließt.

Der Mangel

Nikos, der Taxifahrer, Evangelia, die Französischlehrerin, Athenas, die Zivilingenieurin, und all die anderen erzählen die gleiche Geschichte.

Nikos, etwa 50 Jahre alt, sagt, er habe die Hälfte seines Erwerbs eingebüßt. Die kleinen Gewerbeimmobilien und Wohnungen, die seiner Familie gehören, bringen nichts mehr ein. "Ich habe zu rauchen aufgehört, aber nicht, weil ich wollte, und ich genehmige mir auch keine Kaffees mehr. Solange es kalt war, verbrachte ich mit meiner Frau und unseren beiden Kindern die Abende in einem einzigen Raum, um Heizkosten zu sparen.“

"Mein Gehalt schrumpfte von 1223 auf 800 Euro“, erzählt Evangelia, die seit sieben Jahren als Lehrerin arbeitet. "Weniger ausgehen, keine Restaurantbesuche. Mit meinen 32 Jahren kann ich derzeit nicht daran denken, Kinder zu bekommen.“

Athenas arbeitet seit einem Jahr an den Plänen für die neue Präfektur von Thessaloniki. Für den Teilzeitjob - fünf Stunden pro Tag - verdient sie 500 Euro brutto im Monat, netto bleiben davon 350 Euro. "Ich muss bei meinen Eltern wohnen, anders geht es nicht“, sagt sie.

Die Löhne wurden gekürzt, die Pensionen ebenso, darauf sanken die Einkommen der Geschäftsleute und Freiberufler, die Arbeitslosigkeit im Industriesektor explodierte, die Mehrwertsteuer wurde angehoben, die Steuerpflicht auf Einkommen ab 5000 Euro pro Jahr ausgedehnt, eine rückwirkende Grundsteuer eingeführt, die Kostenrückerstattung für Medikamente aufgehoben. All das bei Preisen, die mit denen in nördlichen Ländern vergleichbar sind - ein Liter Benzin kostet 1,75 Euro, ein Kaffee zwischen 1,70 und vier Euro. So verkümmert das Leben, der Lebensraum wird kleiner.

Der Schein trügt manchmal. Wenn die Sonne scheint, sind die Terrassen an der Küste mit Blick auf die Kette des Olymps zum Brechen gefüllt. Aber die jungen Leute, die hierherkommen, beschränken sich auf eine einzige Konsumation, um dann ein paar Stunden zu bleiben. Die Alten spielen immer noch Karten oder Backgammon in ihren Stammlokalen. Sie haben bloß eine Zeitung weniger zum Lesen, denn eines der beiden großen Blätter erscheint nur noch wöchentlich. Elena ist eine der 700 Angestellten des TV-Senders "Alter“, der schließen musste. Die elegante Journalistin hat einen Job als Kommunikationsbeauftragte bei der Gewerkschaft angenommen, ohne zu wissen, wie viel sie dafür bezahlt bekommt. "Ich trage die Designerkleider aus der Zeit vor der Krise, deshalb sieht es so aus, als wäre ich reich“, sagt die 28-Jährige.

Wenn das lokale Fußballteam gegen die Mannschaft von Udinese aus Italien in der Europaliga 3:0 hinten liegt, durchlaufen die Zuschauer im Stadion eine Art Katharsis. Sie demonstrieren ihre kollektive Freude daran, gemeinsam zu schreien, zu singen, mit den Füßen zu stampfen und so miteinander zu kommunizieren, ein sportliches Debakel lang.

Das Elend

Der Lebensstandard aller sozialen Schichten ist um zwei Stufen gefallen, ausgenommen ist nur eine winzige Gruppe von Privilegierten. Im ersten Geschoß eines unscheinbaren Gebäudes in der Dragoumi-Straße hat die private französische Hilfsorganisation "Médecins du Monde“ (Ärzte der Welt) drei Arztpraxen eröffnet - Allgemeinmedizin, Kinderheilkunde, Gynäkologie. Sie stehen allen offen, die nicht krankenversichert sind. Der Wartesaal geht über vor Patienten. "Wir machen mehr als 1000 Untersuchungen pro Monat, doppelt so viele wie noch vor einem Jahr“, erzählt Sofia, eine der Verantwortlichen. Früher hätten vor allem Ausländer die Hilfe in Anspruch genommen, mittlerweile sei die Hälfte der Patienten Griechen. Um Sofia herum türmen sich Kleiderstapel. Neben Notfallbehandlungen, Impfungen und Medikamenten bieten die Médecins du Monde jetzt auch Kleider und Lebensmittel an. 22 Ärzte arbeiten ehrenamtlich jeweils ein paar Stunden pro Woche im Schichtdienst. "Die Solidarität nimmt zu, aber die Lage wird schlechter“, stellt Sofia fest.

Solidarität findet man zuallererst in der Familie. Die Jungen sind wieder von ihren Eltern abhängig geworden, die ihrerseits oft auf die Hilfe der Großeltern angewiesen sind. Die Griechen kehren in die Dörfer zurück.

Frauen tun sich zusammen, um Mahlzeiten für die Bedürftigsten zu kochen, die Orthodoxe Kirche hat Suppenküchen für Arme eingerichtet, die Europäische Union verteilt in einer Lagerhalle im Hafen Grundnahrungsmittel an Mehrkindfamilien: Reis, Makkaroni, Käse.

Das Elend hat auch einen psychologischen Aspekt. Panagiotis Tsarabulidis, der Präsident des Gewerkschaftsbunds in Thessaloniki, hat kürzlich einen Brief an den Bürgermeister geschrieben und ihn gebeten, etwas gegen den Anstieg der Selbstmorde, des Alkoholismus und des Missbrauchs von Antidepressiva zu unternehmen. Man weiß, was das bedeutet.

Die Wut
Es gibt zwei Dinge, die Griechen in Rage bringen: der Vorwurf, sie seien Faulenzer und zahlten keine Steuern. Und: ihre Stromrechnung. Letztere scheint jeder bei sich zu tragen, um sie im geeigneten Moment empört hervorzuziehen. Nikos, der Taxifahrer, Kristopher, der am Modiano-Markt russische Importprodukte verkauft, Giorgos, der Präsident der Fleischerinnung, sie alle kramen die Rechnung aus der Tasche und lassen ihrem Zorn freien Lauf. Der Stein des Anstoßes: Der griechische Staat hebt rückwirkend seit 2010 eine Grundsteuer ein, die zusätzlich zu den Energiekosten auf der Stromrechnung angeführt ist. Im städtischen Bereich beträgt der Steuersatz mindestens fünf Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Wer nicht zahlt, dem wird der Strom abgedreht.

"Wir sind keine Faulpelze!“, schimpft ein Grieche, und tatsächlich wird die Lohnsteuer seit jeher automatisch einbehalten. "50 Prozent der Griechen zahlen ihre Steuern, 50 Prozent haben sie bisher nicht bezahlt, und es sind immer dieselben, die zahlen“, wettert Gewerkschaftsboss Tsarabulidis. Wo wohnen eigentlich die reichen Griechen? "Wenn ich das wüsste“, antwortet ein Taxifahrer.

Die Zukunft
Kurzfristig sieht alles nach einem weiteren angekündigten Abstieg in die Hölle aus. Wer kann, macht wenigstens Gelegenheitsjobs. Christos, ein ehemaliger Möbelhändler, bietet seine Dienste als Übersetzer an, sein 27 Jahre alter Sohn jobbt als DJ und Kellner. Manche verkaufen ihr Hab und Gut auf der Straße um einen Euro das Stück.

Auf lange Sicht bleiben Ratlosigkeit und Verzweiflung. Die beiden großen Parteien, die konservative Nea Demokratia und die sozialdemokratische Pasok, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Griechenland bräuchte ein Wunder. Geschieht keines, bleibt den Bewohnern von Thessaloniki, die sich während der guten Jahre auf dem Weg zu den Wonnen des Olymps wähnten, nur der Anblick des kargen Bergs Athos.