Großbritannien: Immer Ärger mit Tony

Die Geschichte einer lang-lebigen Liebesbeziehung

Drucken

Schriftgröße

Nach acht Jahren in einer Beziehung ist es oft schwieriger zu sagen, warum man mit jemandem zusammen ist, als zu Beginn. Am Anfang läuft alles so einfach. Da fällt einer vom Himmel, von dem man sich verstanden fühlt, der nicht betrügt und der noch dazu ziemlich gut und vor allem auch jung aussieht. Am Freitag, dem 2. Mai 1997, begann eine solche Beziehung. Die britischen Wähler waren geradezu verschossen in ihren neuen Premier, dem sie sich soeben mit überwältigender Mehrheit hingegeben hatten. Tony Blair verstand sein Volk, betrog es nicht, sah gut und – für seine 43 Jahre – erstaunlich jung aus.

Diese Honeymoon-Tage sind eine Ewigkeit her. Damals lag ein gewisser Gary Barlow mit dem Song „Love Won’t Wait“ auf Platz eins der britischen Charts, der 11. September war ein Datum wie jedes andere, und in der Politik galt der „dritte Weg“ als letzter Schrei. Acht Jahre später ist die anfängliche Verliebtheit so schwer in Erinnerung zu rufen wie die Angst vor dem Millennium-Bug. Der Beziehungsalltag, den man in diesem Fall Realpolitik nennt, hat alle Illusionen verfliegen lassen.

Das Wahlvolk musste einsehen, dass sein netter Tony sehr verständnislos sein konnte, als er etwa die Studiengebühren einführte. Schließlich betrog er sogar, ging mit George W. Bush eine viel zu enge transatlantische Partnerschaft ein und zog mit seinem neuen Freund in den Irakkrieg, obwohl das Volk zu Hause tobte und sich hintergangen fühlte. Und vom jugendlichen Aussehen ist auch wenig übrig geblieben. „Man sieht mir mein Alter jetzt an“, bekannte Blair in seiner Rede vor dem Labour-Parteitag vor zwei Jahren, und in dem Satz steckte mehr Wahrheit als Koketterie.

Donnerstag dieser Woche werden die Briten nach 1997 und 2001 zum dritten Mal entscheiden, ob Blair ihr Premier sein soll. Die Umfragen deuten an, dass sie die Beziehung fortsetzen wollen, aber wissen sie eigentlich noch, warum?

In Putney scheint die Sonne, und das in jeder Hinsicht. Es ist ein lauer Frühlingstag in diesem wohlhabenden Londoner Vorort im Südwesten der Metropole. Wer hier wohnt, hat kaum Grund, sich zu beklagen. Vor den Vorgärten der Einfamilienhäuser stehen teure Autos, nicht einmal rund um die U-Bahn-Station finden sich Spuren von Armut oder Kriminalität, an der nahen Themse kann man beschaulich Boot fahren.

In der öffentlichen Bibliothek hat eine überparteiliche Seniorenorganisation die Kandidaten von Labour, Tories und Liberaldemokraten zu einer Podiumsdiskussion geladen. Alte Menschen stellen in Putney die Minderheit, 60 Prozent der Bewohner sind unter 40. Viele der alten Leute sind vom Aufschwung ihrer Gemeinde überholt worden, ihre kleinen Pensionen können mit den Lebenshaltungskosten in Putney nicht mithalten.

Der Labour-Kandidat Tony Colman hat den Wahlbezirk Putney 1997 den konservativen Tories entrissen, die ihn ihrerseits 1979 beim legendären Wahlsieg Margaret Thatchers erobert hatten. Kühn formuliert: Fällt Putney, fällt auch die Regierung. Tony Colman, selbst 61, fühlt sich unter der mehrheitlich weiblichen Seniorenzuhörerschaft wohl. Er lobt überschwänglich jede Wortmeldung der Damen, die sich nacheinander erheben und zittrig ihre vorbereiteten Fragen vorlesen. Die Themen: zu wenig Betten und mangelnde Hygiene in den Spitälern, Wartezeiten beim Zahnarzt, Geldsorgen.

Stark um die Mitte. Labour-Mann Colman weiß Blairs Bilanz zu verkaufen. Das neue Spital im nahen Roehampton sei nahezu fertig, die Mindestrente von monatlich 385 Euro im Jahr 1997 auf jetzt 610 Euro erhöht worden. Ganz zu schweigen von den neuen Schulen für „eure Enkel“. Es ist ein Heimspiel für den Labour-Kandidaten. Allein der Hinweis auf den miserablen Zustand der öffentlichen Wohlfahrt unter der letzten Tory-Regierung lässt die Pensionisten erschauern.

Jeremy Ambache, der Kandidat der Liberaldemokraten, will die finanziellen Zuwendungen an die Kleinrentner erhöhen und überholt den Labour-Kandidaten links, doch da die Liberalen seit fast 100 Jahren nicht an der Macht waren, haftet seinen Versprechen unausweichlich ein Hauch von Illusion an. Die Tory-Kandidatin Justine Greening, eine dynamische Frau Mitte 30, die nach Putney entsandt wurde, um den Parlamentssitz zurückzuerobern, ist erst gar nicht erschienen. Sie bearbeitet mit viel Aufwand die entscheidenden Wählergruppen: Frauen mit mittlerem Einkommen.

Hier in Putney ging den Tories exemplarisch die Mittelschicht verloren, hier eroberte Tony Blair das politische Zentrum, indem er dem Sozialismus entsagte, die Macht der Gewerkschaften innerhalb seiner Partei brach und staatliche Unterstützungen mit Eigenverantwortung verknüpfte. Die Tories hingegen hinterließen aus ihrer Regierungszeit von 1979 bis 1997 die Erinnerung, den Bezug zu den Menschen verloren zu haben. Noch im Jänner 1997 wollten konservative Abgeordnete die Prügelstrafe an den Schulen wieder einführen. Einer der Befürworter der Stockhiebe im Klassenzimmer war der damalige Innenminister und heutige Tory-Spitzenkandidat Michael Howard. Tory-Aktivisten in Putney bestätigen das Bild vom vorsintflutlichen Konservativen. Sie sprechen noch von den „Kolonien“, wenn sie von ihrer Urlaubsdestination Kenia erzählen, und finden, dass es schade sei, dass das alte Wort „Nigger“ nicht mehr gebraucht werden dürfe.

Labour-Kandidat Colman scheint seiner Sache recht sicher zu sein. Er und sein liberaler Widerpart werden von der Moderatorin des Seniorennachmittags als „gute Jungs“ gelobt, und bei einer Tasse Tee und Keksen tippt Colman auf eine dritte Amtszeit Blairs. Das wäre ein historischer Erfolg, der in der britischen Geschichte noch keinem Labour-Premier gelungen ist.

Lichtgestalt. Blair ist fraglos eine Lichtgestalt der britischen Politik – allerdings nicht zuletzt deshalb, weil einerseits seine Vorgänger als Labour-Parteichefs und andererseits seine konservativen Herausforderer nicht eben schillern. Auf John Major, den Blair 1997 aus der Downing Street verdrängte, folgten bei den Tories mit William Hague, Iain Duncan-Smith und Michael Howard allesamt beklemmend mausgraue Persönlichkeiten. In einer Umfrage der Tageszeitung „Guardian“ aus der vergangenen Woche befanden magere 24 Prozent der Tory-Wähler, Michael Howard verfüge über Charisma, während immerhin noch 44 Prozent Tony Blair Ausstrahlung bescheinigten.

Howard muss fürchten, dass er im Fall einer deutlichen Niederlage der vierte Tory-Vorsitzende sein könnte, den Blair verschlissen hat. Denn auch dem 64-jährigen Juristen gelingt es nicht, Blair aus dem politischen Zentrum zu bugsieren. Es ist in der Tat keine leichte Aufgabe, den wendigen Premier ins linke Eck zu drängen. Im „Krieg gegen den Terror“ verschaffte der Sozialdemokrat der Polizei Befugnisse, derer sich ein „Law and Order“-Konservativer nicht zu schämen bräuchte, Terrorverdächtige dürfen seit 9/11 ohne Verfahren inhaftiert werden. Geplante Bestimmungen für Asylwerber waren zum Teil so hart, dass sie vom Höchstgericht außer Kraft gesetzt werden mussten. Blair führte Studiengebühren ein. Er zog in den Irakkrieg. Wie sollen konservative Hardliner da gegen ihn punkten?

Die Antwort Howards: indem die Tories Blair noch weiter rechts überholen, Quoten für Asylwerber, Zwangs-Aidstests für Einwanderer, Verschärfungen im Abtreibungsrecht einführen – und sich damit meilenweit von der politischen Mitte entfernen. Blair gibt einstweilen den moderaten Modernisierer, der die Dinge im Griff hat und bei Pressekonferenzen im babyrosa Ambiente des Wahlkampfhauptquartiers zielgruppenadäquate Ideen präsentiert: eine Garantie etwa, dass Frauen mit Brustkrebsverdacht innerhalb von 14 Tagen einen Termin bei einem Spezialisten bekommen. Warum gerade Brustkrebspatientinnen? Weil Frauen mittleren Alters eine besonders umkämpfte Wählergruppe darstellen. Die Labour-Wahlkampfmaschine läuft wie immer seit Blairs Amtsantritt perfekt.

Plötzlich aber gerät sie ins Stocken. Im Wahlbezirk Bethnal Green und Bow im Londoner Eastend droht die Labour-Kandidatin Oona King ihren Parlamentssitz einzubüßen. In den Straßenzügen rund um die Brick Lane wohnt Multikulti-England, die Straßenschilder sind englisch und bengalisch beschriftet, es riecht nach exotischen Gewürzen, in den Schaufenstern hängen bunte Gewänder. Alles, was es in Bangladesch zu kaufen gibt, kriegt man hier auch.

Im Shahnan Employment Bureau in einer Seitengasse der Brick Lane können sich Bangladescher zu verschiedenen Jobs ausbilden und danach an Arbeitgeber vermitteln lassen. Das Büro gibt es seit 1983, es war „das erste Human Resource Center für Bangladescher in Großbritannien“, wie ein Poster an der Wand des etwas schmuddeligen Büros stolz vermerkt. Putzpersonal, Chefköche, Manager – für jeden Beruf werden hier Arbeitskräfte bengalischer Abstammung trainiert. Der Firmenchef heißt Shahagir Bakth Faruk und ist nebenbei der Kandidat der Tories für Bethnal Green und Bow. Der Multikulti-Tory erstaunt nur auf den ersten Blick. Faruk ist als gläubiger Moslem entsprechend wertkonservativ und als aufstrebender Firmeneigentümer ein Anhänger unternehmerfreundlicher Politik.

Nachdem sein Handy geklingelt hat, wird Faruk plötzlich hektisch. „Blair kommt in die Brick Lane“, japst er und springt auf, um sofort eine Anti-Blair-Demo zu organisieren. Kriegsherr Blair ist in dem überwiegend von Moslems bewohnten Bezirk denkbar unbeliebt, und auch der lokalen Kandidatin Oona King haftet der Makel des Irakkriegs an. Tory-Kandidat Faruk gibt zwar zu, dass seine Partei den Krieg ebenso befürwortet hat, allerdings sei es Blair gewesen, der alle in die Irre geführt habe, und im Übrigen „ist der Irak weit weg, und ich lebe hier und kümmere mich um unsere Leute“.

Die Hektik erweist sich am Ende als müßig, Blair sagt den Besuch in der Brick Lane kurzfristig wieder ab. Mit gutem Grund: Oona King benötigt Polizeischutz, als sie sich mit dem Londoner Bürgermeister und Parteifreund Ken Livingstone in einem Restaurant in der Brick Lane trifft. Die Reifen ihres Autos werden zerstochen, Eier fliegen. Gegner des Irakkriegs sehen in King eine Verräterin, die sich moslemische Stimmen erschlichen habe, um dann gegen moslemische Interessen zu handeln.

Showdown. Am Abend kommt es im Volkspalast von Bethnal Green zu einem Showdown. Eingeladen ist neben den Kandidaten von Labour, Tories und Liberaldemokraten auch George Galloway, ein Unterhaus-Abgeordneter aus Glasgow, der die Labour-Partei aus Protest gegen den Irakkrieg verlassen hat und jetzt in Bethnal Green und Bow auf der Liste Respect kandidiert, weil er sich in der Moslem-Wohngegend die besten Chancen ausrechnet.

Noch vor Beginn der Veranstaltung versucht eine kleine Gruppe, die Halle zu stürmen, ein Polizeiaufgebot schreitet ein, zwei Männer werden verhaftet. Drinnen im Saal buhen Galloway-Anhänger die Labour-Kandidatin King aus. Hier kennt der Wahlkampf nur ein Thema: den Irakkrieg. Zwischendurch muss die Podiumsdiskussion unterbrochen werden, weil die Männer sich im Foyer zum Gebet versammeln.

Auch George Galloway, der sich vor dem Krieg durch Reisen zu Saddam Hussein einen zweifelhaften Ruf verschaffte, braucht in Bethnal Green Polizeischutz. Als er eine kleine Versammlung in einem Wohnhaus abhält, wird er von radikalen Islamisten bedroht, die Wahlen als „unislamisch“ verteufeln und Galloway, den „falschen Propheten“, vor dem Galgen warnen.

Zu Beginn des Wahlkampfs schien Tony Blairs Strategie aufzugehen: Das Thema Irak beschäftigte ein paar Einwandererbezirke und Gegenden mit hoher Studentendichte. Doch vergangene Woche brachen alle Dämme der Beschwichtigung und Ablenkung, die von den Wahlmanagern errichtet worden waren: Ein Dokument wurde an die Öffentlichkeit gespielt, das Blairs Beteuerung untergrub, er habe vor dem Krieg vom Generalstaatsanwalt eine eindeutige Stellungnahme erhalten, wonach der Kriegseinsatz legal einwandfrei sei. Das Dokument, die Erstfassung der Stellungnahme des Generalstaatsanwalts Lord Goldsmith, enthält jedoch einige Bedenken und Vorbehalte gegen einen Einsatz ohne weitere UN-Resolution. Die beiden Schriftstücke wurden innerhalb von zehn Tagen verfasst, und so richtete Tory-Chef Howard an Blair die Frage: „Wer oder was hat den Generalstaatsanwalt dazu bewegt, seine Meinung zu ändern?“

Die implizite Vermutung: Tony Blair selbst habe Lord Goldsmith angehalten, alle Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Kriegseinsatzes aus dem Gutachten zu entfernen. Die Tories wittern ihre vielleicht einzige Chance, Blair zu demontieren, indem sie anstelle seiner Politik seinen Charakter attackieren. „Wenn er bereit ist zu lügen, um uns in einen Krieg zu führen, ist er auch bereit zu lügen, um eine Wahl zu gewinnen“, lautet der Text ihres neuesten Plakats. Blair konterte in einem Interview: „Man kann auf den Ball spielen oder auf den Mann, und wenn sie auf den Mann spielen, dann wahrscheinlich, weil sie es nicht wagen, auf den Ball zu spielen.“

Der Vorwurf der Lüge gegen Blair ist auch unter den Tories nicht unumstritten, denn Negativkampagnen werden von den Wählern oft als degoutant empfunden. Außerdem kennen die Briten Tony Blair ohnehin gut genug. 44 Prozent halten Blair laut einer Umfrage für einen „Lügner“. Dass der Premier die vorhandenen Fakten selektiv nutzte, um den Irakkrieg beginnen zu können, glaubt wohl die große Mehrheit. In Interviews fleht Blair inzwischen um Verständnis: Er habe eine Entscheidung treffen müssen und sei überzeugt gewesen, die richtige für Großbritannien zu treffen. Wenn er das sagt, zeigt Blairs Gesicht tiefe Sorgenfalten, und er gibt überzeugend den Staatsmann, der in der Stunde der Entscheidung auf sich allein gestellt ist.

Michael Howard wird von Spöttern vorgeworfen, er verfüge bloß über zwei Stimmungen: Zorn und Ärger. Blair jedoch hat eine Menge Gesichter in seinem Repertoire. Als eine alleinerziehende Mutter sich in einer Frühstücks-TV-Show bei ihm beschwert, die Regelung für Alimente sei chaotisch, setzt Blair die Miene des Schuljungen auf, der einen Ball durch eine Fensterscheibe gekickt hat: „Ich muss mich bei Ihnen für das Durcheinander entschuldigen“, sagt er betreten. Aber Blairs wichtigstes Gesicht bleibt das des Mannes, der mit entschlossenem Blick beteuert, daran zu glauben, „dass wir alle zusammenarbeiten können, um für viele Menschen das Leben besser zu machen“. In solchen Momenten läuft einem ein wohliger Schauer über den Rücken, auch wenn man das Gefühl hat, die Platte schon ein paarmal zu oft gehört zu haben.

Blairs Stärke, als authentische Führungspersönlichkeit wahrgenommen zu werden, kann ihm einen dritten Wahlsieg bescheren. Gelingt dies, will er ein historisches Projekt vollenden, das seine Bilanz als Regierungschef erheblich aufwerten würde: die notorisch EU-skeptischen Briten von der Einführung des Euro zu überzeugen.

Zuerst allerdings müssten die Briten am Donnerstag dieser Woche beschließen, die Beziehung mit ihrem Langzeitpremier fortzusetzen. Und neben vielen politischen Überlegungen wird eine quasiprivate Frage mitentscheidend sein: Wollen sie am Freitagmorgen mit einem anderen Premierminister aufwachen als mit Tony Blair?

Von Robert Treichler, London