Großbritannien: Tory, Tory, Halleluja

Blairs Labour-Partei gerät ins Hintertreffen

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Die Grafschaft Oxford gehört zu Englands reichsten Regionen. Natürlich wählt man rund um die berühmte Universitätsstadt stets konservativ; wer hier als Tory-Kandidat einen Wahlkreis findet, hat ausgesorgt.

Im Wahlkreis von Witney bei Oxford gewann 1997 ein viel versprechender junger Mann. Als gelernter Journalist gut vorbereitet auf die Mediendemokratie, als Ehemann einer reichen Frau aus bestem Hause finanziell unabhängig – Shaun Woodward hätte gewiss bald Karriere gemacht. Doch zwei Jahre nach seiner Wahl verließ Woodward im Streit die Tories und schloss sich Tony Blairs New Labour an.

Dort sei jeder willkommen, gab der konservative Linksabweichler zu Protokoll, „egal, aus welcher Schicht er kommt, egal, welchen Standpunkt er vertritt“. Kurz vor der nächsten Wahl räumte die Parteispitze für den Überläufer einen bequemen Labour-Wahlkreis frei, mittlerweile dient Woodward dem Premierminister als Staatssekretär im Handelsministerium.

Den sicheren Tory-Wahlkreis erbte 2001 ein anderer ehrgeiziger junger Mann mit idealen Voraussetzungen. Als früherer Pressesprecher einer TV-Gesellschaft bestens mit der Mediendemokratie vertraut, finanziell unabhängig, verheiratet mit einer hübschen und tüchtigen Geschäftsfrau – auch um David Camerons politische Karriere musste man sich von Anfang an keine Sorgen machen. Anders aber als sein Wahlkreis-Vorgänger suchte Cameron nicht im großen Gesellschaftszelt des Wahl-Magiers Blair Zuflucht, im Gegenteil: Vor einem halben Jahr hat der 39-Jährige mit dem pausbäckigen Knabengesicht den Vorsitz der ältesten Partei der Welt übernommen. Die Kommunalwahl Anfang dieses Monats brachte ihn seinem Ziel, Blairs Anziehungskraft bei den Wählern zu zerstören, einen großen Schritt näher.

Dass er dabei viele Beobachter an den jungen Blair erinnert, nimmt Cameron gerne hin, obwohl es sich dabei um ein höchst zweischneidiges Kompliment handelt. Zwar hat der Labour-Premier drei Wahlen in Folge gewonnen, doch die Briten, vor allem auch ihre Medien, erinnern sich derzeit nur ungern daran, wie kritiklos sie einst Blairs Parolen akklamierten.

Wie der Labour-Mann 1994 hat auch der Tory Cameron seiner Partei gleich in den ersten Monaten viel zugemutet. In der Schulpolitik, beim nationalen Gesundheitssystem, in der Frage der Unabhängigkeit der Bank von England – überall akzeptiert er die Labour-Reformen und verleiht damit indirekt Blairs Regierungspolitik nachträglich Legitimation. So wie die legendäre „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher noch mindestens zehn Jahre über das Ende ihrer Amtszeit hinaus das politische Klima prägte, so steht schon heute fest: Blairs Politik wird fortleben, auch nach seinem Auszug aus der Downing Street.

Ohrfeige. Die Amtsübergabe an seinen designierten Nachfolger, Schatzkanzler Gordon Brown, ist durch die üble Wahlniederlage näher gerückt (siehe Kasten Seite 85), wenn auch der genaue Termin längst noch nicht feststeht. Die britischen

Wähler verpassten der Regierungspartei Labour eine schallende Ohrfeige, und anders als in den vergangenen Jahren profitierten davon vor allem die Tories.

Dies sei zwar „nur sehr begrenzt ihr Verdienst, sondern vor allem dem politischen Zyklus geschuldet“, analysiert der Publizist Geoffrey Wheatcroft, Autor des viel beachteten Buchs „The Strange Death of Tory England“ (siehe Interview Seite 86).

Dennoch: Während Labour 26 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, verzeichneten die Tories ihr bestes Ergebnis seit 1992 und lagen knapp oberhalb der wichtigen Schwelle von 40 Prozent. „Das ist von psychologischer Bedeutung“, gab Cameron vergangene Woche im Interview mit der Zeitschrift „Spectator“ zu Protokoll.

In der Tat: Bis vor Kurzem hatte seine Partei als mehr oder minder unwählbar gegolten: verzopft, verbissen, verbiestert. Tony Blairs New Labour besetzte die politische Mitte bis tief ins konservative Lager hinein. Die Tories suchten ihr Heil in einem Ausweichmanöver. Sie reagierten mit einem scharfen Rechts-außen-Kurs. Inzwischen haben sie die Strategie geändert: Cameron attackiert die Blair-Regierung auf ihrem eigenen Terrain – und scheut dabei nicht einmal davor zurück, sie in bestimmten Bereichen von links anzugreifen.

Das zeigte bei den Kommunalwahlen erstmals Wirkung. Von satter Zufriedenheit ist trotzdem nichts zu spüren. Die magischen 40 Prozent verdecken nur kurzzeitig die Tatsache, dass die Konservativen im Norden Englands kaum Fortschritte machten und in den Stadträten von Metropolen wie Newcastle, Manchester und Liverpool weiterhin kaum vertreten sind. Ganz Wales und Schottland bleiben praktisch Tory-freie Zonen. Und der Arithmetik des Mehrheitswahlrechts zufolge benötigt Cameron bei der nächsten Unterhauswahl 43 bis 44 Prozent der Stimmen, um eine Regierung bilden zu können.

Zu den bisher 197 Sitzen müssten mindestens 126 neue hinzukommen, um den Tories eine eigene Mehrheit zu verschaffen. Dafür, zählt der Parteichef auf, „müssen wir ein Drittel der Liberaldemokraten wegfegen und Sitze in Schottland hinzugewinnen. Das ist alles eine große Aufgabe, deshalb trete ich ja auch nicht kürzer.“

Zu schmerzhaften inhaltlichen Frontbegradigungen gesellt sich eine neue Personalpolitik. Im Getümmel der internen Labour-Streitigkeiten – Blair sah sich zu einer weit reichenden Kabinettsumbildung genötigt, feuerte Innenminister Charles Clarke und degradierte Außenminister Jack Straw zum Labour-Führer des Unterhauses – ging vergangene Woche eines fast unter: dass Cameron nämlich „weitere und tiefgehendere Reformen“ ankündigte. Unter anderem stellte er die Liste jener Prioritätskandidaten und, viel wichtiger, -Kandidatinnen vor, die bei der nächsten Wahl neu ins Unterhaus einziehen sollen.

Dazu gehören ein früheres TV-Soap-Sternchen, ein bekannter Umweltschützer sowie die Mutter eines autistischen Sohnes, die in einer Fernsehdebatte Premier Blair in Bedrängnis gebracht hatte. Mehr als die Hälfte der glücklichen rund 140 Bewerber sind Frauen, zehn Prozent gehören einer ethnischen Minderheit an. Das habe „nichts mit politischer Korrektheit zu tun“, beteuert Cameron. „Wir müssen in der Fraktion glaubwürdig einen Dialog führen können, wie wir ihn auch mit den Leuten im Land führen wollen.“

Am Dialog mit gleich gesinnten Parteichefs in Europa zeigt Cameron hingegen einstweilen wenig Interesse. Seinen Abgeordneten im EU-Parlament verordnete er sogar den Austritt aus der EVP-Fraktion.

Enge Verbindungen mit den Republikanern in den USA hingegen gehören zur Tradition. Und so schickte Cameron im Februar gleich drei seiner wichtigsten Leute – den finanz-, den außen- und den verteidigungspolitischen Sprecher – nach Washington.

Auf dem Flug gratulierte der Pilot öffentlich seinem Chefsteward zu dessen seit 20 Jahren bestehender homosexueller Beziehung – was Schatten-Schatzkanzler George Osborne so „niedlich“ fand, dass er die Anekdote umgehend einem republikanischen Kongressabgeordneten erzählte. Der reagierte mit entsetztem Unverständnis und offenbarte damit einen breiten transatlantischen Graben.

Progressiv? Liberal? Cameron & Co nehmen in sozial- und familienpolitischen Fragen eine liberale Haltung ein und befinden sich damit im Einklang mit der großen Mehrheit der britischen Bevölkerung, aber eben im Widerspruch zur religiös inspirierten Rechten in Amerika. Der Parteichef spricht von seiner Partei gern als einer „modernen, progressiven, liberalen Opposition“ zur Labour-Regierung. Progressiv? Liberal? Mit solchen Attributen überrascht Cameron und wendet sich geschickt an die wachsende Zahl liberaldemokratischer Wähler, die in ländlich geprägten Wahlkreisen meist enttäuschte Tories sind.

Von Beginn seiner Amtszeit an ist Cameron als Erneuerer aufgetreten, mit einem Appell an „den Idealismus und Optimismus gerade jüngerer Wähler“. Diese haben die Tories bitter nötig, wenn sie bei der nächsten Unterhauswahl wenigstens in die Nähe der Macht kommen wollen. Zwar bleibt die Partei auf konkreten Politikfeldern betont vage – mit dem Hinweis darauf, dass die nächste Wahl planmäßig noch mindestens drei Jahre auf sich warten lassen wird.

Mit auffälliger Beharrlichkeit aber betont Cameron immer wieder drei wichtige, aber nach herkömmlichem Maßstab „weiche“ Themen wie Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, Entwicklungshilfe – allesamt traditionelle Themen der politischen Linken. In Camerons Analyse ist die linke Volkspartei in Großbritannien auf den traditionellen Feldern der Rechten wie freie Marktwirtschaft, Law and Order sowie Verteidigung so weit nach rechts gerückt, dass Unterschiede zu den Tories kaum noch auszumachen sind.

Geschäftsleuten und Einzelhändlern, also einer traditionellen Kern-Klientel der Konservativen, gegenüber wiederum lässt es der neue Parteichef nicht an Kritik fehlen. David Frost von der Handelskammer gibt sich „enttäuscht: Wir hören viel Negatives über Unternehmer, auf das Positive warten wir noch.“

Effekthascherei. Mit dem Slogan „Vote blue, turn green“ erhob der Parteichef der Blauen hingegen seine Umweltpolitik sogar zum wichtigsten Politikfeld seines Wahlkampfes – und untermauerte es geschickt mit schönen TV-Bildern. Auf dem Dach seines Stadthauses ließ er Solarzellen und ein Windrad installieren, sein Dienstwagen bekam einen abgasärmeren Motor. Ohnehin radelt der Oppositionsführer gern in die Arbeit, was seine Emissionsbilanz aber nicht wesentlich verbessert. Aus Gründen der Sicherheit und im Interesse eines funktionierenden Büros fährt der Fahrer mit dem Dienstwagen hinterher.

Man mag das alles für billige Effekthascherei halten. Umfragen zufolge hat Cameron es tatsächlich geschafft, sich als Umweltschutzpolitiker in den Köpfen der Briten zu verankern. Dass plötzlich auch Blair und Brown grüne Themen in den Vordergrund stellen, ist ebenso eine Folge davon wie die Berufung des früheren engen Blair-Mitarbeiters David Miliband ins Umweltministerium. Dort soll der auch erst 41-Jährige dem konservativen Senkrechtstarter Paroli bieten.

Das wird nicht leicht werden. Dass Cameron in TV-Interviews meist freundlich und optimistisch wirkt, hat vielleicht damit zu tun, dass er gern einen eigenen Beleuchter mitbringt. Sämtliche Tricks des Gewerbes kennt der smarte Polit-Profi aus seiner Zeit als Pressesprecher des TV-Kommerzkanals Carlton. Damals war es mit seinem Idealismus offenbar nicht so gut bestellt. Erfahrene Londoner Journalisten erinnern sich des Pressesprechers Cameron jedenfalls nur widerwillig. „Er war aggressiv, herablassend und häufig mehr Hindernis als Hilfe“, sagt der Wirtschafts-Kolumnist des „Evening Standard“, Chris Blackhurst. Dem Wirtschafts-Ressortleiter des „Telegraph“, Jeff Rendall, gab Spin-Doktor Cameron „nie eine klare Antwort, wenn sich die Frage auch ausweichend beantworten lieߓ.

Die gleiche Taktik wendet auch der Parteichef Cameron an, wenn er auf konkrete, durchdachte und auf Finanzierbarkeit überprüfte Politikvorschläge angesprochen wird. Dann verweist er gern auf verschiedene Arbeitsgruppen, die bis Mitte kommenden Jahres konkrete Ergebnisse vorweisen sollen. Einstweilen geben sich Presse und Öffentlichkeit damit noch zufrieden. Nur, wie lange noch?

Schon sind Labours beste PR-Berater Alastair Campbell und Philip Gould fieberhaft damit beschäftigt, den designierten Blair-Nachfolger Brown für das Duell mit Cameron vorzubereiten. Plötzlich sieht man den introvertierten Schotten auch einmal lachen und dabei seine reparierten Zähne zeigen. So richtig entspannt wirkt das einstweilen noch nicht. Anders bei Cameron, der seine Wirkung genau zu kalkulieren weiß. Auch hierin ähnelt er seinem Gegner Tony Blair, den er allzu gern ablösen würde – wie einst seinen Vorgänger im Wahlkreis von Witney bei Oxford, den Tory-Flüchtling Shaun Woodward.

Von Sebastian Borger, London