Die letzten Tage der Habsburger

Habsburgs letzte Tage: Vor neunzig Jahren wurde die Republik gegründet

Das Protokoll einer Zeitenwende

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Gegen 19 Uhr, die Nacht war schon eingefallen, verließ eine Wagenkolonne das heute an der Grünbergstraße gelegene Tor des Schönbrunner Schlossgeländes. Langsam rollte der Konvoi der Innenstadt zu, schwenkte dann in die Ringstraße und schließlich in die Praterstraße ein. Wenig später verließ Kaiser Karl I. an jenem 11. November 1918 die Residenzstadt, die er nie wieder betreten sollte. 645 Jahre zuvor, am 1. Oktober 1273, hatten die deutschen Fürsten seinen frühen Vorfahren Rudolf, den Grafen von der Habsburg, zum König gewählt. Jetzt zog der letzte Habsburger von dannen, mit einigem Gepäck und fünfzig Bediensteten. Das kleine Schloss Eckartsau in den Donauauen östlich von Wien sollte sein künftiges Domizil sein.

Wenige Tage später schickte der entthronte Kaiser einen Höfling nach Schönbrunn, um noch Wäsche für die Kinder zu holen. Er wurde abgewiesen: Über alles hier verfüge jetzt der Staatsrat der Republik, teilte ihm die Wache mit. Bei diesem müsse der Herr Habsburg seine Wünsche einreichen. Den Schmuck hatten die Habsburgs schon rechtzeitig in die Schweiz verbringen lassen.

Unreifer Geist. Ruhmlos versank ein Reich, in dem einst die Sonne nicht untergegangen war. Diskreditiert und gedemütigt räumte der letzte Herrscher seines Geschlechts den Thron – dieser „nicht besonders intelligente und strebsame, eher seichte und unreife Geist“ (der Historiker Manfried Rauchensteiner). Der freisinnige Ministerpräsident Ernest Koerber, dessen Demission Karl 1916 erzwungen hatte, meinte beim Verlassen des Audienzraums: „Karl ist 30 Jahre alt, schaut aus wie 20 und spricht wie ein Kind von zehn Jahren.“ Wie hätte dieser gutmütige, aber unbedarfte Mann, den das Attentat auf seinen Onkel Franz Ferdinand an die Macht gespült hatte, ein morsches Reich retten sollen?

Im November 1918 wurde innerhalb weniger Tage die Saat zu fast allem gelegt, was das 20. Jahrhundert prägen sollte – im Guten wie im unfassbar Bösen: für die demokratische Republik und den Sozialstaat – aber auch für eine politisch eifernde Kirche und großdeutsche Anschluss-Fantasien. Die folgenreiche Implosion des Habsburgerstaats vor neunzig Jahren markiert eine der großen Zeitenwenden der österreichischen Geschichte. Immer punktgenauer analysieren Historiker und Politologen die Novemberereignisse. In den vergangenen Wochen erschienen gleich fünf bemerkenswerte Arbeiten zu diesem Thema. Am 12. November, dem Jahrestag der Ausrufung der Republik, wird an deren Schauplatz, dem Parlament, eine viel diskutierte Großausstellung eröffnet.

Meuterei. Acht Millionen junge Männer hatte die Doppelmonarchie seit 1914 in den Krieg gehetzt, eineinhalb Millionen starben, ebenso viele wurden an Leib und Seele verwundet. Allein unter den Lawinen der Dolomiten erstickten im Kriegswinter 1916 zehntausend österreichische Soldaten. Bei den drei Jahre währenden Schlachten an den Ufern des oberitalienischen Flüsschens Isonzo – heute Sotscha – fielen 800.000 junge Männer der italienischen wie der k. u. k. Armee. Meist ging es um Geländegewinne von wenigen Kilometern. Kaum jemand wusste noch, wofür da gekämpft wurde, außer für die Ehre der Dynastien. Und die bröckelten, wie man seit der Revolution in Russland wusste.

Anfang 1918 gab es die ersten Meutereien in Kaiser Karls Vielvölkerarmee – zuerst in Galizien, dann in der Slowakei. Im dalmatinischen Hafen Cattaro meuterten im Februar die Matrosen, vier Männer wurden hingerichtet. In Judenburg plünderten im Mai 1200 Soldaten die Läden und ­versuchten, sich in die Heimat durchzuschlagen. Fast alle wurden geschnappt, sieben Anführer sofort erschossen. Im Juni starben im serbischen Kragujevac 44 meuternde Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee unter den Kugeln eines Pelotons.

Die Situation der Zivilbevölkerung war kaum weniger schlimm. In Berlin war im Oktober die Cholera ausgebrochen, in Österreich grassierte die spanische Grippe so gnadenlos, dass Gerüchte auftauchten, es handle sich um die Pest. Die sozialdemokratische „Arbeiter Zeitung“ versuchte die Massen zu beruhigen: „Es sind in keinem einzigen Falle die leicht nachweisbaren Pesterreger gefunden worden.“ Im Oktober starben allein in Wien jeden Tag 300 Menschen an der Grippe, die ­meisten in den Arbeiterbezirken Favoriten und Ottakring. Für die hunderttausenden Erkrankten standen nur 1600 Spitalsbetten zur Verfügung, obwohl viele Militärspitäler freie Kapazitäten hatten. Es scheiterte an der Kostenfrage. „Die Gemeinde will nichts zahlen, und das Land will nichts zahlen! Dieses entsetzliche Spiel darf nicht fortgesetzt werden!“, wetterte die „Arbeiter Zeitung“. Trotz der mörderischen Epidemie bestand wegen des Kohlemangels bis Mitte Oktober Heizverbot.

Wut auf den Adel. Dazu kam die Hungersnot. Seit Anfang Oktober standen jedem Österreicher nur noch ein halbes Kilo Kartoffeln, 56 Deka Mehl und vier Gramm Fett zu – pro Woche. Gemüse oder gar Fleisch gab es auf den Märkten überhaupt nicht mehr – es wurde ausschließlich im Schwarzhandel angeboten. In Baden stürmten verzweifelte Hausfrauen die Läden. Der oberösterreichische Landtag beschloss, keine Kartoffeln mehr nach Salzburg zu liefern, weil die eigene Bevölkerung hungerte.
Besonders hart war das Schicksal der Kriegsversehrten. Am 14. Oktober 1918 veröffentlichte das Ministerium die neuen Sätze für die Invalidenpensionen. Neben der Basisrente von nach heutiger Kaufkraft 38 Euro monatlich standen ihnen beim Verlust eines Beins weitere 13, beim Verlust beider Beine 26 Euro zu. Soldaten, deren Verletzungen zu völliger Lähmung führten, gebührte eine Zusatzrente von 42 Euro.

Helle Empörung löste es aus, als bekannt wurde, dass sich der (deutschsprachige) Adel in Prag üppig im für Soldaten bestimmten Warenlager des Roten Kreuzes bediente, „zu unglaublich niedrigen Preisen“, wie die „Kronen Zeitung“ bitter vermerkte: Graf Wolkenstein kaufte 45 Kilogramm Kaffee, 40 Kilo Schokolade und ein Kilo Tee. Die Gräfinnen Schönborn und Hoyos packten je 2000 Zigaretten ein. Besonders bunt trieb es die Gräfin Coudenhove (42 Kilo Marmelade und andere Lebensmittel), die sogar in Haft genommen wurde. Während der Verkehr zusammenbrach und Menschen selbst auf den Waggondächern festgezurrt wurden, reiste der Prinz Koburg laut einem Bericht der empörten „Arbeiter Zeitung“ in einem Salonwagen zur Glockenweihe nach Schladming, wo der Vierachser zwei Tage auf die Rückreise der Hoheit warten musste – und bezahlte dafür nur eine einfache Fahrkarte.

Die Polizeidirektion hielt Mitte Oktober in einem internen Bericht fest, die Anhänger der Monarchie seien „fast völlig verschwunden“. Nur die christlichsoziale „Reichspost“ hielt dem Erzhaus noch die Treue. Spaltenweise berichtete sie am 6. Oktober über die „Erstkommunion unseres Kronprinzen Otto“, die bei allen Kindern des Landes „spontane Freude“ ausgelöst habe. Selbst der vierzigste Hochzeitstag von „Feldmarschall Erzherzog Friedrich mit der Prinzessin Isabella, Tochter des Herzogs Rudolph von Croy-Dülmen“, war dem konservativen Blatt einen überschwänglichen Bericht wert.

Dennoch stürmten nicht, wie in Berlin, die Arbeiter und Soldaten das Schloss. In Wien gab es keinen Brandredner wie den Linkssozialisten Karl Liebknecht, der in der Stunde, in der Wilhelm II. ins Exil verjagt worden war, auf den Balkon des Kaisergemachs getreten war. In Wien traf sich der Sozialistenführer Victor Adler noch Ende Oktober mit dem Kaiser zum Mittagessen. Karl stellte Adler sogar seinen Wagen zur Verfügung, damit der seinen begnadigten Sohn Friedrich aus dem Zuchthaus Stein abholen konnte. Friedrich Adler hatte zwei Jahre zuvor den Ministerpräsidenten Stürgkh erschossen. So, als wolle er das Ende nicht mehr miterleben, starb der alte, schwer herzkranke Adler am 11. November, einen Tag vor dem Abgang des Kaisers.

Nationalismen. Otto Bauer, der von Bruno Kreisky tief verehrte Chefideologe des Austromarxismus, kam 1923 in seinem Buch „Die österreichische Revolution“ zur Erkenntnis, diese sei in Wahrheit nicht vom österreichischen Proletariat, sondern von der nationalbewussten Bourgeoisie in den abfallenden Kronländern getragen worden. Viel zu spät, erst am 17. Oktober, hatte der Kaiser den nach Unabhängigkeit strebenden Nationen den föderalen Bundesstaat angeboten. Da kämpfte schon seit Wochen ein tschechisches Exilheer auf der Seite der Entente. Bei der letzten Sitzung des alten Reichstags hatten einander tschechischnationale und deutschnationale Abgeordnete mit Tintenfässern beworfen. Ende Oktober brachen alle Dämme: Am 24. zogen die Ungarn ihre Truppen zurück, am 28. wurde die tschechoslowakische Republik ausgerufen, tags darauf erklärten sich die Kroaten für unabhängig. Die Sozialdemokraten hatten das einkalkuliert. „Der Traum unserer Jugend soll jetzt Wirklichkeit werden“, schrieb der legendäre Chefredakteur der „Arbeiter Zeitung“, Friedrich Austerlitz, am 30. Oktober. „In einer deutschen Republik soll das deutsche Proletariat den festen Boden für seine soziale Befreiung finden.“ Anschluss an das revolutionäre Deutschland – nur so sei der Sozialismus zu verwirklichen. Natürlich samt den deutschsprachigen Gebieten in Böhmen und Mähren. Am selben Tag gab die nur aus deutschsprachigen Abgeordneten bestehende Nationalversammlung dem neuen Staat „Deutschösterreich“ ein Grundgesetz. Die Versammlung fand im Landhaus in der Herrengasse statt, dort, wo 70 Jahre zuvor, im März 1848, das Volk erstmals gegen Habsburg aufgestanden war.

Das Viertel um die Herrengasse war an diesem Tag von Demonstrationszügen verschiedenster Farben geprägt: Die Deutschnationalen schwenkten schwarz-rot-goldene Fahnen und sangen „Die Wacht am Rhein“. Die Sozialdemokraten zogen, die „Internationale“ singend, aus den Vorstädten ein. Sie alle wollten dasselbe: die Vereinigung des klein gewordenen Österreich mit Deutschland. Ein Jahr später verfügten die Siegermächte in Saint Germain das Anschlussverbot und schlugen die deutschen Sudetengebiete Prag zu. Erst 1933, nach Hitlers Machtübernahme, strichen die Sozialdemokraten schweren Herzens den Anschlusspassus aus ihrem Aktionsprogramm. Die Republik war der nächste Schritt – das war an diesem 30. Oktober 1918 allen klar.

Kaisertreue. Die Christlichsozialen konnten sich mit dieser Vorstellung nur schwer abfinden. Unermüdlich trommelte ihre „Reichspost“ gegen „nichtsnutzige Hetzereien gegen das Kaiserhaus“ und vermeldete „begeisterte Kundgebungen für das Kaiserpaar“. Alles Schimäre. Wie die noch nicht veröffentlichten Protokolle des christlichsozialen Abgeordnetenklubs zeigen, gab es intern ein heftiges Tauziehen, bei dem Wilhelm Miklas, der spätere Bundespräsident, vehement für die Verteidigung der Monarchie eintrat, während der oberösterreichische Landeshauptmann Prälat Johann Nepomuk Hauser empfahl, dem Druck nachzugeben, „alles andere würde nur einen Bürgerkrieg provozieren“.

Außerdem seien auch die vom Krieg ebenfalls schwer betroffenen Bauern keineswegs mehr auf der Seite der Monarchie. Die Mehrheit der schwarzen Mandatare schloss sich der Meinung Hausers an. Besonderen Ärger erregte, dass Kaiser Karl in diesen Entscheidungstagen zuerst im ungarischen Schloss Gödöllö ausspannte und dann im Wienerwald auf die Jagd ging, wie der Wiener Abgeordnete Anton Jerzabek in der Debatte bitter anmerkte. Ein Jahr später gründete Jerzabek – übrigens wie der neue Nationalratspräsident Martin Graf ein Mitglied der Burschenschaft Olympia – den rabiaten Antisemitenbund. Noch am 10. November versuchte der Kaiser, die Christlichsozialen über Kardinal Friedrich Piffl zu mehr Standfestigkeit gegenüber den Roten zu verdonnern. Aber die Bastion war nicht mehr zu halten. Ein anderer Prälat, der später sogar Kanzler werden sollte, Ignaz Seipel, formulierte für den hilflosen Kaiser jene Erklärung, in der dieser zwar „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ verzichtet, jedoch nicht formell abdankt. Nun war die Christlichsoziale Partei und nicht mehr die Monarchie die wichtigste Schutzmacht der Kirche. Der daraus resultierende politische Katholizismus sollte zu einem der Sargnägel der jungen Republik werden.

Rot statt Rot-Weiß-Rot. Am nächsten Tag, dem 12. November, an dem diese Republik vor dem Parlamentsgebäude ausgerufen wurde, trat eine weitere politische Kraft auf den Plan, die das Jahrhundert mitprägen sollte. Als die neuen rot-weiß-roten Fahnen an den Masten hochgezogen werden sollten, preschten Mitglieder der kommunistisch durchsetzten Roten Garden vor und schnitten den weißen Streifen aus dem Fahnentuch. Ein anderer Trupp der vom Prager Journalisten Egon Erwin Kisch („Der rasende Reporter“) befehligten Roten Garden rannte die Rampe hoch und versuchte, ins Parlament einzudringen. Dem „Presseleiter“ des Abgeordnetenhauses, dem Schriftsteller Ludwig Brügel, wurde dabei ins Auge geschossen. Einem sozialdemokratischen Abgeordneten wurde mit dem Bajonett die Hand durchbohrt. „Um Gottes willen, das ist ja der Genosse Glöckel“, soll der Rotgardist laut „Kronen Zeitung“ ausgerufen haben, als er den Verletzten erkannte. Otto Glöckel sollte in den folgenden Jahren der große Schulreformer der Ersten Republik werden.

Karl saß beleidigt mit seiner Familie in Eck­artsau und weigerte sich, den Vorsitzenden der provisorischen Regierung, Karl Renner, zu empfangen, weil sich dieser nicht protokollgemäß angemeldet hatte. Renner musste sich mit einem Adjutanten zufriedengeben. Im März 1919 wurde Karl wegen seiner Weigerung, formell abzudanken, in die Schweiz ausgewiesen. Der Schriftsteller Stefan Zweig war zufällig am Bahnhof Feldkirch, von wo der Zug mit der ehemaligen Kaiserfamilie Richtung Grenze rollte. „In diesem Augenblick war die fast tausendjährige Monarchie erst wirklich zu Ende“, schrieb Zweig in seinen Erinnerungen „Die Welt von gestern“. „Ich wusste, es war ein anderes Österreich, eine andere Welt, in die ich zurückkehrte.“

Von Herbert Lackner