Interview: „Hässliche Kinder mag ich nicht“

„Hässliche Kinder mag ich nicht“

Christine Nöstlinger über die Harry-Potter-Hysterie

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profil: Wie viele „Harry Potter“-Bände haben Sie gelesen?

Nöstlinger: Einen. Wobei ich sagen muss: Das ist wirklich kein schlechtes Buch, ganz gut geschrieben, aber nicht meins. Ich mag das Fantasy-Zeugs nicht. Bei „Herr der Ringe“ bin ich eingeschlafen. Abgesehen davon: Es gibt einiges an Fantasy-Literatur, was wesentlich witziger ist als Harry Potter.

profil: Wie erklären Sie sich die globale Potter-Hysterie?

Nöstlinger: Viele Kinder haben heute diese Sucht zum Gemeinschaftserlebnis. Obwohl „Harry Potter“ ja in jeder Buchhandlung am nächsten Tag in hunderten Exemplaren aufliegt, stellen die sich in der Nacht an – so wie die Erwachsenen zwei Tage vor dem Verkauf des iPhone vor den Geschäften campieren. Mein Enkel war bereits mit sechs Harry-Potter-Fan, da konnte er noch nicht einmal lesen. Aber die Abziehbilder hat er gesammelt.

profil: Das Phänomen Harry Potter zieht eine beispiellose Vermarktungsmaschinerie nach sich. Haben Sie dieser Art von Versuchung immer konsequent widerstanden?

Nöstlinger: Ja, sicher. Ich kann doch nicht den Kindern sagen „Seids keine Konsumtrotteln“ und dann diejenige sein, die den Dschi-Dschei-Wischer als Radiergummi und Bleistiftaufstecker verkauft. Ich konnte und wollte mich nie verkaufen. Was vielleicht auch daran lag, dass ich mit all meinen Verlegern befreundet war und bin.

profil: Trotzdem kann das PR-Brimborium nicht die einzige Ursache für die weltweite Pottermania sein.

Nöstlinger: Natürlich nicht. Wäre das Buch wirklich schlecht, würde auch das beste Marketing nicht helfen. Es gibt zwei Arten von Kinderliteratur: erstens die fantastische, in der Kinder in eine Welt eintauchen können, die nichts mit ihrem Leben zu tun hat, in der andere Regeln und Gesetze gelten. Diese Möglichkeit, sich ganz woanders hineinversenken zu können, bedienen die Potter-Bücher. Das ist ja auch eine ganz zulässige Lust, diese Art von Flucht sagt aber auch etwas über das Leben der Kinder aus.

profil: Potter bedient also den puren Eskapismus.

Nöstlinger: Ich bin kein Psychologe, aber das ist wahrscheinlich zu überspitzt formuliert. Neben der fantastischen Kinderliteratur gibt es die realistische Kinderliteratur, in der man zeigt, wie Menschen zusammenleben, und Problemthemen lustig serviert, aber auch positive Lösungen bietet – ohne zu lügen und verkitscht zu sein.

profil: Die Lektüre Ihrer Bücher hatte für mich als Kind etwas Erleichterndes. Da wurde man erstmals mit Kindern konfrontiert, bei denen es zu Hause auch so zuging wie bei einem selbst.

Nöstlinger: Ich glaube, das ist die wichtigste Funktion von halbwegs vernünftiger Kinderliteratur: Kindern zu zeigen, dass sie nicht allein dastehen. Jede Zwölf-, 13-Jährige glaubt doch, dass sie die einzige Tochter auf der Welt ist, die ihre Mutter bis aufs Blut hasst. So kann man auch bei den Eltern ein Mitgefühl für ihre eigenen Kinder wecken. Ich glaube ja manchmal, dass mich fast mehr Mütter als Kinder lesen.

profil: Das Zertrümmern von falschen Idyllen war ganz allgemein der Plan der Linken in den Siebzigern.

Nöstlinger: In Deutschland viel mehr als in Österreich. Da gab’s ja auch viel mehr Linke. Bei uns war es damals noch richtig verpönt, dass Kinder in Büchern so reden, wie sie es in Wirklichkeit tun. Die mit Kindern dümmlich Befassten haben Kinderliteratur als ein hübsch eingewickeltes, pädagogisches Zuckerl betrachtet. Ich habe mir das damals alles nicht so genau überlegt, weil ich nie Kinderbüchln gelesen habe und schon gar keine schreiben wollte.

profil: Das heißt, wenn Sie mit Ihrem Debüt, „Die feuerrote Friederike“, 1970, nicht erfolgreich gewesen wären, hätten Sie diese Karriere nicht weiterverfolgt?

Nöstlinger: Ganz sicher nicht. Dann hätt ich mir gedacht „Na guat, des kannst a net“ und was anderes gemacht. Kinderbücher zu schreiben war kein echter Drang für mich.

profil: Wie interpretieren Sie den Triumphschrei der Pädagogen, dass Kinder trotz Fernsehen und Internet durch Harry Potter wieder zum Lesen verführt würden?

Nöstlinger: Sieben Prozent der Erwachsenen gelten als echte Leser. Warum soll das bei Kindern bitte anders sein? Ich möchte gerne wissen, wer von den Kehlmann-Käufern das Buch dann auch wirklich gelesen hat. Bei den Kindern der Mittel- und Oberschicht ist das natürlich anfangs ein bisschen anders. Im Gegensatz zu jenen der Unterschicht dürfen die nicht herumstreunen, und dann lesen s’ halt. Aber viele hören im Alter von 13 oder 14 wieder damit auf. Wahrscheinlich sind dann auch nicht mehr als sieben Prozent Eggheads dabei, die weiterhin lesen.

profil: Ihr erstes Buch bekamen Sie im Herbst 1945: Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ – zum neunten Geburtstag. Eher spät also.

Nöstlinger: Fünf Stopfnadeln hat der Opa dafür gegeben. Vorher gab es ja nur Nazidreck, den durfte ich nicht lesen – ich stamme aus einer antifaschistischen Familie. An ein Buch mit dem Titel „Fritz, wohin sind wir geraten?“ kann ich mich erinnern. Da wurde einem Mädchen von Zigeunern eine blonde Puppe gestohlen. Das hat meine Mutter sofort in den Ofen geschmissen. Einmal bin ich ganz stolz mit einem roten Buch mit goldener Schrift aus der Schule gekommen. Rot war meine Lieblingsfarbe, und im Krieg hat’s ja nichts Rotes gegeben. Das Buch war zu groß fürs Ofentürl, also hat es meine Mutter gleich zerrissen. Es hatte den Titel „Mutter erzählt über Adolf Hitler“.

profil: Wie konnte Ihre Familie den Krieg mit dieser Haltung überleben?

Nöstlinger: Mein Vater war in Russland, meine Mutter war Kindergärtnerin. Sie hat sich immer wieder geweigert, die Kinder nach den vorgegebenen Richtlinien zu erziehen, und dafür auch Disziplinarverfahren am Hals gehabt. Der Bruder meiner Mutter war aber ein Obernazi, der hat das dann immer wieder eingerenkt.

profil: Kann man „Pünktchen und Anton“ als Ihre literarische „Erweckung“ verstehen?

Nöstlinger: Ja, irgendwie schon. Aber wenn ich das Buch heute lese, empfinde ich es schon als sehr merkwürdig. Der Kästner war ja ein totaler Macho. Und dann seine Mutterverehrung: In jedem Buch kommt heraus, dass Mütter, vor allem die aus der Unterschicht, was Grandioses sind. Ich hätte ursprünglich das Drehbuch zur Neuverfilmung vom „Doppelten Lottchen“ schreiben sollen. Ich hab’s fünfmal gelesen und dann gelassen.

profil: Was für eine Art von Mutter hatten Sie denn?

Nöstlinger: Meine war klein, hat viel gekeppelt und gekeift und mich, ohne es zu wissen, sehr gefördert. Nach ihrem Disziplinarverfahren als Kindergärtnerin wurde sie, mithilfe von meinem Onkel, dem Obernazi, in Frühpension geschickt. Und zu Hause war ihr sehr fad. Putzen wollte sie nicht, und Kochen war im Krieg auch öd. Und jeden Tag, wenn ich zu Mittag nach Hause gekommen bin, hat sie mich ganz aufgeregt gefragt: „Na, was war in der Schul?“ Und dann hab ich gelogen, dass sich die Balken gebogen haben. Ich wollte sie ja nicht fadisieren. Sie hat es insgeheim gewusst, aber nie was gesagt.

profil: Und was für ein Kind waren Sie?

Nöstlinger: Furchtbar frech. Aber ich hatte trotz Krieg eine glückliche Kindheit.

Ich kannte ja auch nichts anderes. Das war eine sehr liberale Aufzucht. Als ich meine Mutter gefragt habe, was der Frieden ist, hat sie mir geantwortet: „Frieden ist, wenn’s wieder Schinkensemmeln gibt.“ Das hat aber dann noch länger gedauert. Bei uns zu Hause haben alle furchtbar viel miteinander gestritten, aber ich hatte immer dieses Urvertrauen: Jeder liebt mich.

profil:Was haben denn Ihre Kinder gelesen? Nöstlinger?

Nöstlinger: Das hab ich sie nie gefragt. Was hätten s’ denn sagen sollen, die Armen: „Das war wieder a rechter Scheiߓ? Nein, das waren immer höfliche Kinder.

profil: Kinderliteratur wird von den Rezensenten bis heute viel weniger ernst genommen als jene für Erwachsene.

Nöstlinger: Viele meiner Kollegen und Kolleginnen leiden auch darunter, aber ich nehm das so hin. Mir ist das eigentlich wurscht.

profil: Sie haben sich einmal als nicht sehr kinderlieb bezeichnet?

Nöstlinger: Das stimmt. Es ist kindisch, aber ich mag als Erwachsener genau die Kinder nicht, die mich schon als Kind genervt haben. Die, die mit den zwei vorgestreckten Fingern aufzeigen. Und häss-liche Kinder mag ich auch nicht. Solche teigigen Blonden mit kleinen Augen und Fettfalten im Gnack. Aber es gibt natürlich auch schön hässliche Kinder wie zum Beispiel Alfred E. Neumann aus „Mad“.

profil: Spielen Sie mit dem Gedanken, je ins Erwachsenengenre zu wechseln?

Nöstlinger: Zum großen Roman verspüre ich gar keinen Drang. Dann schreiben vielleicht die Kritiker noch: „Die hätt auch besser bei ihren Kinderbüchln bleiben sollen!“ Nein danke.

Interview: Angelika Hager

Christine Nöstlinger, 71
Geboren 1936 in Wien. Grafikstudium an der Hochschule für angewandte Kunst. Ihr erstes Buch, „Die feuerrote Friederike“ (1970), entstand aus Zufall am Küchentisch: Ursprünglich wollte Nöstlinger nur ein anderes Buch illustrieren. Sie veröffentlichte über 150 Kinder- und Jugendbücher, viele davon längst Klassiker, und wurde, abgesehen von zahlreichen anderen Ehrungen, 2003 als Erste mit dem Nobelpreis für Kinderliteratur, dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis, ausgezeichnet. Ihre Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt und teilweise verfilmt. Die Mutter zweier Töchter lebt in Wien-Penzing.